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Türkei lässt Opfer häuslicher Gewalt im Stich

Durchsetzung von Schutzmaßnahmen und Gewährleistung der Rechenschaftspflicht dringend erforderlich

(V. n. l. r.) Güllü Yılmaz, Ayşe Tuba Arslan, Müzeyyen Boylu, Pelda Karaduman und Remziye Yoldaş wurden von ihren damaligen oder ehemaligen Ehemännern oder Partnern getötet, obwohl sie gerichtliche Schutzanordnungen erhalten hatten. Der Text stammt aus einem Urteil des türkischen Verfassungsgerichts vom September 2021, in dem festgestellt wurde, dass das Versäumnis der staatlichen Behörden, eine Frau vor ihrem misshandelnden früheren Ehemann zu schützen, zu ihrer Ermordung beigetragen hatte. © 2022 Human Rights Watch

(Istanbul) – Die türkische Regierung lässt Opfer häuslicher Gewalt im Stich, obwohl Polizei und Gerichte immer mehr einstweilige Verfügungen erlassen, um Frauen zu schützen und den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen.

Der 85-seitige Bericht, „Combatting Domestic Violence in Turkey: The Deadly Impact of Failure to Protect” kommt zu dem Schluss, dass das Versäumnis, gerichtliche Anordnungen durchzusetzen, Frauen dem anhaltenden Missbrauch durch aktuelle oder ehemalige Ehemänner und Partner aussetzt. In einigen Fällen wurden Frauen getötet, obwohl sie einstweilige Verfügungen erwirkt hatten, die sie hätten schützen sollen. Die Untersuchung fand vor dem Hintergrund statt, dass die Türkei im Juli 2021 aus dem Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, der so genannten Istanbul-Konvention, austrat.

„Die Polizei und Gerichte in der Türkei reagieren zwar auf Beschwerden von Frauen über häusliche Gewalt, indem sie mehr einstweilige Verfügungen erlassen. Dass sie diese aber nicht durchsetzen, führt jedoch zu gefährlichen Schutzlücken”, sagte Emma Sinclair-Webb, stellvertretende Direktorin der Abteilung Europa und Zentralasien bei Human Rights Watch. „Diese mangelnde Durchsetzung hat dazu geführt, dass Frauen, die sich bei den Behörden gemeldet hatten, von den Tätern getötet wurden oder über Jahre hinweg immer wieder Gewalt ausgesetzt waren.”

Human Rights Watch hat Interviews mit Opfern häuslicher Gewalt und ihren Anwält*innen, sowie mit Polizeibeamt*innen, Richter*innen und Staatsanwält*innen geführt. Human Rights Watch untersuchte zudem 18 Fälle, in denen Frauen bei der Polizei oder der Staatsanwaltschaft Anzeige erstattet und Schutzmaßnahmen erwirkt hatten. Dazu gehörten gerichtliche Anordnungen, die den Tätern den Kontakt mit den Opfern untersagten, oder in einigen wenigen Fällen Maßnahmen wie die Unterbringung des Opfers in einer Unterkunft.

In sechs der untersuchten Fälle wurde die jeweilige Frau von einem misshandelnden aktuellen oder früheren Ehemann oder Partner getötet, obwohl die Behörden wussten, dass sie gefährdet war und dass sie gerichtliche Anordnungen zu ihrem Schutz erwirkt hatte. In anderen Fällen hatten die Frauen mehrere gerichtliche Anordnungen erwirkt, aber ihre Peiniger verstießen wiederholt gegen die Anordnungen und setzten den Kreislauf von Gewalt und Einschüchterung fort.

Human Rights Watch stellte fest, dass die Behörden solche Verstöße nicht effektiv in ihren offiziellen Aufzeichnungen festhalten. Obwohl das Gesetz vorsieht, dass Missbrauchstäter bei solchen Verstößen inhaftiert werden können, entgehen Männer, die Anordnungen ignorieren, dieser Sanktion.

„Ich habe immer wieder einstweilige Verfügungen bekommen“, sagte Merzuka Altunsöğüt, ein Opfer von wiederholter häuslicher Gewalt durch ihren früheren Ehemann. „Sie gaben uns ein Stück Papier, auf dem stand: ‚Bitte sehr, wir haben eine einstweilige Verfügung erlassen. Er wird nicht kommen.‘ Aber am nächsten Tag kam ich von der Arbeit nach Hause und da stand er wieder vor der Tür. ... Ich rief die Polizei an und er war weg, als sie kamen. [Sie sagten], ‚Tja, was sollen wir machen?‘“

Human Rights Watch stellte fest, dass, wenn sich eine Verfügung als wirksam erwies, dies in der Regel darauf zurückzuführen war, dass ein entschlossener Rechtsbeistand die Frau vertreten und gleichzeitig auf eine sofortige Strafverfolgung des Täters gedrängt hatte. Human Rights Watch fand heraus, dass es für betroffene Frauen, Familienangehörige oder Anwält*innen üblich geworden ist, sich in den sozialen Medien zu äußern oder Journalist*innen ihre Geschichte zu erzählen, um ein entschlossenes Handeln der Behörden zu fordern, um den jeweiligen Missbrauchstäter zu stoppen. Auch die befragten Polizeibeamt*innen und Richter*innen gaben an, dass die Behörden nach Medienberichten über Fälle häuslicher Gewalt in der Regel reagierten.

In den sechs Fällen mit tödlichem Ausgang wurden die Täter schließlich für die Tötungen verurteilt. Die Regierung hat sich jedoch nicht mit den Versäumnissen der Behörden bei der Wahrnehmung ihrer Verantwortung für den Schutz des Rechts auf Leben von Opfern befasst, von denen bekannt war, dass sie in besonderer Gefahr schwebten.

Die Briefe von Human Rights Watch an das Justizministerium und das Ministerium für Familie und Soziales, in denen nachgefragt wurde, ob es irgendwelche Untersuchungen wegen mangelnder Sorgfalt zum Schutz der Frauen gegeben habe, wurden nicht beantwortet. Das Innenministerium antwortete auf dasselbe Schreiben und teilte mit, dass neun Polizeibeamt*innen im Zusammenhang mit einem der sechs von Human Rights Watch untersuchten Morde nicht näher bezeichnete Disziplinarstrafen erhalten hätten. Eine weitere disziplinarische Untersuchung gegen zwei Beamt*innen sei im Gange. In den übrigen vier Fällen seien keine Disziplinarmaßnahmen ergriffen worden.

Im September 2021 fällte das türkische Verfassungsgericht ein bahnbrechendes Urteil: es befand,  dass die Nachlässigkeit von Beamt*innen, Polizei, Gerichten und Staatsanwatschaft zum Mord an einer Frau durch ihren früheren Ehemann beigetragen hatte. Das Urteil steht in engem Zusammenhang mit Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Fällen von häuslicher Gewalt in der Türkei.

Das Urteil des Verfassungsgerichts sollte dazu führen, dass automatisch wirksame Untersuchungen über die Rolle und mögliche Haftung von Beamten durchgeführt werden, wenn Frauen von Männern getötet werden, gegen die sie eine einstweilige Verfügung erwirkt hatten, so Human Rights Watch.

Human Rights Watch zeigte sich enttäuscht darüber, dass das Ministerium für Familie und Soziales die Bitte um ein Treffen mit Mitarbeitenden des Zentrums für Gewaltprävention und -überwachung in Istanbul abgelehnt hat, das unter der Leitung des Ministeriums arbeitet und damit beauftragt ist, die Umsetzung aller von Polizei und Gerichten erlassenen Schutzmaßnahmen zu überwachen. Weitere Appelle an den Minister, diese Entscheidung zu überdenken, wurden nicht beantwortet.

Anwält*innen und Frauenrechtsgruppen, die für den Bericht befragt wurden, zeigten sich ausgesprochen besorgt über den Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention im Juli 2021 und die Politik der Regierung, die die Gleichstellung der Geschlechter nicht fördert. Zwar verfügt die Türkei noch über ein eigenes Gesetz zum Schutz der Familie und zur Prävention von Gewalt gegen Frauen (Gesetz Nr. 6284), das sich eng an die Bestimmungen der Istanbul-Konvention anlehnt, doch ein Anwalt verglich dieses Gesetz mit „einem Gebäude, dessen Fundament entfernt wurde”. Das oberste Verwaltungsgericht der Türkei, der Staatsrat, soll darüber entscheiden, ob der Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention rechtswidrig war, weil er per Präsidialdekret und nicht durch eine Parlamentsabstimmung erfolgte.

Human Rights Watch hat detaillierte Empfehlungen für Maßnahmen der Regierung ausgesprochen, darunter eine bessere Koordinierung zwischen den Behörden zum Schutz von Frauen vor häuslicher Gewalt und eine bessere Durchsetzung von Gerichtsbeschlüssen. Alle, die von häuslicher Gewalt betroffen ist, sollten Rechtsbeistand erhalten. Die Behörden sollten der Staatsanwaltschaft und den Gerichten klare Richtlinien vorgeben, dass wiederholte Verstöße gegen Schutz- und Präventivanordnungen ein Grund sein können, Verdächtige, die wegen häuslicher Gewalt angeklagt werden, in Untersuchungshaft zu nehmen.

„Die Türkei verfügt zwar über einen ausgefeilten rechtlichen, regulatorischen und institutionellen Rahmen für die Bekämpfung häuslicher Gewalt, doch der Rückzug aus der Istanbul-Konvention und eine Regierungspolitik, die die Gleichstellung der Geschlechter ablehnt, untergraben die nationalen Bemühungen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen”, so Sinclair-Webb. „Durch den Verzicht auf internationale Rechtsnormen und das Versäumnis, die Beseitigung geschlechtsspezifischer Gewalt in einen breiteren Kampf für die Rechte der Frauen und die Gleichstellung der Geschlechter einzubinden, wird die Diskriminierung von Frauen legitimiert.“

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