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Ungarn: EU muss auf Verfassungsänderungen reagieren

Die Schritte der Regierung zur Umgehung des Gerichts unterminieren den Rechtsstaat

(Brüssel) – Die EU muss entschlossen gegen die jüngsten Verfassungsänderungen des ungarischen Parlaments vorgehen.

Die am 11. März 2013 verabschiedeten Änderungen sind eine direkte Reaktion auf mehrere wegweisende Urteile des Verfassungsgerichts Ungarns, mit denen es problematische Gesetze annulliert hatte. Statt diese Entscheidungen zu respektieren, hat die Regierung die gleichen Gesetze über Verfassungszusätze wiedereingeführt und dem Gericht die Kompetenz genommen, Verfassungsänderungen inhaltlich zu überprüfen.

„Die jüngsten Änderungen lassen keinen Zweifel daran, dass die ungarische Regierung den Rechtsstaat missachtet“, so Lydia Gall, Osteuropa- und Balkan-Expertin bei Human Rights Watch. „Der Versuch der Regierung das Verfassungsgericht zu umgehen und die Verfassung ihren eigenen politischen Zielen unterzuordnen, unterstreicht die Dringlichkeit einer koordinierten Reaktion der EU.“

Die Verfassungsänderungen, die am 11. März beschlossen wurden:
 

  • Begrenzen die Befugnisse des Verfassungsgerichts, so dass es nicht mehr auf seine eigenen Urteile vor dem Inkrafttreten der neuen Verfassung am 1. Januar 2012 verweisen und Verfassungsänderungen nicht mehr inhaltlich prüfen kann.
  • Ermöglichen die Kriminalisierung von Obdachlosigkeit durch Gesetze oder Maßnahmen lokaler Behörden. Das Verfassungsgericht hatte im November 2012 ein Gesetz mit den gleichen Inhalten für nichtig erklärt.
  • Definieren eine Familie restriktiv als Ehe zwischen einem Mann und einer Frau oder als Eltern-Kind-Beziehung. Im Dezember 2012 hatte das Verfassungsgericht Vorschriften im Gesetz zum Schutz der Familie annulliert, nachdem es dem Gericht durch den ungarischen Bürgerbeauftragten zur Überprüfung vorgelegt wurde. Das Gesetz limitierte eine Familie auf die Ehe zwischen Mann und Frau mit unterhaltsberechtigten Kindern. Das Gericht bezeichnete diese Definition als „übermäßig restriktiv“. Die neuen Vorschriften diskriminieren in gleicher Weise unverheiratete und gleichgeschlechtliche Familien.
  • Schränken die Religionsfreiheit ein, da das Parlament zum Zweck der nationalen Gesetzgebung allein entscheidet, welche Organisationen als Kirchen anerkannt werden. Im Februar 2013 hatte das Verfassungsgericht ein Gesetz als verfahrensmäßig unfair erklärt, durch das die meisten religiösen Organisationen in Ungarn ihren Status als Kirchen verloren. In Folge dessen erhalten sie keine staatlichen Gelder mehr, auch nicht für Sozialleistungen.
  • Geben den bestehenden, weitreichenden Befugnissen der Präsidentin des Nationalen Justizamts (NJO) Verfassungsstatus. Etwa kann sie Fälle von einem zu einem anderen Gericht verweisen. Politisch sensible Korruptionsverfahren wurden bereits Budapester Gerichten entzogen und an solche auf dem Land übergeben, deren Richter kaum Erfahrung mit derartigen Fällen haben und wo die Medienaufmerksamkeit geringer ist.
  • Begrenzen die Ausstrahlung von Wahlwerbespots auf das staatliche Fernsehen, was der Regierung ermöglichen könnte, Wahlwerbung im kommerziellen Radio und Fernsehen zu verbieten. Gesetze mit den gleichen Einschränkungen hatte das Verfassungsgericht im Januar 2013 für verfassungswidrig erklärt.
     

Die neuerlichen Verfassungsänderungen haben international Besorgnis erregt. Kritik äußerten unter anderem der Präsident der Europäischen Kommission, Jose Manuel Barroso, der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schultz, und das US-Außenministerium. Der Generalsekretär des Europarats, Thorbjorn Jagland, forderte die ungarische Regierung auf, die Parlamentsentscheidung zu vertagen. Vorher sollte die auf Verfassungsreformen spezialisierte Venedig-Kommission des Europarats die Änderungen überprüfen. Die Parlamentarische Versammlung des Europarats erwägt eine formale Überprüfung Ungarns, nachdem im Februar 2013 eine Mission das Land besucht hat.

Die Verfassungszusätze sind nur die jüngsten Beispiele einer Reihe von problematischen Verfassungs- und Gesetzesänderungen der regierenden Fidesz-Partei, seit sie im Jahr 2010 die Wahl mit absoluter Mehrheit gewonnen hat. Die Änderungen unterminieren die Pressefreiheit, schränken die Unabhängigkeit der Gerichte ein und schwächen die Befugnisse des Verfassungsgerichts, das eine wesentliche Kontrollinstanz der Exekutive war.

Die ungarische Regierung verletzt die Grundwerte der EU und ignoriert zahlreiche Empfehlungen von europäischen Expertengremien durch die Verfassungsänderungen und auch, indem sie die Entscheidungen des Verfassungsgerichts unverhohlen ignoriert. Artikel 7 des EU-Vertrags ermöglicht es einem Mitgliedsstaat zeitweilig sein Stimmrecht zu entziehen, wenn er die Grundwerte der EU eindeutig zu verletzen droht oder bereits verletzt.

„Die ungarische Regierung will nicht hören – weder auf Brüssel, noch auf das eigene Verfassungsgericht“, so Gall. „Es ist an der Zeit, dass die EU ihre Reaktion verschärft. Dies beinhaltet auch die ernsthafte Erwägung, Ungarns Stimmrecht unter Artikel 7 des EU-Vertrags auszusetzen.“ 

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