(Rom, 21. September 2009) – Italien fängt afrikanische Migranten und Asylsuchende auf hoher See ab und zwingt sie zur Rückkehr nach Libyen, ohne zu prüfen, ob ihnen der Flüchtlingsstatus zusteht oder andere Gefährdungen vorliegen. In Libyen werden viele der Rückkehrer unter unmenschlichen und erniedrigenden Bedingungen inhaftiert, und es kommt zu Misshandlungen, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht.
Der 92-seitige Bericht „Pushed Back, Pushed Around: Italy’s Forced Return of Boat Migrants and Asylum Seekers, Libya’s Mistreatment of Migrants and Asylum Seekers“ untersucht die Behandlung von Migranten, Asylsuchenden und Flüchtlingen in Libyen anhand der Aussagen von Migranten, denen die Flucht gelungen ist und die nun in Italien und Malta leben. Der Bericht dokumentiert die Praxis der italienischen Grenzbehörden, volle Flüchtlingsboote auf hoher See aufzuhalten und sie ohne die vorgeschriebene Überprüfung zur Rückkehr nach Libyen zu zwingen.
„Italien schickt diese Menschen zurück zu den Misshandlungen“, so Bill Frelick, Experte für Flüchtlingspolitik bei Human Rights Watch und Verfasser des Berichts. „Migranten, die in Libyen inhaftiert waren, berichten übereinstimmend über brutale Behandlung und überfüllte und unhygienische Haftanstalten.“
Italienische Patrouillenboote schleppen Flüchtlingsboote aus internationalen Gewässern fort ohne festzustellen, ob unter den Insassen legitime Flüchtlinge, Kranke, Verletzte, Schwangere, unbegleitete Kinder oder Opfer von Menschenhandel und anderen Formen von Gewalt gegen Frauen sind. Die italienischen Beamten zwingen die Migranten, an Bord libyscher Schiffe zu gehen, oder bringen sie direkt nach Libyen zurück, wo die Rückkehrer sofort inhaftiert werden. Die Operationen werden teilweise auch von der EU-Grenzschutzagentur Frontex koordiniert.
Mit dieser Vorgehensweise verletzt Italien offenkundig seine vertragliche Verpflichtung, kein refoulement durchzuführen. Als refoulement wird die Zwangsrückführung in Länder bezeichnet, wo die Freiheit und die körperliche Unversehrtheit der Betroffenen bedroht sind oder ihnen Folter oder unmenschliche Behandlung droht.
Der Bericht stützt sich auf die Befragungen von 91 Migranten, Asylsuchenden und Flüchtlingen in Italien und Malta, die größtenteils im Mai 2009 durchgeführt wurden, sowie auf ein Telefoninterview mit einem in Libyen inhaftierten Migranten. Mitarbeiter von Human Rights Watch reisten im April nach Libyen und trafen dort mit Regierungsvertretern zusammen. Die libyschen Behörden erlaubten ihnen jedoch nicht, Migranten unter vier Augen zu befragen. Ebenso wenig gestatteten sie Human Rights Watch, trotz wiederholter Anfragen einen Besuch in einem der zahlreichen Haftzentren für Migranten.
„Mit der direkten Rückführung von Bootsflüchtlingen nach Libyen setzt Italien sich über seine völkerrechtlichen Verpflichtungen hinweg“, so Frelick. „Die EU sollte Italien zur Einhaltung seiner Verpflichtungen und zur Aussetzung der Rückführungen nach Libyen drängen. Andere EU-Mitgliedstaaten sollten sich weigern, an Frontex-Operationen teilzunehmen, die zur Rückkehr von Migranten in die Folter führen.“
„Daniel“, ein 26-jähriger Eritreer, berichtete bei einer Befragung durch Human Rights Watch-Mitarbeiter in Sizilien, was geschah, nachdem die maltesische Grenzbehörde sein Boot abgefangen und zu einem libyschen Schiff geschleppt hatte, das ihn und seine Begleiter zurück nach Libyen brachte (seine vollständige Aussage finden Sie unter: https://www.hrw.org/en/node/85530 ):
„Wir waren sehr müde und dehydriert, als wir in Libyen ankamen. Ich dachte ‚Wenn sie mich schlagen, spüre ich sowieso nichts.‛ Als wir ankamen waren keine Ärzte da, niemand der uns helfen konnte, nur Militärpolizei. Sie begannen uns zu schlagen und sagten: ‚Ihr denkt wohl, ihr kommt nach Italien.‛ Sie verhöhnten uns. Wir waren durstig. Sie schlugen uns mit Stöcken und traten uns. Ungefähr eine Stunde lang verprügelten sie jeden, der auf dem Boot gewesen war.“
Die Migranten wurden in einem vollen und schlecht belüfteten Lastwagen in das Gefängnis von Misrata gebracht und bei ihrer Ankunft erneut misshandelt:
„In Misrata wurden wir schlecht behandelt. Wir waren Eritreer, Äthiopier, Sudanesen und ein paar Somalier. Die Zellen waren schmutzig. Wir durften nur eine halbe Stunde pro Tag an die frische Luft und auch das nur, damit sie uns zählen konnten. Wir saßen direkt in der Sonne. Jeder der etwas sagte, wurde geschlagen. Ich wurde mit einem schwarzen Plastikschlauch geschlagen.“
Der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge hat mittlerweile Zugang zu dem Gefängnis in Misrata und libysche Organisationen leisten dort humanitäre Hilfe. Es gibt jedoch kein offizielles Abkommen, also auch keinen garantierten Zugang. Zudem besitzt Libyen weder ein Asylgesetz noch ein Asylverfahren. Die Behörden unterscheiden nicht zwischen Flüchtlingen, Asylsuchenden und anderen Migranten.
„In Libyen gibt es keine Flüchtlinge“, so General Mohamed Bashir Al Shabbani, der Leiter des Einwanderungsbüros des Allgemeinen Volkskomitees für Innere Sicherheit gegenüber Human Rights Watch. „Es gibt Leute, die illegal ins Land kommen, und die man nicht als Flüchtlinge beschreiben kann.“ Jeder, der ohne amtliche Papiere und Erlaubnis ins Land komme, werde verhaftet, so der General.
Trotz dieser Praktiken betrachten sowohl die EU als auch Italien Libyen zunehmend als wichtigen Partner bei der Grenzkontrolle. Die EU-Kommission verhandelt derzeit mit Libyen über ein Rückführungsabkommen, das einen offiziellen Rückführungsmechanismus und ein allgemeines Rahmenabkommen für engere Beziehungen schaffen würde. Jacques Barrot, der Vizepräsident der EU-Kommission, hat angedeutet, er wolle für Gespräche über eine verstärkte Zusammenarbeit bei Asyl und Migration nach Tripolis reisen.
Die Autoren des Berichts appellieren an die libysche Regierung, die miserablen Haftbedingungen in Libyen zu verbessern und ein Asylverfahren zu schaffen, das internationalen Standards im Flüchtlingsrecht entspricht. Sie rufen die italienische Regierung, die Europäische Union und Frontex auf, den Zugang zu Asyl auch für auf hoher See aufgegriffene Flüchtlinge zu gewährleisten. Ferner sollen sie keine Abschiebungen von Nicht-Libyern nach Libyen mehr durchführen, solange die Behandlung von Migranten, Asylsuchenden und Flüchtlingen dort nicht vollständig internationalen Standards entspricht.
„Der Absatz über Menschenrechte im bevorstehenden Rahmenabkommen zwischen der EU und Libyen und alle Folgeabkommen sollten ausdrücklich die Rechte von Asylsuchenden und Migranten als Voraussetzung für jede Zusammenarbeit bei der Grenzkontrolle nennen“, so Frelick.
Einige der schlimmsten Misshandlungen, die den Mitarbeitern von Human Rights Watch geschildert wurden, erfolgten nach missglückten Versuchen Libyen zu verlassen. „Pastor Paul“ (Name geändert), ein 32-jähriger Migrant aus Nigeria, beschrieb wie sein Boot am 20. Oktober 2008 kurz nach Verlassen der libyschen Küste aufgebracht wurde und er anschließend von libyschen Beamten brutal misshandelt wurde:
„Wir waren in einem Holzboot und die Libyer in einem Zodiac [aufblasbares Motorboot]. Sie eröffneten das Feuer auf uns und befahlen uns, an Land zu gehen. Sie hörten nicht auf zu schießen, bis sie unseren Motor trafen. Eine Person wurde getötet. Ich weiß nicht genau, wer die Männer waren, die auf uns schossen, aber sie trugen keine Uniformen. Dann kam ein Boot der libyschen Marine, sie nahmen uns an Bord und begannen uns zu schlagen. Sie sammelten unser Geld und unsere Handys ein. Ich glaube, die Leute auf dem Schlauchboot haben für die libysche Marine gearbeitet. Das Marineboot brachte uns zurück zu seinem Mutterschiff und wir kamen in das Abschiebelager Bin Gashir. Als wir dort ankamen fingen sie sofort an, mich und die anderen zu schlagen. Manche Männer wurden solange geschlagen, bis sie nicht mehr gehen konnten.“
Human Rights Watch verfügt nicht über ausreichend Beweismaterial, um festzustellen, wie viele der Migranten in Libyen bzw. der in Italien und Malta aufgegriffenen Migranten als Flüchtlinge einzustufen sind. Im Jahr 2008 betrugen die Quoten anerkannter Asylanträge für alle Nationalitäten in Italien und Malta 49 bzw. 52,5 Prozent. In der Provinz Trapani, in der auch Lampedusa, der bedeutendste Ankunftsort für Boote aus Libyen liegt, wurden von Januar bis August 2008 78 Prozent aller Asylanträge anerkannt. Wenn die italienischen Behörden jedoch jeden, den sie auf See aufgreifen, nach Libyen zurückschicken, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen ihren Flüchtlingsstatus zu prüfen, schicken sie zwangsläufig Menschen zurück in Länder, in denen sie verfolgt werden.
„Viele der Bootsflüchtlinge kommen tatsächlich aus Ländern mit häufigen Menschenrechtsverletzungen oder einem allgemein hohen Gewaltniveau“, so Frelick. „Doch gleich ob sie schutzbedürftig sind oder nicht: Alle Migranten haben grundlegende Rechte und müssen menschenwürdig behandelt werden.“