Wenn die EU Kriegsverbrecher im Nahostkonflikt nicht zur Rechenschaft zieht, untergräbt sie das internationale Strafrecht. Das gilt für Israel und Hamas gleichermaßen.
Jetzt, da sich der Nebel über dem Gazastreifen lichtet, wird deutlich, dass sowohl Israel als auch die Hamas schwer gegen das Kriegsrecht verstoßen haben. Die Frage ist: Bleibt es dabei, dass es keine Verantwortlichkeit für Kriegsverbrechen gibt, so wie das den israelisch- palästinensischen Konflikt seit Langem kennzeichnet? Und wenn ja, wie viel Abbruch tut das der Glaubwürdigkeit von internationalen Bemühungen generell und von Institutionen wie dem Internationalen Strafgerichtshof? Schwer hat die EU um ihn gerungen, um Verantwortlichkeit an anderen Orten herzustellen, wo gravierende Verbrechen begangen wurden, etwa in Darfur.
Aus der Perspektive des Kriegsrechts ist die Situation in Gaza nicht gerade schön. Human Rights Watch recherchiert derzeit eine große Bandbreite angeblicher Verletzungen von Israel und Hamas. Ein Auszug der Vorwürfe: Sie sollen Waffen wie schwere Artillerie in dicht bevölkerten Gebieten eingesetzt haben; Zivilisten als menschliche Schutzschilde missbraucht, Krankenwagen beschossen oder die medizinischer Versorgung von Verletzten anderweitig behindert haben sowie absichtlich oder wahllos Raketen auf Wohngebiete gefeuert und auf Personen gezielt haben, die ihren zivilen Status mit einer weißen Flagge auswiesen.
Jedes Opfer dieses brutalen Konflikts trägt einen Namen, ebenso wie die Individuen, die diese Gräueltaten ausgeführt und befohlen haben. Gerechtigkeit für Kriegsverbrechen ist nicht einfach ein moralischer Luxus. Diejenigen, deren Leben im Gaza-Konflikt zerstört wurde, haben ebenso ein Recht auf Gerechtigkeit wie die Opfer von Kriegsverbrechen überall sonst auf der Welt.
Inakzeptable Doppelmoral
Leider zeigt die bisherige Erfahrung, dass man weder von Israel noch von der Hamas erwarten kann, dass sie den Vorwürfen von Rechtsverletzungen ernsthaft nachgehen oder ihre Leute für Kriegsverbrechen zur Rechenschaft ziehen werden.
Obwohl die EU ihre Forderungen nicht immer konsequent verfolgt, hat sie die Führung darin übernommen, Verantwortlichkeit und Gerechtigkeit für Kriegsverbrechen herzustellen und gegebenenfalls Strafen einzufordern. In der Vergangenheit aber zögerte die EU oft, solche Maßnahmen und Rechtsmechanismen auf den israelisch-palästinensischen Konflikt anzuwenden.
Diese Doppelmoral muss verschwinden. Dass Straflosigkeit bewaffnete Konflikte und ziviles Leid vertieft und verlängert, wird immer mehr anerkannt. Die Erfahrungen mit dem Balkan, Westafrika und Lateinamerika weisen auch darauf hin, dass etwas dabei herauskommen kann, wenn sich Länder zusammenschließen und die schlimmsten Kriegsverbrecher zu Rechenschaft ziehen - Charles Taylor, Radovan Karadzic, Slobodan Milosevic, Augusto Pinochet. So eine Strafverfolgung erkennt die Menschlichkeit von Opfern an und sendet eine stark abschreckende Botschaft. Diese kann dazu beitragen, eine ganze Region zu stabilisieren.
Straflosigkeit vertieft Konflikte
Ist es nicht an der Zeit, die gleichen Prinzipien auf den israelisch-palästinensischen Konflikt anzuwenden? Die Kultur der Straflosigkeit im Nahen Osten hat Zynismus hervorgebracht, Hass und Verzweiflung, sie hat radikalisiert und ziviles Leben gekostet und ziviles Eigentum im großen Maßstab zerstört. Der Konflikt wurde so verewigt und vielleicht sogar regionalisiert. Auf jeden Fall hat sie nicht dazu beigetragen, dass Israelis und Palästinenser wie so lange ersehnt in Sicherheit leben können.
Es wird nicht leicht sein, den Mechanismus der Verantwortlichkeit auf den Nahen Osten zu übertragen. Niemand erwartet, bald nach den Kriegsverbrechen in Gaza irgendjemanden in der Zelle zu sehen. Aber die Arbeit muss jetzt beginnen, in Form einer unparteiischen internationalen Ermittlungskommission, um die Kernfakten zu bestimmen und Mechanismen zu empfehlen, mit denen Verbrecher zur Rechenschaft gezogen und Opfer kompensiert werden können. Wenn der Weltsicherheitsrat sich nicht darauf verständigen kann, eine solche Kommission einzurichten, sollte es Uno-Generalsekretär Ban Ki-moon selbst tun. In jedem Fall braucht solch eine Ermittlung eine profunde Leitung, und niemand ist besser dafür geeignet, den Weg zu weisen, als die 27 Mitgliedstaaten der EU.
Israel ist dem Internationalen Strafgerichtshof nicht beigetreten. Das Gericht bräuchte deshalb einen Entschluss des Weltsicherheitsrats, um die Verbrechen in Gaza untersuchen und verfolgen zu können - so wie es in Darfur auf Empfehlung einer von der EU eingerichteten Uno-Ermittlungskommission geschehen ist.
Wenn sich die EU im Nahen Osten nicht für Verantwortlichkeit einsetzt, fällt sie als Stimme der Gerechtigkeit für die Opfer von Kriegsverbrechen und als Stimme der Glaubwürdigkeit internationaler Rechtsinstitutionen, die sie vorangetrieben und unterstützt hat, aus. Führt man sich die Gräueltaten vor Augen, die auf der ganzen Welt noch immer begangen werden, ist das ein Risiko, das sich die EU nicht leisten kann.