In Bosnien-Herzegowina stehen die Gerichte auf Kantons- und Bezirksebene vor ernsthaften Herausforderungen, wenn sie gerechte und effiziente Verfahren zu Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Genozid durchführen wollen, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Um den großen Rückstand bei der Bearbeitung von Fällen bewältigen zu können, ist ein anhaltendes Engagement der lokalen Behörden sowie beträchtliche internationale Unterstützung nötig.
Schätzungen zufolge sind mehrere Tausend Fälle weiterhin ungeklärt, darunter schwerste Verbrechen, die während des Krieges von 1992 bis 1995 begangen worden waren. Sie sollten vor den kantonalen Gerichten in der bosnisch-herzegowinischen Föderation und den Bezirksgerichten in der Republika Srpska verhandelt werden (den beiden Teilstaaten Bosnien-Herzegowinas). Doch diese Prozesse erhalten nur einen Bruchteil der Aufmerksamkeit oder Unterstützung wie ähnliche Verfahren vor dem Internationalen Tribunal für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) oder vor der Kammer für Kriegsverbrechen des Gerichtshofs von Bosnien-Herzegowina.
„Viele Opfer warten seit mehr als zehn Jahren darauf, dass ihnen Gerechtigkeit widerfährt”, sagt Joshua Franco, Researcher der Abteilung Internationale Justiz bei Human Rights Watch. „Lokale und nationale Behörden in Bosnien-Herzegowina sollten zeigen, dass der politische Wille zur Durchführung von gerechten und effizienten Verfahren vorhanden ist.”
Der 71-seitige Bericht „Still Waiting: Bringing Justice for War Crimes, Crimes against Humanity, and Genocide in Bosnia and Herzegovina’s Cantonal and District Courts” führt die zahlreichen praktischen und politischen Probleme auf, welche diese Verfahren erschweren.
Die Arbeit der Gerichte wird etwa dadurch behindert, dass die Büros der Staatsanwaltschaften nicht genug Personal haben und nicht auf Kriegsverbrechen spezialisiert sind. Die Zusammenarbeit zwischen Anklägern und Polizei sowie zwischen der Polizei der beiden Teilstaaten bleibt nach wie vor problematisch. Zeugenschutz-Maßnahmen werden, wenn überhaupt, kaum angewandt. Zudem gibt es grundsätzlich keine Unterstützung für Zeugen. Die Ankläger nutzen die vorhandenen Beweismaterialien oftmals nicht und leiten auch die notwendigen Schritte nicht ein, damit Verdächtige beim Prozess anwesend sind. Den Verteidigern ihrerseits fehlt es an Ausbildungsmöglichkeiten in relevanten Bereichen der Rechtssprechung. Auch werden sie oft schlecht oder gar nicht für ihre Arbeit bezahlt. Einige der Kantons- und Bezirksgerichte haben bis heute keinen einzigen Fall verhandelt.
„Die Ressourcen der Justizsysteme der beiden Teilstaaten sind ganz offensichtlich beschränkt, doch die bosnischen Behörden müssen dafür sorgen, dass jenen, die bei diesen Verfahren wirkungsvolle Arbeit leisten, alle erforderlichen Instrumente zur Verfügung stehen”, sagte Franco. „Doch allein mit einem Mangel an Ressourcen lassen sich all die Unzulänglichkeiten dieser Verfahren nicht erklären. Auf Ankläger, Polizeibeamte, Richter und andere, welche die einzelnen Fälle untersuchen und vor Gericht bringen sollen und dabei ihrer Pflicht nicht nachkommen, muss Druck ausgeübt werden, damit sie die zur Verfügung stehenden Mittel besser ausnützen.”
Das Rechtssystem insgesamt weist jedoch auch ernsthafte Schwächen auf. So führt die mangelnde Vereinheitlichung der Gesetze zwischen den vier Justizsystemen in Bosnien-Herzegowina zu widersprüchlichen Interpretationen in Schlüsselfragen des Rechts und damit zu weit voneinander abweichenden Strafen für ähnliche Verbrechen. Gerichte respektieren Präzedenzfälle anderer Gerichte, einschließlich des UN-Tribunals (ICTY), oft nicht. Das Fehlen einer formalisierten Zusammenarbeit oder eines Rahmenabkommens für Auslieferungen mit den Nachbarstaaten macht es oft unmöglich, dass ein Fall vor Gericht gebracht werden kann.
Zudem stoßen Kriegsverbrecher-Prozesse vor Kantons- und Bezirksgerichten in der Öffentlichkeit oft auf sehr geringes Interesse, weil die Öffentlichkeitsarbeit vernachlässigt wird und es keine präzisen, öffentlich zugänglichen Informationen gibt.
„Wenn der Öffentlichkeit das Verständnis für einen Prozess fehlt, ist es für die Opfer, die Zeugen und die Gesellschaft insgesamt schwierig, Vertrauen in die Fairness eines Gerichtsverfahrens zu haben”, so Franco. „Wenn keine präzisen Informationen vorliegen, besteht die Tendenz, solche Verfahren auf eine Art und Weise zu interpretieren, die mit vorherrschenden politischen Vorurteilen übereinstimmt.”
Das jüngst unterzeichnete Stabilisierungs- und Assoziationsabkommen zwischen der Europäischen Union und Bosnien-Herzegowina unterstreicht die Wichtigkeit des EU-Engagements für den Aufbau eines Rechtsstaats und die Unterstützung der politischen Stabilität in dem Land. Die EU sollte den Belangen der Kantons- und Bezirksgerichte Priorität einräumen, die sich mit Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Genozid befassen.
Der Bericht enthält detaillierte Empfehlungen an die lokalen und nationalen Behörden, aber auch an die EU und andere Regierungen, um den Opfern von Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Genozid Gerechtigkeit zu gewähren.