Skip to main content

Türkei: Entschädigung für vertriebene Dorfbewohner ungenügend

Gesetz für Ausgleichszahlungen enttäuscht - Provinzbeamte wenden ungerechte Kriterien an

Die türkische Regierung hat Hunderttausende überwiegend kurdische Dorfbewohner trotz eines entsprechenden Gesetzes nicht ausreichend entschädigt, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Hintergrundpapier . Die Dorfbewohner wurden im Südosten des Landes durch brutale Militärmaßnahmen gegen Aufständische vertrieben.

Zwar wurde vom türkischen Parlament 2004 ein Gesetz für Ausgleichszahlungen verabschiedet. Demnsach sollen Vertriebene gerecht und angemessen entschädigt werden. Die Realität sieht jedoch anders aus. Provinzausschüsse für die Schadensbeurteilung haben die Beträge, die die Vetriebenen der Militärmaßnahmen der 1980er und 1990er Jahren zustehen, entweder auf willkürliche oder und unfaire Weise verringert oder deren Auszahlung ganz verweigert. Human Rights Watch hat die türkische Regierung aufgefordert, die Tätigkeiten dieser Ausschüsse einzustellen, bis ihre Arbeitsweise revidiert worden ist.

„Das türkische Gesetz für Ausgleichszahlungen ließ darauf hoffen, dass die Regierung Hunderttausende von Menschen endlich entschädigen würde, die vertrieben worden sind und aufgrund der Militäraktionen Verluste erlitten haben“, so Holly Cartner, Leiterin der Abteilung für Europa und Zentralasien von Human Rights Watch. „Die vertriebenen Dorfbewohner wurden jetzt jedoch erneut zu Opfern eines willkkürlichen Entschädigungsverfahrens, das sie eigentlich unterstützen sollte.“

Das Gesetz über Ausgleichszahlungen für durch Terror und Terrorbekämpfung entstandenen Schaden (Gesetz für Ausgleichszahlungen) aus dem Jahr 2004 sollte ursprünglich Opfer des bewaffneten Konflikts zwischen den türkischen Streitkräften und der kurdischen Arbeiterpartei PKK entschädigen. Dieser Konflikt besteht seit 1984 im Südosten der Türkei. Auch dieses Jahr kam es erneut zu Zusammenstößen, allerdings waren sie in letzter Zeit weniger gewaltsam. Die PKK erklärte im September einen Waffenstillstand. Zu den Opfern dieses lang andauernden Konflikts zählen auch die 378 335 Personen, überwiegend kurdische Bauern und ihre Familien, die in den 1990er Jahren aus ihren Dörfern vertrieben wurden.

Sie sollten durch die Beiträge, die in dem Gesetz für Ausgleichszahlungen festgeschrieben sind, für die Verluste entschädigt werden, die ihnen sowohl durch die Vertreibung an sich entstanden sind als auch dadurch, dass sie mehr als zehn Jahre nicht in ihre Häuser zurückkehren konnten. Laut Aussage der türkischen Regierung soll das Gesetz „das Vertrauen in den Staat sowie die Beziehung zwischen dem Staat und den Bürgern stärken, zum sozialen Frieden beitragen und den Terrorismus bekämpfen.“ Die Regierung verpflichtete sich dazu, für die wirkungsvolle Ausführung des Gesetzes zu sorgen. Ursprünglich versprach dieses Gesetz den Familien genügend Geld, um entweder in ihre Dörfer zurückzukehren oder in den Städten, in denen sie sich zwischenzeitlich angesiedelt haben, ein neues Leben zu beginnen.

Zwei Jahre später kann man jedoch nur feststellen, dass diese Hoffnung nicht in Erfüllung gegangen ist. Mitglieder der Provinzausschüsse für die Schadensbeurteilung reisen in entfernt gelegene Dörfer, um anhand der Trümmer abgebrannter Häuser und kaum vorhandener Unterlagen festzulegen, wie hoch der Schaden einzelner Familien ist. Durch die von entsprechenden Ausschüssen vorgeschlagenen Beträge wurden Vertriebene noch nie vollständig für tatsächlich erlittene Verluste entschädigt. Bisher entsprachen die Beträge in einigen Fällen aber wenigstens den Entschädigungszahlungen, die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte für vertriebene Familien empfohlen werden. Diese Situation hat sich im Januar allerdings geändert, als der Gerichtshof den Antrag eines Dorfbewohners aus Tunceli (Fall „Içyer gegen die Türkei“) mit der Begründung ablehnte, bei dem Gesetz für Ausgleichszahlungen handle es sich um geltendes nationales Recht. Daraufhin wurden mehr als 1 500 bei diesem Gerichtshof anhängige Fälle abgelehnt. Als Grund wurde angegeben, dass die Antragsteller das geltende nationale Recht - also das Gesetz für Ausgleichszahlungen - noch nicht vollständig ausgeschöpft hätten.

Seit der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Fall Içyer verschlechterte sich die Umsetzung des Gesetzes. Immer häufiger sieht es so aus, als ob die für die Schadensbeurteilung willkürliche und ungerechte Kriterien anwenden, wenn sie die Entschädigungssumme berechnen. Dies führte in zahlreichen Fällen zu äußerst niedrigen Ausgleichszahlungen. Dabei scheinen die Gerichte oft zugunsten der Regierung zu entscheiden und immer seltener sie Interessen der Opfer zu berücksichtigen, die dem Missbracuh von Seiten der Regierung ausgesetzt waren.

„Durch ein Entschädigungsverfahren, bei dem die Vertriebenen benachteiligt werden, kann sich der Staat nun teilweise von seiner Pflicht entbinden“, so Cartner. „Die lächerlich niedrigen Beträge, die man ihnen anbietet, sind nicht nur ungerecht, sondern nehmen den Dorfbewohnern auch jegliche Möglichkeit, ihr Leben neu zu gestalten.“

In dem Hintergrundpapier, das Human Rights Watch heute der türkischen Regierung zukommen ließ, sind einige der Methoden aufgeführt, die zur Senkung der Entschädigungszahlungen verwendet werden: beim Schätzen von Häusern wird der Wert von Kuhställen als Grundlage verwendet; die Größe von Landbesitz wird zu niedrig angesetzt; Zahlungen für Vieh werden nicht berücksichtigt, obwohl die Viehwirtschaft in der Region die wichtigste Einkommensquelle war. Das Gesetz für Ausgleichszahlungen sieht kein realistisches Rechtsmittel vor, um die Schätzungen anzufechten. Die überwiegend kurdischen Bauern haben daher nur eine Wahl: den ihnen angebotenen Betrag anzunehmen.

Hintergrundinformationen

In den 1980er und 1990er Jahren haben türkische Sicherheitskräfte im Kampf gegen die PKK Einwohner ländlicher Gemeinden vertrieben. Die PKK rekrutierte in diesen Gemeinden neue Soldaten und forderte logistische Unterstützung. Die türkischen Sicherheitskräfte forderten ganze Dörfer auf, ihre Treue dadurch unter Beweis zu stellen, dass sich ihre Einwohner zu Truppen so genannter „provisorischer Dorfwächter“ zusammenschlossen. Sie wurden von der lokalen Polizei bewaffnet, bezahlt und überwacht. Diese Dorfwächter wurden von der PKK angegriffen. Wenn sich Dorfbewohner den Truppen nicht anschließen wollten, wurden sie von den Sicherheitskräften aus ihren Häusern vertrieben.

Dafür setzte die Armee Hubschrauber, gepanzerte Fahrzeuge, Truppen und Dorfwächter ein. Truppen steckten Ernteerzeugnisse, gelagerte Lebensmittel, landwirtschaftliche Geräte, Obstgärten, Wälder, Vieh und Häuser in Brand. Oftmals hatten die Bewohner keine Gelegenheit, ihr Hab und Gut zu retten. Vor der Vertreibung missbrauchten die Soldaten Dorfbewohner und demütigten sie, sie stahlen ihre Besitztümer sowie ihr Bargeld, sie misshandelten oder folterten. Im Rahmen dieser Militärmapagne gegen Aufständische sind zahlreiche Dorfbewohner „verschwunden“ oder wurden außergerichtlich hingerichtet. Mehr als 3 000 Dörfer wurden ausgelöscht.

Nachfolgende türkische Regierungen kündigten an, die Rückkehr von Vertriebenen zu unterstützen. Diese Maßnahmen waren jedoch stets schlecht finanziert, und erhielten auch nicht genügend politische Unterstützung, um einer große Anzahl von Flüchtlingen dauerhaft die Rückkehr in ihre Heimat zu ermöglichen. Dorfwächter sind auf dem Land noch immer aktiv und stellen für die Sicherheit von Rückkehrern eine ernsthafte Bedrohung dar. Während der letzten dreieinhalb Jahre haben Dorfwächter mindestens 13 unbewaffnete Dorfbewohner getötet und viele weitere angegriffen (siehe Brief von Human Rights Watch an den türkischen Innenminister Abdülkadir Aksu zur Abschaffung des Dorfwächtersystems).

Die Situation der Vertriebenen in der Türkei und der unzureichende Schutz ihrer Interessen durch die türkische Regierung werden von zwischenstaatlichen Organen beobachtet. Der UN-Sonderbeauftragte für Binnenvertreibung stattete der Türkei im Mai 2002 einen Besuch ab und unterbreitete der türkischen Regierung seine Empfehlungen. Im Juni 2004 empfahl die Parlamentarische Versammlung des Europarates der türkischen Regierung, „den Dialog in eine formelle Partnerschaft mit UN-Behörden weiterzuentwickeln, um sich gemeinsam für die sichere und würdevolle Rückkehr derjenigen einzusetzen, die in den 1990er Jahren aufgrund des Konflikts vertrieben wurden“. Die Europäische Kommission stellte in ihrem regelmäßig veröffentlichten Fortschrittsbericht zur Türkei im Jahr 2005 fest: „Die Situation der Binnenflüchtlinge ist weiterhin kritisch, und viele von ihnen leben unter prekären Bedingungen.“

Your tax deductible gift can help stop human rights violations and save lives around the world.