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Vergiftete Nähe

Deutschlands Dialog mit Russland ist sinnlos, wenn Berlin demokratische Werte verrät. Ein Plädoyer für Prinzipien in der Außenpolitik von Carroll Bogert

Das geheimnisvolle Drama um die radioaktive Vergiftung eines vormaligen KGB-Spions in London hat den Ruf des russischen Präsidenten erneut in Mitleidenschaft gezogen. Die Freunde und Verwandten von Alexander Litwinenko zögerten nicht, Wladimir Putin zu beschuldigen, er habe diesen Mord angeordnet – eine Behauptung, die der Kreml natürlich als unbegründet zurückwies.
Es ist die schiere Dreistigkeit des Mordes an Litwinenko, die den Westen schockiert. Derweil betreibt Putin – dem Licht der westlichen Öffentlichkeit entzogen – eine Politik, die bereits Tausende das Leben gekostet hat. Die meisten waren tschetschenische Zivilisten.

Die deutsche Regierung hat gegen Putins langsame Erdrosselung der russischen Demokratie und Zivilgesellschaft nur schwächlichen Protest erhoben. Vor wenigen Tagen noch hat Altbundeskanzler Gerhard Schröder seine Einschätzung des »lupenreinen Demokraten« Wladimir Putin bekräftigt. Dabei wurden die elektronischen Medien in Russland gründlich ausgehungert. Die Printmedien wiederum sind zu Schoßhunden verkommen. Und das russische Parlament, die Duma, muss als kastriert gelten. Einheimische und ausländische Nichtregierungsorganisationen in Russland sehen ihrer Auslöschung entgegen, nachdem ein neues Gesetz solche Vereinigungen extrem strengen Regeln unterwirft. Damit fallen die letzten zivilgesellschaftlichen Organisationen, die noch von der Staatsmacht unabhängig waren.
Nun steht das europäisch-russische Abkommen über Partnerschaft und Zusammenarbeit im Jahr 2007 zur Neuverhandlung an. Deshalb wird Berlins Auftreten gegenüber Moskau während der deutschen EU-Präsidentschaft von entscheidender Bedeutung sein. Einem Strategiepapier zufolge, das kürzlich innerhalb des Außenministeriums kursierte, will Deutschland ein enges und unumkehrbares Netz wirtschaftlicher und politischer Beziehungen zu Russland aufbauen. In Anlehnung an das Leitmotiv »Wandel durch Annäherung« der Brandtschen Ostpolitik strebt Deutschland einen »Wandel durch Verflechtung« an, der alle Aspekte des politischen, gesellschaftlichen und besonders des wirtschaftlichen Lebens umfassen soll.
Diese Strategie sieht auf beunruhigende Weise nach einem Deckmantel aus, hinter dem das tatsächlich oberste Gebot der deutschen Außenpolitik verborgen bleibt – die Energiefrage. Aber selbst wenn man die These von der neuen Partnerschaft mit Russland zu ihrem Nennwert nimmt: Sie gründet auf der historischen Analogie, Willy Brandts Politik, die Sowjetunion einzubeziehen, statt auszugrenzen, habe tatsächlich den Zusammenbruch des Ostblocks herbeigeführt.
Das klingt nachvollziehbar. Doch was auch immer den Zusammenbruch der Sowjetunion ausgelöst haben mag oder nicht – das heutige Russland ist eine völlig andere Angelegenheit. Wir haben es nicht mehr mit einer bedrängten Klasse von Dissidenten zu tun, die auf die Öffnung ihres Landes nach Westen hofft. Russland heute ist ein weitaus offeneres Land mit einer durch und durch konsumfixierten Gesellschaft.
Zivilgesellschaftlichen Aktivisten in Russland haben die Dissidenten der Sowjetära mittlerweile abgelöst. Diese Aktivisten hoffen auf eines: dass sich die Außenwelt zu den eigenen Werten bekennen möge. Sie wollen, dass die westlichen Staatsmänner Präsident Putin erklären, warum Demokratie, Rede- und Versammlungsfreiheit wichtig sind. Putin erklärt Besuchern (wie im vorigen Juli mir und Vertretern internationaler Nichtregierungsorganisationen), dass europäische Experten ihre Zustimmung zu seinem NGO-Gesetz gegeben hätten. Die Aktivisten der russischen Zivilgesellschaft wollen, dass deutlich darauf hinwiesen wird, dass dies nicht wahr ist.
Niemand behauptet, Dialoge zu führen sei keine gute Sache. Das diplomatische Gespräch, der Austausch von Mensch zu Mensch und zivilgesellschaftliche Partnerschaften sind wichtige Bestandteile der internationalen Beziehungen. Zum Problem wird der Dialog, wenn er ohne Prinzipien fortgesetzt wird – wenn also keine russischen Taten, und seien sie noch so brutal oder destruktiv, irgendwelche Folgen für die Beziehungen zwischen Russland und seinen Partnern zu haben scheinen.

Der Begriff des Dialogs klingt gut angesichts der Zerrissenheit und Militarisierung der Welt. Er erscheint auch als angenehm gemäßigt in einer Zeit, in der die Regierung Bush kein Interesse am Gespräch hat und unbequeme Länder mit Bomben bedroht. Aber Dialog ohne Bedingungen ist keine vernünftige Alternative zum Säbelrasseln.
Die deutsche Energiesicherheit steht nicht auf dem Spiel. Deutschland sieht keinem Winter der Kälte und des Zitterns entgegen, nur weil es die russische Regierung wegen ihres Angriffs auf die Zivilgesellschaft oder ihren Krieg in Tschetschenien kritisiert. Was wirklich auf dem Spiel steht, sind die Werte der Deutschen. Glaubt Deutschland intensiv genug an die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, um diese in der internationalen Arena zu unterstützen? Natürlich ist es leichter, den eigenen Einsatz für die Menschenrechte an Beispielen wie dem Internationalen Strafgerichtshof zu demonstrieren, die mit den ganz handfesten Interessen Deutschlands wenig zu tun haben. Zum Schwur kommt es hingegen, wenn das Thema Russland heißt. Auf dem Spiel steht nicht nur die politische Zukunft des russischen Volkes. Auf dem Spiel steht auch die politische Glaubwürdigkeit der Deutschen.

Carroll Bogert ist Vizedirektorin der
US-Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch
Aus dem Englischen vonTobias Dürr

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