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Russland: Menschenrechte müssen Thema beim Gipfeltreffen mit Putin sein.

Brief an Bundeskanzler Schröder und Staatspräsident Chirac.

Pressefreiheit
Für die Pressefreiheit – hinsichtlich der Menschenrechte eine der wichtigsten Errungenschaften der postsowjetischen Glasnost-Ära – ist Wladimir Putins Präsidentschaft verheerend. Während 1999 noch mehrere staatliche Fernsehkanäle unabhängige Redaktionslinien hatten, die dem Standpunkt der Regierung häufig widersprachen, unterliegen inzwischen alle großen Fernsehkanäle einer rigorosen Kontrolle durch die Regierung. Im Juni verschwand die letzte politische Live-Diskussionssendung von der Bildfläche, und eine lebendige Debatte von Schlüsselfragen der Politik ist auf den russischen Fernsehbildschirmen fast nicht mehr zu sehen. Wir hoffen, dass Sie angesichts dieser Entwicklungen Besorgnis äußern, die Bedeutung der öffentlichen Erörterung politischer Fragen für eine funktionierende Demokratie hervorheben und die russische Regierung auffordern werden, die Gründung eines wirklich unabhängigen Fernsehkanals zuzulassen.

Akademische Freiheit
Die legitime akademische Arbeit in Russland ist durch Strafverfahren gegen eine Reihe russischer Wissenschaftler wegen Spionage bedroht. Nach einem offensichtlich unfairen Prozess wurde im April 2004 einer dieser Wissenschaftler, Dr. Igor Sutjagin vom Institut für USA- und Kanada-Forschung der Russischen Akademie der Wissenschaften, von einem Moskauer Gericht zu 15 Jahren verschärfter Lagerhaft verurteilt – die längste Haftstrafe wegen Hochverrats seit dem Ende der Sowjetära. Die von Human Rights Watch und mehreren anderen Organisationen erstellte Analyse des Falls ist diesem Schreiben beigefügt. Am 17. August 2004 wies der russische Oberste Gerichtshof Dr. Sutjagins Berufung gegen das Urteil zurück. Das Verfahren gegen Valentin Danilow, einen anderen Wissenschaftler, wird wieder aufgenommen, nachdem der Oberste Gerichtshof dessen Freispruch im Juni 2004 aufgehoben hat. Aufgrund dieser Strafverfolgungen verbreitet sich unter den Wissenschaftlern und Forschern nun die Angst, dass legitime wissenschaftliche und politische Analysen in Russland als Verbrechen betrachtet werden könnten. Die Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes in diesen Fällen sind außerdem bis jetzt der deutlichste Beweis dafür, dass Russlands höchstinstanzliches Gericht nicht mehr unabhängig genug ist, um die russischen Bürger gegen die willkürlichen Handlungen des FSB zu schützen. Wir fordern Sie auf, angesichts dieser strafrechtlichen Verfolgungen und ihrer Auswirkungen auf die akademische Freiheit Besorgnis zu äußern. Wir hoffen, Sie werden darauf hinweisen, dass die Wissenschaft von elementarer Bedeutung für die Entwicklung Russlands als Industrienation ist. Wir fordern Sie außerdem auf, die russische Regierung nachdrücklich anzuhalten, dafür zu sorgen, dass die abschließende Überprüfung von Dr. Sutjagins Berufung unverzüglich und gemäß den internationalen Standards für einen fairen Prozess erfolgt. Des Weiteren ersuchen wir Sie, die russische Regierung anzuspornen, die Arbeit des von der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ernannten Berichterstatters zum Fall Dr. Sutjagin zu ermöglichen und zu unterstützen.

Nichtregierungsorganisationen
Im Mai wetterte Präsident Putin in seiner Ansprache zur Lage der Nation gegen die Nichtregierungsorganisationen (NRO) und warf ihnen vor, bei der Verteidigung der „wirklichen Interessen der Menschen“ zu versagen und „dubiosen Gruppen und geschäftlichen Interessen“ in die Hände zu spielen. Seitdem sind die Organisationen des Dritten Sektors in Gefahr: Dutzende Beamte sind dem Präsidenten in seinen Angriffen gegen NRO gefolgt; die Polizei hat bei mehreren Organisationen Razzien durchgeführt; und würden die neuen Steuervorschriften verabschiedet, wäre die Unabhängigkeit und möglicherweise gar die Existenz vieler NRO bedroht. Wir fordern Sie auf, gegenüber der russischen Führung Besorgnis angesichts dieser Entwicklungen zu äußern und die essenzielle Bedeutung einer lebendigen und kritischen NRO-Gemeinschaft für eine funktionierende Demokratie in Russland zu unterstreichen.

Tschetschenien und der Nordkaukasus
Wie die jüngsten Vorkommnisse in Inguschetien schmerzlich gezeigt haben, wütet der Tschetschenienkrieg unvermindert weiter. Einer der Hauptgründe für die Unfähigkeit Russlands, den Frieden in der Region zu sichern, ist die Tatsache, dass kein ernst zu nehmendes Verfahren eingerichtet wurde, um die russischen Soldaten und Polizeikräfte in der Region für die von ihnen begangenen Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen. Dass praktisch niemand für die systematischen und alltäglichen Menschenrechtsverletzungen verantwortlich gemacht wurde – zu denen auch das Verschwinden von Personen, summarische Exekutionen und Folter gehören – hat das Vertrauen der tschetschenischen Bürger in die russischen Staatsorgane maßgeblich erschüttert und außerdem zu einem verstärkten Gefühl der Straffreiheit unter Soldaten und Polizeibeamten geführt. Wir fordern Sie auf, der russischen Regierung einzuschärfen, dass ein anhaltender Frieden in Tschetschenien ohne Gerechtigkeit nicht möglich ist. Wir hoffen außerdem, dass Sie die russische Regierung drängen, die Beschränkungen für den Zugang der internationalen Gemeinschaft zur Region aufzuheben, unter anderem durch die längst überfällige Einladung der UN-Sonderberichterstatter für Folter und außergerichtliche Hinrichtungen zu einem Besuch in Tschetschenien.

Wir hoffen, dass Sie diese wichtigen Fragen bei Ihren Treffen mit Präsident Putin und anderen führenden russischen Politikern ansprechen. Wir danken Ihnen für die Aufmerksamkeit, die Sie den hier aufgeworfenen Belangen entgegenbringen.

Hochachtungsvoll,

Rachel Denber
Amtierende Direktorin
Europa- und Zentralasien-Abteilung

Lotte Leicht
Direktorin Büro Brüssel

Kopie an: Herrn Dr. Hans-Friedrich von Plötz, Deutscher Botschafter in Russland
Herrn Jean Cadet, Französischer Botschafter in Russland

Anlagen: Gemeinsame Erklärung zum Fall Igor Sutjagin, Juni 2004

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