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Russland: Arbeitsmigranten in Sotschi werden abgeschoben

Behörden sollen Razzien und willkürliche Verhaftungen im Vorfeld der Olympischen Spiele beenden

(Moskau) - Die russischen Behörden haben in Sotschi Hunderte Arbeitsmigranten verhaftet, weil diese angeblich gegen einwanderungs- oder arbeitsrechtliche Bestimmungen verstoßen haben. Viele werden willkürlich und unter unmenschlichen Bedingungen festgehalten, so Human Rights Watch heute. Die Verhaftungswelle trifft vor allem Arbeiter, die auf Baustellen für die Olympischen Winterspiele 2014 beschäftigt sind. In weniger als fünf Monaten beginnen die Wettkämpfe.

Menschenrechtsaktivisten vor Ort berichten, dass die Behörden Anfang September damit begonnen haben, Arbeitsstätten, Wohnung und öffentliche Plätze zu durchsuchen und Hunderte Personen festgenommen haben, die meisten davon Arbeitsmigranten. Offensichtlich haben die Ermittler gezielt Personen ins Visier genommen, die nicht slawisch aussehen. Viele Verhaftete wurden in Innenhöfe von Polizeistationen und überbelegte Übergangszellen gesperrt. Während die meisten nach wenigen Stunden wieder entlassen wurden, blieben manche länger als eine Woche in Haft. Einige Betroffenen durften ihre Anwälte nicht kontaktieren, auf Nachfrage leugnete die Polizei, dass sie sich in Gewahrsam befanden. Andere wurden nach oberflächlichen Anhörungen ohne anwaltliche Vertretung aus Russland ausgewiesen.

Die Verhaftungswelle dauerte an, als das Internationale Olympische Komitee (IOK) Sotschi Ende September für eine letzte Überprüfung vor den Spielen besuchte.

„Es ist skandalös, dass die Arbeitsmigranten, die die schönen neuen Spielstätten für die Olympischen Wettkämpfe gebaut haben, massenhaft verhaftet und abgeschoben werden“, so Jane Buchanan, stellvertretende Leiterin der Abteilung Europa und Zentralasien von Human Rights Watch. „Das IOK muss klarstellen, dass diese Razzien absolut inakzeptabel für eine Gaststadt der Olympischen Spiele sind und dass die menschenrechtswidrigen Verhaftungen sofort aufhören müssen.“

Auch russische Staatsbürger, die nicht in Sotschi wohnen, zählen zu den Inhaftierten. Menschenrechtsaktivisten zufolge finden seit den ersten Septembertagen täglich Verhaftungen statt. Die Regierung soll gewährleisten, dass die Grundrechte aller Inhaftierten gewahrt werden, insbesondere ihr Zugang zu Anwälten. Auch soll sie dafür sorgen, dass die Haftbedingungen internationalen Standards genügen.

Die Razzien begannen am 3. September unmittelbar nach einer Rede von Alexander Tkatschow, dem Gouverneur der Region Krasnodar, der Sotschi angehört. Er rief „Fahndungsbrigaden“ aus Polizei, Einwanderungsbehörde, Föderaler Sicherheitsbehörde und anderen Stellen sowie Kosaken dazu auf, in den Straßen von Sotschi „aufzuräumen“.

Der Anwalt Alexander Popkow berichtete, dass er am 24. September zum Polizeirevier im Zentrum von Sotschi ging, nachdem ihn ein Vertreter einer Baufirma telefonisch darüber informiert hatte, dass die Polizei zahlreiche Arbeiter festgenommen hatte. Popkow gelangte in den Innenhof der Polizeistation, wo er 40 bis 50 Männer in einem provisorischen Blechverschlag entdeckte. Mit seiner Handykamera filmte er die Gefangenen, während sie ihm sagten, wie lange sie sich schon in Haft befanden.

Einige Männer in dem Video berichteten, dass sie vor ein paar Stunden festgenommen worden waren, andere sprachen davon, dass sie schon seit zwei, drei oder vier Tagen in der Garage festgehalten werden wurden. Ein Mann sagte, er wäre bereits seit acht Tagen dort. Die Männer beklagten weiter, dass sie kein Essen bekamen, nirgends schlafen konnten und Regen, Wind und Kälte schutzlos ausgeliefert wären. Während ihrer Haft tobte in Sotschi drei Tage lang ein heftiger Sturm mit Starkregen und hohen Windstärken. Die Gefangenen durften Essen an einem Stand für die Mitarbeiter der Polizeistation im Innenhof kaufen, aber nicht alle von ihnen hatten Geld bei sich.

Popkow berichtete weiter, dass er den diensthabenden Polizeibeamten um Erlaubnis gebeten hatte, die Männer rechtlich zu beraten. Daraufhin behauptete dieser wiederholt und aggressiv: „Im Innenhof sind keine Männer.“ Popkow reichte Beschwerde bei der Staatsanwaltschaft darüber ein, dass die Betroffenen willkürlich verhaftet worden waren und ihnen der Zugang zu einem Rechtsbeistand verweigert wurde. Er wartet bis heute auf eine Antwort.

Entgegen der polizeilichen Vorschriften in Russland wurde keiner der Männer, mit denen Popkow am 24. September sprach, im Polizeiprotokoll registriert. In dieses muss der Name jedes Gefangenen, seine Ankunftszeit und der Haftgrund eingetragen werden.

„Sie geben sich große Mühe zu verschleiern, was sie tun“, so Popkow. „Die Polizisten haben mir ins Gesicht gelogen. Sie behaupteten, es sei niemand da, während ich mit meinen eigenen Augen die Menschen gesehen haben, die da schutzlos in der Kälte saßen.“

Die Behörden sollen unverzüglich die Namen aller Personen bestätigen, die im Innenhof der Polizeistation im Stadtzentrum Sotschis festgehalten werden. Sie sollen gewährleisten, dass die Betroffenen Rechtsberatung und Lebensmittel erhalten und an einem geschützten Ort untergebracht werden.

Menschenrechtswidrige Verhaftung von Migranten beim Besuch des Olympischen Komitees

Popkows Entdeckung des Verschlags fiel zusammen mit dem letzten Besuch des IOK in Sotschi vom 24. bis 26. September, während dessen die Vorbereitungen für die Winterspiele überprüft wurden. Bei einer Pressekonferenz in Sotschi am 26. September äußerte sich der Vorsitzende des IOK-Koordinationskommission, Jean-Claude Killy, zufrieden über die „wirklich beeindruckenden“ Vorbereitungen.

„Die menschenrechtswidrigen Razzien fanden direkt unter der Nase des Komitees statt, und es hat trotzdem kein Wort über sie verloren“, sagt Buchanan. „Es sieht ganz danach aus, als ob bei den IOK-Überprüfungen etwas grundlegend falsch läuft.“

Nach russischen Recht darf die Polizei Personen zur „Identitätsfeststellung“ maximal drei Stunden festhalten. Nach drei Stunden muss die Polizei konkrete Anklagepunkte vorbringen, und nach 48 Stunden muss jede weitere Verwahrung richterlich genehmigt werden. Darüber hinaus müssen die Behörden allen Personen in ihrem Gewahrsam unverzüglich ermöglichen, Anwälte zu kontaktieren, und sie mit Lebensmitteln, Wasser und notwendigen Medikamenten versorgen. Ebenso steht Gefangenen zu, an einem nicht übermäßig kalten oder warmen Ort untergebracht zu werden, an dem es einen Platz zum Schlafen gibt. Auch das Völkerrecht schützt Gefangene mit ähnlichen Bestimmungen.

Popkow und Semyon Simonow, Leiter des Büros in Sotschi des Programms „Migration und Recht“ des Memorial Human Rights Centers, besuchten die Polizeistation im Zentrum Sotschis auch gemeinsam am 18. September. Zuvor hatten sie telefonisch von den Betroffenen selbst, ihren Verwandten oder Freunden von Verhaftungen erfahren. Simonow schätzt, dass sich an dem Tag etwa 200 Menschen bei starkem Regen im Innenhof des Polizeireviers befanden.

Mehrere Verwandte, Freunde und Arbeitgeber von Gefangenen warteten vor dem Revier und baten Popkow, einzelne Inhaftierte rechtlich zu beraten. Aber die Polizei lehnte alle seine mündlichen und schriftliche Anfragen ab, mit den genannten Gefangenen sprechen zu dürfen. Vielmehr behaupteten die Polizisten, diese Personen befänden sich nicht in Haft und sagten: „Wir halten hier niemanden fest. Hier geschieht rein gar nichts.“

Daraufhin reichte Simonow eine Beschwerde über den diensthabenden Beamten ein. Dieser hatte auch behauptet, die Männer, mit denen die Anwälte sprechen wollten, seien von Unbekannten gekidnappt worden.

Bis zum 26. September hat Simonow keine Antwort auf diese Beschwerde erhalten. Allerdings wurden alle Personen, die am 18. September in der Polizeistation festgehalten wurden, nach und nach entlassen, manche nach mehr als 19 Stunden Haft.

Überfüllte Zellen und kein Zugang zu Anwalt

Am 12. September wollten Simonow und Popkow den in der Polizeistation im Stadteil Adler inhaftierten usbekischen Arbeitsmigranten Nurmamatow Kulmuradow anwaltlich beraten. Kulmuradow hatte Simonow eine Woche zuvor um Hilfe gebeten, weil er und etwa zehn andere Arbeiter in den Jahren 2012 und 2013 nicht bezahlt worden waren. Der Arbeitgeber war ein Unternehmen, das am Bau des Medienzentrums der Olympischen Spiele beteiligt war. Polizisten verhafteten Kulmuardow am 11. September wegen eines angeblichen Verstoßes gegen das Einwanderungsrecht.

Drei Tage vor seiner Verhaftung war Kulmuradows Arbeitserlaubnis abgelaufen. Allerdings dürfen Arbeitsmigranten nach Ablauf einer solchen Aufenthaltsgenehmigung noch 15 Tage in Russland bleiben.

Simonow zufolge hielt die Polizei Kulmuradow und acht andere Gefangene etwa 15 Stunden in einer kleinen Zelle fest. Sie verweigerte ihnen nicht nur Nahrung, sondern auch die Medikamente, um die einige Insassen gebeten hatten. In der Zelle befand sich nur eine kleine Bank und keine Betten, nachts war es sehr kalt. Einige Gefangene schliefen auf Pappen auf dem Fußboden.

Später am 12. September ordnete ein Gericht an, Kulmuradow und 20 andere Gefangene aus Russland auszuweisen, weil sie einwanderungsrechtliche Bestimmungen verletzt hätten. Die Behörden haben verhindert, dass Popkow und Simonow Kulmuradow bei der Anhörung vertreten. Während die Anwälte vor dem Gerichtssaal auf den Beginn der Anhörung warteten, wurde Kulmuradow durch eine Hintertür herein gebracht.

Die Behörden verlegten Kulmuradow in eine Abschiebezelle. Popkow hat Berufung gegen die Abschiebeanordnung eingelegt. Derzeit ist unklar, ob Kulmuradow bereits abgeschoben worden ist.

Popkow und Simonow zufolge zeigen offizielle Gerichtsdokumente, dass die Behörden Hunderte Ausländer nach oberflächlichen Anhörungen ausgewiesen haben, an denen weder Übersetzer noch Anwälte teilnehmen durften. Die meisten Betroffenen waren als Arbeitsmigranten in Sotschi. Einige wurden während der zehntägigen Frist abgeschoben, in der sie gegen die Entscheidung des Gerichts hätten Einspruch einlegen können.

Zehntausende Arbeitsmigranten aus Zentralasien, anderen Ländern und Regionen Russlands sind am Aufbau der Olympischen Spielstätten und der Infrastruktur in Sotschi beteiligt. Human Rights Watch hat die Ausbeutung von Arbeitsmigranten auf olympischen Baustellen dokumentiert, darunter stark verzögerte und ausbleibende Lohnzahlungen, Entzug von Pässen und anderen Ausweispapieren und Weigerungen, die gesetzlich erforderlichen, schriftlichen Verträge und Arbeitsgenehmigungen auszustellen. Arbeitsmigranten werden auf den wichtigsten olympischen Baustellen ausgebeutet, darunter beim Bau des zentralen Olympiastadions, des olympischen Dorfes und des Medienzentrums. Menschenrechtsorganisationen in Sotschi dokumentieren, dass diese Menschenrechtsverletzungen weiter an den gleichen Orten stattfinden.

„Es ist abscheulich, wie sehr viele der in Sotschi aktiven Unternehmen Arbeitsmigranten behandeln - gerade auf den wichtigsten olympischen Baustellen“, so Buchanan. „Aber statt die Ausbeutung zu beenden, konzentriert sich die Regierung jetzt offensichtlich darauf, die Arbeiter festzunehmen und abzuschieben.“

Einige Arbeitsmigranten, die sich in der Vergangenheit über schlechte Arbeitsbedingungen beschwert haben, wurden denunziert und abgeschoben oder unter Vorwänden festgenommen.

Das IOK soll öffentlich klarstellen, dass derartige Menschenrechtsverletzungen der Olympischen Charta widersprechen, in der die Menschenwürde an vorderster Stelle steht. Weiterhin soll das IOK einen ständigen Ausschuss einrichten, der menschenrechtliche Probleme im Zusammenhang mit den Olympischen Spielen beobachtet. So kann verhindert werden, dass bei der Vorbereitung zukünftiger Wettkämpfe erneut Menschenrechte verletzt werden.

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