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Syrien: Gräueltaten vom März erfordern Rechenschaftspflicht auf höchster Ebene

Ermittlungen der Regierung zeigen mangelnde Transparenz über Beteiligung hochrangiger Beamter

Syrische Regierungstruppen in der westlichen Stadt Latakia, Syrien, am 9. März 2025. © 2025 OMAR HAJ KADOUR/AFP via Getty Images
  • Die syrische Übergangsregierung hat versprochen, die Gewalttaten vom März 2025 aufzuklären, aber kaum Transparenz darüber geschaffen, ob ihre Ermittlungen auch die Rolle hochrangiger Militärs oder ziviler Führungskräfte untersucht haben oder welche Schritte sie unternehmen wird, um diejenigen mit Befehlsgewalt zur Rechenschaft zu ziehen.
  • Wenn Befehlshaber und Beamte, die für den Einsatz und die Führung missbräuchlicher Streitkräfte verantwortlich sind, nicht zur Rechenschaft gezogen werden, bleibt das Tor für weitere Repressalien und Gräueltaten in Syrien offen.
  • Die syrischen Behörden sollten sicherstellen, dass in Gerichtsverfahren nicht nur einzelne Straftaten, sondern auch die institutionelle Verantwortung untersucht werden. Sie sollten außerdem den Zugang zu internationalen Mechanismen der Rechenschaftspflicht ermöglichen und Sicherheitsreformen durchführen.

(Beirut, 23. September 2025) – Die Übergangsregierung Syriens hat versprochen, Rechenschaft für die Gewalt in drei Provinzen im März 2025 zu leisten, aber sie hat wenig Transparenz darüber geschaffen, ob ihre Untersuchung die Rolle hochrangiger Militär- oder Zivilverantwortlicher geprüft hat oder welche Schritte sie unternehmen wird, um diejenigen mit Befehlsgewalt zur Rechenschaft zu ziehen, so Human Rights Watch, Syrians for Truth and Justice und Syrian Archive in einem heute veröffentlichten Bericht. 

Der 51-seitige Bericht „‚Bist du Alawi?’ Identitätsbasierte Tötungen während des Übergangs in Syrien“ dokumentiert weit verbreitete Übergriffe durch Regierungstruppen, regierungsnahe bewaffnete Gruppen und bewaffnete Freiwillige, darunter Massenhinrichtungen, vorsätzliche Zerstörung von Eigentum und Misshandlung von Gefangenen. Die Ergebnisse zeigen, dass diese Verbrechen im Rahmen einer zentral koordinierten Militäroperation unter der Leitung des Verteidigungsministeriums begangen wurden, dessen Beamte auch nach Bekanntwerden der Massentötungen weiterhin Einsätze koordinierten.

„Die Anerkennung der Gräueltaten durch die Regierung ist ein Schritt nach vorne, reicht jedoch nicht aus, um die Verantwortlichen auf höherer Ebene, die diese Gräueltaten ermöglicht oder nicht verhindert haben, zur Rechenschaft zu ziehen“, sagte Hiba Zayadin, leitende Syrien- Forscherin bei Human Rights Watch. „Wenn die für den Einsatz und die Führung der missbräuchlichen Streitkräfte verantwortlichen Kommandeure und Beamten nicht zur Rechenschaft gezogen werden, bleibt das Tor für weitere Repressalien und Gräueltaten in Syrien offen.“

Die Gewalt im März wurde durch eine koordinierte Welle von Angriffen ausgelöst, die am 6. März von bewaffneten Männern begann, die die Regierung als Loyalisten der ehemaligen Regierung von Bashar al-Assad bezeichnete. Bei diesen Angriffen wurden mindestens 200 Regierungsangestellte getötet. Die Regierungstruppen reagierten mit Sicherheitseinsätzen in der gesamten Region, bei denen es zu weit verbreiteten identitätsbasierten Übergriffen und Gräueltaten kam, die sich in erster Linie gegen alawitische Bevölkerung richteten, die als loyal gegenüber der früheren Regierung von Bashar al-Assad gilt.

Auf der Grundlage von mehr als 100 Interviews mit Opfern, Zeug*innen, Kämpfern und Journalist*innen sowie verifizierten audiovisuellen Materialien und Satellitenbildern dokumentierten die Organisationen zwischen dem 6. und mindestens dem 10. März weit verbreitete Gewalttaten in mehr als 24 Städten, Dörfern und Stadtvierteln. Dazu gehörten Massenhinrichtungen, Hausdurchsuchungen, Plünderungen, Brandstiftung und identitätsbasierte Übergriffe.

Die Organisationen fanden zwar keine direkten Befehle zur Begehung von Gräueltaten, bestätigten jedoch, dass das Verteidigungsministerium der neuen Regierung eine zentrale Rolle bei der Mobilisierung von Einheiten und der Koordinierung ihres Einsatzes spielte. Die Behörden mobilisierten Zehntausende von Kämpfern aus dem ganzen Land und wiesen ihnen gemeinsame Einsatzgebiete zu. Kämpfer berichteten, dass sie über mit dem Ministerium verbundene Kanäle Befehle erhielten, darunter auch den Befehl, die Verantwortung für die von ihnen „gesicherten” Gebiete an die Sicherheitskräfte (Polizei) zu übergeben.

Kämpfer berichteten Human Rights Watch, dass die Militärführung auch noch lange nachdem die Behörden von den Tötungen und Gräueltaten wussten oder hätten wissen müssen, weiterhin Streitkräfte koordinierte und einsetzte.

„Man braucht keinen unterzeichneten Befehl, um hochrangige Beamte und Fraktionskommandeure zur Rechenschaft zu ziehen“, sagte Bassam al-Ahmed, Mitbegründer und Geschäftsführer von Syrians for Truth and Justice. „Beamte des Verteidigungsministeriums hatten die Macht, Zehntausende Kämpfer zu mobilisieren, Einsatzgebiete zuzuweisen und aufzuteilen und tagelang Operationen in Dutzenden von Städten durchzuführen. Die Frage ist nicht nur, wer die Befehle erteilt hat oder ob sie erteilt wurden, sondern warum niemand in verantwortlicher Position die weit verbreiteten Tötungen und Plünderungen verhindern konnte. Das ist ein Versagen der Führung und ein Versagen des Willens.“

Das syrische Nationale Komitee zur Untersuchung und Aufklärung der Ereignisse an der Küste legte am 22. Juli auf einer Pressekonferenz in Damaskus eine Zusammenfassung seines Abschlussberichts vor, in dem es feststellte, dass mindestens 1.426 Menschen getötet wurden und die Behörden 298 Verdächtige an die Staatsanwaltschaft verwiesen haben. Die Ergebnisse der Untersuchung, die massive Gräueltaten gegen Zivilist*innen bestätigen, markieren eine deutliche Abkehr vom bisherigen Klima der Verleugnung und Straflosigkeit unter der Regierung Assad. Allerdings wurden tiefgreifendere institutionelle Versäumnisse, darunter die Rolle hochrangiger Beamter bei der Ermöglichung oder Nichtverhinderung weit verbreiteter Übergriffe, nicht thematisiert.

Das Komitee stellte die Angriffe als Akte persönlicher Rache dar, aber seine eigenen Untersuchungsergebnisse und die der gemeinsamen Ermittlungen deuten auf eine umfassendere Kampagne kollektiver Bestrafung hin, die sich gegen alawitische Gemeinschaften richtete. Zahlreiche Videos und Zeugenaussagen, die von Forschenden geprüft und verifiziert wurden, zeigen, dass die Opfer vor ihrer Ermordung oft zu ihrer Identität befragt wurden und dass bewaffnete Gruppen bei ihren Überfällen anti-alawitische Beleidigungen benutzten.

Eine Bewohnerin von Brabshbo, einem Dorf im Süden von Latakia, berichtete, dass sie und ihr Mann am 8. März mit ihren drei Kindern zu Hause geblieben seien, nachdem ihnen lokale Beamte und Sicherheitskräfte versichert hatten, dass Zivilpersonen, die in ihren Häusern blieben, nichts passieren würde. Am Abend drangen bewaffnete Männer in ihr Haus ein, fragten sie, ob sie alawitisch seien, und als sie dies bejahten, führten sie ihren Mann nach draußen und erschossen ihn vor der Haustür. „Sie haben nicht nach seiner Arbeit oder irgendetwas anderem gefragt, sie haben ihn einfach erschossen“, sagte sie.

Einige mit dem Ministerium assoziierte Kämpfer gaben zu, dass Menschen allein aufgrund ihrer vermeintlichen Identität hingerichtet wurden. Ein Mitglied einer ehemaligen Fraktion der Syrischen Nationalarmee berichtete, dass bei Hausdurchsuchungen „Menschen allein deshalb getötet wurden, weil sie Alawiten waren.“

Human Rights Watch, Syrians for Truth and Justice und Syrian Archive wiesen ebenfalls darauf hin, dass der Ausschuss selbst eingeräumt hatte, dass die Sicherheitskräfte bereits vor März Verstöße begangen hatten. Die gemeinsame Untersuchung ergab, dass willkürliche Verhaftungen, Hausdurchsuchungen und identitätsbasierte Übergriffe in alawitischen Gemeinden bereits Wochen zuvor in Homs und im ländlichen Hama begonnen hatten. Die Übergriffe haben seither angedauert, darunter auch im Juli in der südlichen Provinz Sweida, wo örtliche drusische Bewohner*innen von Massenhinrichtungen, Plünderungen und Zerstörung von Eigentum während der jüngsten Sicherheitsoperationen durch Einheiten des Verteidigungs- und Innenministeriums berichtet haben.

Das Engagement des Komitees für die Zivilgesellschaft und internationale Akteure sowie sein erklärtes Bekenntnis zur Justiz stellen eine positive Entwicklung dar, so die Organisationen. Seine Empfehlungen für institutionelle Reformen, Übergangsjustizmaßnahmen, Wiedergutmachungen und die Zusammenführung bewaffneter Gruppen unter transparenten und nachvollziehbaren Strukturen sind konstruktive Vorschläge, die dringend umgesetzt werden müssen.

Allerdings hängt die Glaubwürdigkeit dieser Bemühungen von den nächsten Schritten ab, darunter öffentliche Transparenz und sinnvolle Rechenschaftslegung auf allen Ebenen.

Die syrischen Behörden sollten ihren vollständigen Untersuchungsbericht veröffentlichen, die Identität von Zeug*innen schützen und ein ordnungsgemäßes Verfahren für die Beschuldigten gewährleisten, so die Organisationen. Sie sollten sicherstellen, dass in Gerichtsverfahren nicht nur einzelne Straftaten, sondern auch die institutionelle Verantwortung untersucht werden.

Die Behörden sollten auch den Zugang zu internationalen Mechanismen der Rechenschaftspflicht, einschließlich der Vereinten Nationen, ermöglichen und Sicherheitsreformen durchführen, darunter die Prüfung von Kämpfern, die Ausmusterung missbräuchlicher Kämpfer und die Durchsetzung klarer Befehlsstrukturen und Verhaltenskodizes.

„Hier geht es nicht um eine einzelne Woche im März“, sagte Jelnar Ahmad, Programmmanager bei Syrian Archive. „Es ist ein Indikator für ein umfassenderes Muster, das strukturell und transparent angegangen werden muss.“

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