- In Hongkong ist die akademische Freiheit umfassend eingeschränkt worden, seitdem die chinesische Zentralregierung am 30. Juni 2020 ein drakonisches Sicherheitsgesetz für die Sonderverwaltungsregion Hongkong verabschiedet hat.
- Studierende und Lehrkräfte, die zuvor einen hohen Grad an akademischer Freiheit genossen hatten, müssen nun auf der Hut sein, damit sie nicht für ihre Lehre, Forschung und Veröffentlichungen bestraft werden, oder gar dafür, mit wem sie verkehren.
- Betroffene Regierungen und ausländische Universitäten, die Partnerschaften mit Universitäten in Hongkong unterhalten, sollten sich einerseits für die dort Studierenden oder Lehrenden einsetzen und andererseits prüfen, ob sie im Rahmen dieser Partnerschaften zu Menschenrechtsverletzungen beitragen.
(Taipeh) – In Hongkong ist die akademische Freiheit umfassend eingeschränkt worden, seitdem die chinesische Zentralregierung am 30. Juni 2020 ein drakonisches Sicherheitsgesetz für die Sonderverwaltungszone Hongkong verabschiedet hat, so Human Rights Watch und der Hong Kong Democracy Council in einem heute veröffentlichten Bericht.
Der 80-seitige Bericht, „‚We Can’t Write the Truth Anymore‘: Academic Freedom in Hong Kong Under the National Security Law“ (Wir dürfen nicht mehr die Wahrheit schreiben: die akademische Freiheit in Hongkong unter dem Nationalen Sicherheitsgesetz) dokumentiert, dass die seit Langem geschützten bürgerlichen Freiheiten, einschließlich des Rechts auf Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, an den acht öffentlich finanzierten Universitäten Hongkongs missachtet werden. Da der Alltag an diesen Universitäten immer repressiver wird, üben sich Studierende und Lehrkräfte in umfassender Selbstzensur, da sie befürchten, für das, was sie in den Lehrräumen und auf dem Campus sagen und tun, schikaniert, bestraft oder sogar verfolgt zu werden.
„Studierende und Lehrkräfte, die vorher einen hohen Grad an akademischer Freiheit genossen hatten, müssen nun auf der Hut sein, damit sie nicht für ihre Lehre, Forschung und Veröffentlichungen bestraft werden, oder gar dafür, mit wem sie verkehren“, sagte Maya Wang, stellvertretende China-Direktorin bei Human Rights Watch. „Die chinesische Regierung betrachtet die ideologische Kontrolle über Hongkongs Universitäten als oberste Priorität, und viele Studierende und Lehrkräfte befinden sich nun in der Schusslinie.“
Die Universitätsleitungen in Hongkong haben für die Durchsetzung repressiver Bestimmungen gesorgt. Universitätsverwaltungen haben die einst einflussreichen Studierendenvertretungen an allen acht Universitäten wiederholt schikaniert, so dass sie nicht länger effektiv als gewählte Vertreter*innen der Studentenschaft dienen können. Sie haben alle Anhänge von den sogenannten „Demokratie-Wänden“ entfernt, die als Nachrichtenwände fungierten, und Denkmäler vom Campus entfernt, die an das Tiananmen-Massaker der chinesischen Regierung von 1989 an pro-demokratischen Demonstrant*innen erinnern.
Universitätsverwaltungen haben Studierende, die an friedlichen Protesten und Versammlungen teilnahmen, bestraft, Publikationen, Mitteilungen und Veranstaltungen von Studierenden zensiert und das Sicherheitspersonal an den Universitäten damit beauftragt, Studierende im öffentlichen Raum zu überwachen. Keine der acht Universitäten reagierte innerhalb der angegebenen Frist auf E-Mails, in denen Human Rights Watch sie um eine entsprechende Stellungnahme bat.
Stattdessen basiert dieser Bericht auf Interviews mit Lehrkräften und Student*innen aller acht staatlich finanzierten Hongkonger Universitäten sowie auf Medienberichten in chinesischer und englischer Sprache.
Viele der befragten Dozent*innen und Studierenden gaben an, dass sie sich seit Inkrafttreten des Sicherheitsgesetzes im Juni 2020 regelmäßig selbst zensieren, wenn sie Artikel schreiben und veröffentlichen oder akademische Fördermittel beantragen, sowie sorgfältig abwägen, welche Redner*innen sie zu Konferenzen und Veranstaltungen einladen. Mehrere Wissenschaftler*innen berichteten von direkter Zensur ihrer wissenschaftlichen Artikel durch Universitätsverwaltungen und akademische Verlage. Eine Person sagte, seine Universität habe ihn bei der Hongkonger Polizei wegen eines Artikels angezeigt, in dem er über Kunstwerke geschrieben hatte, die während der Proteste 2019 entstanden waren.
Die von der chinesischen Regierung kontrollierten Zeitungen haben mehrere als pro-demokratisch geltende Akademiker*innen ins Visier genommen, sie eingeschüchtert, ihren Ruf durch Verleumdungskampagnen zerstört, ihre Privatsphäre verletzt und ihnen damit gedroht, dass sie verhaftet werden könnten. Die Einwanderungsbehörden in Hongkong haben ausländischen Wissenschaftler*innen Visa verweigert oder sich geweigert, bestehende Visa zu verlängern oder zu erneuern. Universitäten haben Dozent*innen, die sie als pro-demokratisch einstuften, entlassen, ihnen die Festanstellung verweigert oder die Verlängerung ihrer Verträge aus fadenscheinigen Gründen abgelehnt. Aus Angst um ihre Sicherheit und aus Sorge um das politische Umfeld in der Stadt haben einige Akademiker*innen stillschweigend gekündigt und die Stadt verlassen.
Das Sicherheitsgesetz wirkt sich in unterschiedlicher Weise auf Studierende und Dozent*innen aus, je nachdem, wer sie sind, welches Fach sie studieren, welchen Karrierestatus sie haben und wie die Behörden ihre Machtdynamik in Bezug auf die chinesische Regierung einschätzen. Diejenigen, die aus Hongkong stammen, die als pro-demokratisch gelten und diejenigen, deren Forschungsvorhaben schwerpunktmäßig soziopolitische Fragen rund um Hongkong und China behandeln, werden am stärksten unter Druck gesetzt.
Die Regierung von Hongkong sollte das chinesische Nationale Sicherheitsgesetz und das zweite verschärfte Sicherheitsgesetz, das sie im März 2024 verabschiedet hat (das Safeguarding National Security Ordinance, auf dt. Gesetz zur Gewährleistung der nationalen Sicherheit), unverzüglich aufheben. Sie sollte alle Menschen aus der Haft entlassen, die willkürlich inhaftiert wurden, weil sie friedlich ihre grundlegenden Menschenrechte wahrgenommen haben, so etwa die festgenommenen und inhaftierten Studierenden und Lehrkräfte.
Betroffene Regierungen und ausländische Universitäten, die Partnerschaften mit Universitäten in Hongkong unterhalten, sollten proaktiv Fälle von Zensur und Bedrohung der akademischen Freiheit an den Universitäten in Hongkong erfassen. Sie sollten sich für Personen einsetzen, die dort studieren oder lehren, wenn diese eingeschüchtert werden, und regelmäßig prüfen, ob sie sich im Rahmen ihrer Partnerschaft an Menschenrechtsverletzungen mitschuldig machen.
„Die Aushöhlung der akademischen Freiheit in Hongkong hat globale Auswirkungen, denn die Universitäten in Hongkong sind seit Langem ein wichtiges Fenster zu China und umgekehrt“, so Anna Kwok, Geschäftsführerin des Hong Kong Democracy Council. „Ausländische Regierungen und Universitäten, die mit Hongkonger Universitäten gemeinsame Programme durchführen, sollten dafür sorgen, dass ihre akademische Arbeit nicht durch den Angriff der chinesischen Regierung auf die akademische Freiheit manipuliert und kontrolliert wird.“
Ausgewählte Zitate:
Die Studentenvereinigung der Universität Hongkong ist seit Langem berüchtigt dafür, sich gegen China aufzulehnen und Chaos in Hongkong zu säen. Vor allem nach der Einführung des Nationalen Sicherheitsgesetzes […] ist die Studentenvereinigung immer noch entschlossen […] mit aller Raffinesse reaktionäre Ideen zu verbreiten, um mehr Studenten an Bord des Piratenschiffs zu locken und die Universitäten zu Komplizen dieses verbrecherischen Vehikels zu machen […]. Diese Leute sind keine Studenten, sondern Verbrecher, die sich auf dem Campus verstecken.
–Leitartikel der People’s Daily, „Den bösartigen Tumor der Studentenvereinigung der HKU entfernen, um den Frieden auf dem Campus wiederherzustellen“, 19. April 2021
Die Universität und der Dekan […] haben die akademische Freiheit sehr eng definiert, und mir wurde gesagt, dass ich im Grunde alles unterrichten kann, was ich will, solange es die Studenten nicht dazu ermutigt, danach zu handeln […]. [N]un, wenn ich, sagen wir, etwas zum Thema Demokratie unterrichte, wie soll ich dann wissen, ob sie in die Öffentlichkeit gehen und Kunstwerke posten oder versuchen, sich zu versammeln? […] Sobald Studenten das in den Lehrräumen Erlernte in die Tat umsetzen, sind wir potenziell in Gefahr, weil wir sie potenziell dazu anstiften, gegen Gesetze zu verstoßen.
–Akademiker „F“, 28. Oktober 2022
Seitdem die Hotline für die Meldung von Verstößen gegen das Sicherheitsgesetz [eingerichtet wurde], macht sich jeder Sorgen: Wird es irgendwelche Konsequenzen [für mich] haben, wenn ich einen Studenten durchfallen lasse oder ihm schlechte Noten gebe, weil die Hausarbeiten nicht den Anforderungen genügen? Früher konnten Studenten den üblichen Weg gehen, wie z. B. Einspruch gegen ihre Noten einlegen oder uns schlechte Unterrichtsbewertungen hinterlassen, aber seit Einführung der Hotline fragen sich alle: Wenn ich einen Studenten durchfallen lasse, wird er uns dann bei der Hotline melden?
–Dozentin „T“, 17. Mai 2024
Kurz vor Redaktionsschluss erklärte mir die Redakteurin, dass sie ihn [meinen Artikel] nicht veröffentlichen könne, weil der Schulleiter ihr mitgeteilt habe, dass das jetzt zu gefährlich sei. Sie wolle die Redaktion nicht in Gefahr bringen. Und später erzählte mir [der Schulleiter], dass er jeden Tag […] E-Mails und Nachrichten vom Verbindungsbüro [Hong Kong Liaison Office] erhalte […] offenbar wurde mein Artikel auf Druck des Verbindungsbüros der Zentralregierung in Hongkong nicht veröffentlicht.
–Akademiker „A“, 23. Oktober 2022
[Die Verwaltung] muss nicht das Büro für nationale Sicherheit einschalten, um dich zu schikanieren. Sie müssen auch nicht rechtlich gegen dich vorgehen. Stattdessen nennen sie einfach die Namen der Leute in den parteinahen Medien. […]. [E]s gab eine Reihe von Leitartikeln, in denen mehrere Akademiker direkt namentlich kritisiert wurden […] und die mehrere Universitäten betrafen […] und sie alle kündigten nach sehr kurzer Zeit. Ich kannte einige von ihnen: Sie sind gegangen, weil es ein sehr schwerer Schlag war. Denn man weiß nicht, ob sie das später wieder aufgreifen und gegen einen vorgehen […]. [Damit] wird eine gewisse Atmosphäre geschaffen […]. Bekommst du Ärger, wenn du bleibst? Vielleicht ging es diesmal nicht um mich, aber bin ich dann der Nächste? […] Hattest du Angst, bist du gegangen, und wenn du nicht gegangen bist, dann haben sie eine Schranke [zur Selbstzensur] in deinem Kopf errichtet, weil du nicht der Nächste sein willst.
–Akademiker „L“, 3. November 2022