Vor knapp zwei Jahren ergriff Bundeskanzlerin Angela Merkel die Initiative zur Lösung der Libyen-Krise. Das Ergebnis war der sogenannte „Berliner Prozess“, in dem Deutschland als weitgehend neutraler Akteur aufgetreten ist - eine gute Ausgangslage, um in politischen Gesprächen zu vermitteln.
Am 23. Juni wird Deutschland nun Gastgeber der zweiten Berliner Libyen-Konferenz sein. Diese folgt auf ein Waffenstillstandsabkommen, das im vergangenen Oktober von den Konfliktparteien unterzeichnet wurde. Im Vordergrund der Konferenz stehen sollen „die Vorbereitungen der für den 24. Dezember angesetzten nationalen Wahlen und der im Waffenstillstand vereinbarte Abzug der ausländischen Truppen und Söldner aus Libyen“. Auch wird es um „Schritte zur Vereinigung der libyschen Sicherheitskräfte gehen“, so Außenminister Heiko Maas und UN-Generalsekretär Antonio Guterres, die gemeinsamen Gastgeber der Konferenz.
Deutschland sollte diese zweite Konferenz aber auch dazu nutzen, systematische und schwere Menschenrechtsverletzungen durch bewaffnete libysche Gruppen und die Regierungsbehörden anzusprechen, und öffentlich Rechenschaftspflicht einfordern. Es wird erwartet, dass die Staaten, die am ersten Berliner Treffen im Januar 2020 teilgenommen haben, darunter die USA, mehrere EU-Mitgliedstaaten, Russland, die Türkei und die VAE, auch dieses Mal, neben der derzeitigen libyschen Übergangsregierung der Nationalen Einheit (GNU), mit am Tisch sitzen werden.
Nach Abschluss der ersten Konferenz im Jahr 2020 haben Deutschland und die anderen Teilnehmer eine Arbeitsgruppe für Menschenrechte gebildet und sich dazu verpflichtet, alle Parteien zur Achtung des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte anzuhalten. Bislang haben Gerechtigkeit und Rechenschaftspflicht jedoch offensichtlich keine Priorität gehabt. Die libyschen Behörden haben die Schlussfolgerungen der Konferenz zu den Menschenrechten, die unter anderem die Gewährleistung rechtsstaatlicher Verfahren, die Beendigung willkürlicher Inhaftierung und die Rechenschaftspflicht für schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen vorsahen, praktisch ignoriert.
Die Kämpfe in Libyen endeten im vergangenen Juni nach einem 14-monatigen Konflikt zwischen bewaffneten Gruppen, welche die ehemalige libysche Regierung der Nationalen Eintracht in Tripolis unterstützten, und der im Osten Libyens ansässigen bewaffneten Gruppe, die als libysche-arabische Streitkräfte bekannt ist. Die Waffenruhe wurde weitgehend eingehalten und aus den von den Vereinten Nationen vermittelten Beratungen zwischen den libyschen Fraktionen und Experten, bekannt als Libya Political Dialogue Forum, ging schließlich die GNU hervor.
Sie führte im März zu einer schnellen und gewaltfreien Übernahme der ehemaligen Regierung der nationalen Eintracht in Tripolis und dem Zusammenschluss mit der Übergangsregierung im Osten Libyens. Ausländische diplomatische Vertretungen, darunter die der Europäische Union, kündigten in den letzten Wochen die Wiedereröffnung von Botschaften in Tripolis an. Ausländische Amts- und Würdenträger - Außenminister Maas war einer der ersten - haben Tripolis besucht, seit die GNU am 15. März vom Repräsentantenhaus vereidigt wurde.
Die libyschen Behörden sind jedoch nach wie vor von bewaffneten Gruppen abhängig, und die politische Situation bleibt fragil, ebenso wie der aktuelle Waffenstillstand. Noch riskanter wird die Lage durch die anhaltende Beteiligung dritter Staaten wie der Türkei und Russland an der Bewaffnung libyscher Gruppierungen und der Bereitstellung ausländischer Kämpfer. Es wird schwierig, die Verantwortlichen für schwere Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen, solange die für Recht und Ordnung verantwortlichen Behörden immer noch auf die Loyalität von nicht rechenschaftspflichtigen Milizen und bewaffneten Gruppen angewiesen sind.
Neben anderen Themen auf der Tagesordnung der Konferenz wird vor allem die Vereinheitlichung der libyschen Streitkräfte ein strittiger Punkt werden, insbesondere angesichts der unklaren Rolle des Kommandeurs der libysch-arabischen Streitkräfte, Khalifa Hiftar. Die Zusammenlegung bestehender bewaffneter Gruppen zu einer einheitlichen staatlichen Truppe wird eine sorgfältige Überprüfung ihrer Mitglieder auf mögliche Verwicklungen in schwere Menschenrechtsverletzungen während des letzten Jahrzehnts erfordern - keine leichte Aufgabe. Deutschland und die anderen Teilnehmer sollten Standards und Mechanismen einführen, um sicherzustellen, dass niemand einer zukünftigen staatlichen Truppe beitritt, wenn er unrechtmäßig Menschen getötet, gefoltert, verschleppt oder willkürlich inhaftiert hat bzw. menschenrechtsverletzende Kräfte befehligt und nichts getan hat, um diese zur Rechenschaft zu ziehen.
Bezüglich der nationalen Wahlen gibt es noch keine Entscheidungen über die Rechtsgrundlage und die Reihenfolge der Wahl eines neuen Parlaments und des zukünftigen Präsidenten, oder zumindest darüber, ob der Präsident direkt oder indirekt durch das Parlament gewählt wird. Die Regierung hat noch kein Referendum über einen Verfassungsentwurf angesetzt, der von einer gewählten Versammlung zur Ausarbeitung einer Verfassung im Jahr 2017 erstellt wurde. Angesichts der Einwände verschiedener politischer Gruppierungen und ethnischer Minderheiten ist unklar, ob das Referendum stattfinden wird und ob es vor den nationalen Wahlen abgehalten werden soll.
Es scheint heute unwahrscheinlich, dass die Regierung der nationalen Einheit die für die Durchführung freier und fairer Wahlen notwendigen Bedingungen schaffen kann. Wenn es der Regierung ernst damit ist, ihren Hauptauftrag zu erfüllen und nationale Wahlen zu organisieren, dann muss sie einen klaren Fahrplan vorlegen und sich dringend öffentlich dazu verpflichten, Rechtsstaatlichkeit, Gerechtigkeit und Rechenschaftspflicht zu gewährleisten. Deutschland und die anderen Konferenzteilnehmer können hier Orientierung bieten, sollten aber auch von der libyschen Regierung entsprechende Kontrollmechanismen verlangen.
Zu den wichtigsten praktischen Fragen, die im Vorfeld der Wahlen gelöst werden müssen, gehört die Sicherstellung der Registrierung einer größtmöglichen Anzahl von wahlberechtigten Libyern innerhalb und außerhalb des Landes, einschließlich zehntausender Binnenvertriebener, tausender willkürlich und ohne Gerichtsverfahren festgehaltener Langzeitinhaftierter und hunderttausender Libyer, die sich im Ausland aufhalten. Die Hohe Wahlkommission, die für die Planung und Durchführung der Wahlen verantwortlich ist, sollte im Vorfeld eine unabhängige Prüfung des Wählerverzeichnisses in Auftrag geben und umgehend einen angemessenen Sicherheitsplan vorlegen. Die Wahlorganisatoren müssen sicherstellen, dass unabhängige Beobachter auch abgelegene Wahllokale sicher erreichen können.
Ein funktionierendes Justizsystem, das in der Lage ist, Streitigkeiten im Zusammenhang mit Wahlen schnell und fair zu lösen, ist ein Merkmal freier und fairer Wahlen, aber das libysche Justizsystem steht vor enormen Herausforderungen, darunter Schikanen und Angriffe auf Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte, Zeugen und Angeklagte durch bewaffnete Gruppen.
Eine Appeasement-Politik und das Wegschauen bei Menschenrechtsverletzungen, die von libyschen Gruppierungen und ausländischen Gruppen, die sie unterstützen, begangen werden, sind seit 2015 fester Bestandteil der politischen Vereinbarungen in Libyen und kennzeichnen auch die erste Berliner Konferenz. Das muss sich ändern. Andernfalls besteht die Gefahr, dass es sich nur um ein Lippenbekenntnis zu den Menschenrechten handelt und die Stabilität im Land letztlich nicht nachhaltig sein wird. Deutschland und die anderen Teilnehmer werden nicht alle Probleme Libyens auf einmal lösen können. Aber die Menschen in Libyen haben ein Recht darauf, dass der weit verbreiteten Straflosigkeit, die bislang herrscht, ein Ende gesetzt wird.