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Vor dem Büro des Gouverneurs des Bundestaats New York Andrew Cuomo finden Demonstrationen gegen ein Gesetz statt, das dem Bundestaat Investionen in Firmen verbietet, die den Boykott Israels unterstützen, New York City, 9. Juni 2016. © 2016 Mark Apollo/Pacific Press/LightRocket via Getty Images

Der Antisemitismus wird zu einer immer größeren Gefahr in Europa. Inmitten eines alarmierenden Anstiegs der Zahl gewalttätiger Angriffe auf Juden in Frankreich, darunter auch mehrere Morde, haben etliche Juden beschlossen, Frankreich in Richtung Israel zu verlassen. Jüdische Teenager in Deutschland, die genug von den Angriffen und Beschimpfungen haben, folgen diesem Beispiel. Ähnliche Entwicklungen sehen wir in Großbritannien, wo jeder dritte Jude sagt, er denke wegen des wachsenden Antisemitismus darüber nach auszuwandern.

Vielen Europäern mag der Judenhass der 30er und 40er Jahre eine Ewigkeit her erscheinen. Für Juden, vor allem in Deutschland, sind das Trauma und die kollektive Erinnerung jedoch nicht verblasst. 

Regierungen wie auch in Deutschland sorgen sich zu Recht über den wie ein Krebsgeschwür wuchernden Antisemitismus. Aber der gemeinsame Antrag im Bundestag von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis90/Die Grünen, der vor kurzem im Bundestag verabschiedet wurde und Boykotte Israels als antisemitisch darstellt, ist der falsche Weg, um Antisemitismus zu bekämpfen. Die Bundesregierung sollte ihn deshalb zurückweisen. 

Es besteht kein Zweifel daran, dass es  Antisemiten gibt, die Begriffe „Israel“ oder „Zionist“ mittlerweile mit dem Begriff „Juden“ gleichsetzen. Das sollte offen angesprochen werden. Aber es ist genauso wahr, dass legitime Kritik an israelischen Staatshandlungen manchmal falsch als antisemitisch gedeutet wird. 

Anti-Boykott-Maßnahmen, von den USA bis Israel, haben sich oft gegen Menschen gerichtet, die besorgt sind angesichts der Menschenrechtsverletzungen in illegalen Siedlungen im von Israel besetzten Westjordanland. 27 US-Bundesstaaten haben Gesetze oder Verordnungen verabschiedet, die Unternehmen, Organisationen oder Einzelpersonen bestrafen, wenn sie sich an Boykotten Israels beteiligen oder zu solchen aufrufen. Recherchen von Human Rights Watch haben ergeben, dass viele US-Bundesstaaten diese Gesetze anwenden, um Unternehmen zu bestrafen, die keine Geschäfte mit illegalen Siedlungen im Westjordanland machen wollen.

New York zum Beispiel hat eine Liste von elf Unternehmen veröffentlicht, in die der Bundesstaat gemäß einer Anordnung von Gouverneur Andrew Cuomo aus dem Jahr 2016 nicht investieren darf. Die Liste enthält auch Unternehmen, die lediglich die

Geschäftsbeziehungen zu den Siedlungen abgebrochen haben. So stellte etwa die britische Co-operative Group, die Lebensmittel verkauft, die Geschäfte mit Lieferanten ein, die bekanntermaßen Produkte aus Siedlungen beziehen. Gleichzeitig wurde jedoch bekannt gegeben, man sei weiterhin entschlossen, Produkte von israelischen Lieferanten abzunehmen und mit diesen zu handeln, wenn diese keine Waren aus den Siedlungen beziehen. Ein anderes Unternehmen, die luxemburgische Supermarktkette Cactus, setzte den Handel israelischer Produkte aus, bis die entsprechenden Lieferanten den Nachweis erbrachten, dass ihre Waren nicht aus den Siedlungen stammen. Gleichzeitig würden jedoch weiterhin andere

israelische Importe angeboten, so eine Mitteilung einer Aktivistengruppe nach Verhandlungen mit dem Unternehmen.

Human Rights Watch lehnt jegliche Form von Antisemitismus ab, ist nicht Teil der BDS-Bewegung und ergreift keine Partei bezüglich des Boykotts Israels. Unsere jahrelangen Recherchen haben jedoch gezeigt, dass es nicht möglich ist, in den Siedlungen Geschäfte zu machen, ohne zu Menschenrechtsverletzungen und Verstößen gegen humanitäres Völkerrecht beizutragen oder von solchen zu profitieren. Unternehmen können ihren Verpflichtungen aus den UN-Leitsätzen für Wirtschaft und Menschenrechte nur nachkommen, wenn sie ihre Tätigkeit in den Siedlungen einstellen. Anti-Boykott-Gesetze bestrafen Unternehmen, die solche Maßnahmen im Einklang mit ihrer internationalen rechtlichen Verantwortung und der Position Deutschlands und der Europäischen Union zu den Siedlungen ergreifen. 

Die israelische Regierung hat ihre eigene Anti-Boykott-Gesetzgebung. Vor einem Jahr nutzten die Behörden eine Änderung des Einreisegesetzes aus dem Jahr 2017, durch die die Einreise für diejenigen verboten wurde, die Boykotte gegen Israel fordern, um das Arbeitsvisum meines Kollegen von Human Rights Watch, Omar Shakir, zu widerrufen. Als wir den Abschiebungsbeschluss vor Gericht anfochten, verwies die Regierung auf seine Arbeit für unsere Recherchen über Unternehmensaktivitäten, wie etwa von Airbnb, in den Siedlungen. Zudem wies die israelische Regierung auf unsere Empfehlungen hin, wonach diese Unternehmen derartige Aktivitäten einstellen sollten, da dadurch die Rechte der Palästinenser verletzt würden. Im vergangenen Monat bestätigte ein israelisches Gericht den Abschiebungsbefehl und behauptete, dass unsere Recherchen zu Geschäften in den Siedlungen einen Aufruf zum Boykott Israels darstellen. Wir haben beim Obersten Gerichtshof Israels Berufung eingelegt.

Gemäß internationalen Menschenrechtsstandards hat jeder Mensch das Recht, seine Ansichten mit gewaltfreien Mitteln zum Ausdruck zu bringen, so abscheulich man diese auch finden mag. Zu diesen Mitteln gehört auch die Teilnahme an Boykotten. Die Behörden dürfen zwar die öffentliche Rede einschränken, jedoch nur unter sehr eng gefassten und strengen Bedingungen. 

David Kaye, der UN-Sonderberichterstatter für Meinungs- und Ausdrucksfreiheit, hat erklärt, dass „Boykott.... seit langem als legitime Form der Meinungsäußerung verstanden wird, die durch Artikel 19 Absatz 2 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) geschützt ist“. In einer Prüfung der Anti-Boykott-Gesetze in den USA kam Kaye zu dem Schluss, dass diese Gesetzgebung „eindeutig auf die Bekämpfung der politischen Meinungsäußerung abzielt“. Zudem erfüllten „wirtschaftliche Sanktionen, die darauf abzielen, einen bestimmten politischen Standpunkt zu unterdrücken“, nicht die Bedingungen des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte, die für zulässige Einschränkungen der freien Meinungsäußerung gelten. 

In Deutschland ruft der Begriff „Boykott“ Erinnerungen an den Boykott jüdischer Geschäfte in den 30er Jahren hervor. Dieses dunkelste Kapitel deutscher Geschichte mit dem Boykott Israels wegen dessen Menschenrechtsverletzungen gleichzusetzen, würde jedoch bedeuten, unsere Geschichte zu banalisieren. Aktivisten weltweit nutzen Boykotte, um Menschenrechtsverletzungen anzufechten und politischen Wandel voranzutreiben. Boykotte spielten eine Schlüsselrolle im Kampf der USA für die Rechte afroamerikanischer Bürger, ebenso wie in internationalen Kampagnen gegen die Apartheid in Südafrika und Gräueltaten in Darfur.

Anstatt die Anti-Boykott-Maßnahmen voranzutreiben, welche die freie Meinungsäußerung einschränken und auf diejenigen abzielen sollen, die sich für die Menschenrechte einsetzen, sollten deutsche Behörden den wieder auflebenden Antisemitismus bekämpfen, indem sie Bedrohungen und Gewalt gegen Juden und andere Minderheiten untersuchen und bestrafen, intolerante Reden von Politikern der extremen Rechten verurteilen und die Menschen über die Gefahren von ungezügeltem Hass aufklären. Die Beamten könnten zum Beispiel auch damit beginnen, die antisemitischen Mobbingfälle an unseren Schulen anzugehen. Solche Maßnahmen wären sehr viel erfolgversprechender als die Einschränkung der freien Rede, die letztendlich nichts zur Bekämpfung des Hasses beitragen wird. 

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