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Griechenland: Flüchtlinge mit Behinderungen übersehen und unterversorgt

Menschen mit Behinderungen müssen identifiziert und Unterstützung gewährleistet werden

"Der 8-jährige Ali vor einem provisorischen Schutzraum im Camp Elliniko in Athen, wo er mit seinen Eltern, Geschwistern und mehr als 3.000 weiteren Asylsuchenden und Migranten im Oktober 2016 lebte." Foto von Emina Cerimovic.

(Brüssel, 18. Januar 2017) – Flüchtlinge, Asylsuchende und andere Migranten mit Behinderungen werden in griechischen Aufnahmeeinrichtungen nicht angemessen identifiziert und haben daher keinen gleichen Zugang zur Grundversorgung, so Human Rights Watch. Gemeinsam mit Tausenden anderen Migranten und Asylsuchenden sind sie eisigen Temperaturen schutzlos ausgeliefert.

Die Europäische Union hat der griechischen Regierung, den Vereinten Nationen (UN) und Nichtregierungsorganisationen erhebliche Mittel zur Verfügung gestellt, um Einrichtungen auf den griechischen Inseln in der Ägäis zu betreiben, die als „Hotspots“ bezeichnet werden, sowie Lager auf dem Festland. Aber für Asylsuchende und andere Migranten mit Behinderungen ist es besonders schwer, Zugang zur Grundversorgung – zu Unterkünften, sanitären Einrichtungen und Gesundheitsversorgung – zu erhalten. Wie andere besonders verletzliche Migranten können auch sie nur selten eine psychische Gesundheitsfürsorge in Anspruch nehmen. Zum Beispiel konnte eine ältere Frau, die einen Rollstuhl nutzt, seit einem Monat nicht mehr duschen.

 

„Menschen mit Behinderungen werden bei der Grundversorgung übersehen, obwohl sie zu den verletzlichsten Asylsuchenden und Migranten zählen“, so Shantha Rau Barriga, Leiterin der Abteilung Rechte von Menschen mit Behinderungen von Human Rights Watch. „Die griechischen Behörden, die EU, die UN und Hilfsorganisationen sollen sicherstellen, dass Menschen mit Behinderungen nicht durch das Netz fallen.“

 

Die Flüchtlingsagentur der UN (UNHCR), acht internationale Hilfsorganisationen und eine örtliche Gruppe, die in griechischen Flüchtlingszentren arbeiten, geben alle an, dass sie wenige oder keine Programme haben, die gezielt auf die Rechte und Bedürfnisse von Asylsuchenden, Flüchtlingen und anderen Migranten mit Behinderungen eingehen.

 

Wegen des hochproblematisches ‚Deals‘ zur Rückführung von Menschen aus der EU in die Türkei, Grenzschließungen entlang der Balkan-Route, Missmanagement und der mangelnden Zusammenarbeit der EU-Regierungen sitzen etwa 62.700 Asylsuchende und andere Migranten in Griechenland fest. Angaben EU-Kommission zufolge wurden bis zum 12. Januar 2017 gerade einmal 7.448 Personen im Rahmen des EU-Umsiedlungsmechanismus verteilt oder sollen in Kürze umverteilt werden – das sind etwa 12 Prozent der 66.400, die im Jahr 2015 zugesagt wurden. Diejenigen, die in Griechenland bleiben müssen, leben unter erbärmlichen und instabilen Bedingungen, ohne Zugang zu angemessener Versorgung und Unterkünften. Tausende Flüchtlinge leben überall in Griechenland im strengen Winter, bei Temperaturen von -14 Grad, in einfachen Zelten. Diejenigen, die eine Behinderung haben, gehören zu dem am stärksten gefährdeten Personen.

 

Aus Untersuchungen auf dem griechischen Festland und den Inseln im Oktober 2016 und Januar 2017 sowie Telefoninterviews im Dezember 2016 und Januar 2017 geht hervor, dass Asylsuchende und Flüchtlinge mit Behinderungen nicht ordentlich identifiziert werden, zum Teil wegen beschleunigter Registrierungsverfahren und unzureichend instruierter Mitarbeiter. Da ihnen Angaben über die Zahl und Bedürfnisse der Menschen fehlen, können Hilfsorganisationen nicht angemessen reagieren.

Yasami und Ali Habibi aus Afghanistan, ihre 6-jährigen Zwillinge, ihr 2-jähriger Sohn sowie Alis 14-jähriger Bruder lebten alle in diesem Zelt im Camp Eiliniko in Athen, als Human Rights Watch im Oktober 2016 mit ihnen sprach. Ihr 6-jähriger Sohn hat eine Lern- und Gehbehinderung. Foto von Emina Cerminovic

Die von Asylsuchenden und Migranten dringend benötigte, psychische Gesundheitsfürsorge ist ebenfalls völlig unzureichend. Die Hälfte der 40 von Human Rights Watch befragten Migranten gab an, dass sie selbst oder Familienangehörige in Folge der Gewalt in ihren Heimatländern, ihrer gefährlichen Reise, der Trennung von Familien oder der Ungewissheit und Unsicherheit in den Lagern traumatisiert sind, unter Angststörungen oder Depressionen leiden.

 

„Amra“, eine 19-jährige Frau aus Afghanistan, berichtete, dass sie im Kara Tepe-Lager auf Lesbos darum gebeten hatte, mit einem Arzt über ihre Selbstmordgedanken zu sprechen. „Ich will mir nichts antun, ich kämpfe“, sagte sie. Eine Hilfsorganisation, die im Lager arbeitet, beriet sie zweimal, sagte ihr dann aber, dass sie ihr nicht weiterhelfen könne. Nach dem Besuch von Human Rights Watch konnte sie ein paar Mal zu einem Psychologen gehen.

 

Seit 2015 stellte die Europäische Kommission der griechischen Regierung über 125 Millionen Euro zur Verfügung, fast 370 Millionen Euro gingen an Hilfsorganisationen und internationale Organisationen der Flüchtlingshilfe, darunter an UNHCR. Die griechische Regierung und UNHCR stehen in der Kritik, weil sie die EU-Gelder nicht genutzt haben, um die Bedingungen in den Lagern vor Wintereinbruch angemessen zu verbessern, so dass nun Tausende bei Minustemperaturen schlafen.

 

UNHCR und die griechische Regierung sollen gewährleisten, dass die Mittel allen Flüchtlingen gleichermaßen zugutekommen, auch Menschen mit Behinderungen. Die EU soll von den Partnern, die Projekte implementieren, Informationen einfordern und sicherstellen, dass die von ihr geförderten Programme auch tatsächlich Menschen mit Behinderungen und andere verletzliche Gruppen erreichen. Die EU und ihre Mitgliedstaaten sollen ihre Bemühungen intensivieren und Griechenland, das auch mit wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen hat, zusätzliche Ressourcen zur Verfügung stellen. Außerdem sollen sie gewährleisten, dass die Hilfe gleichmäßig auf alle Lager verteilt wird.

 

Die griechischen Behörden, mit Unterstützung anderer EU-Mitgliedstaaten, sowie UNHCR und andere Organisationen sollen unverzüglich sicherstellen, dass Menschen mit Behinderungen und weitere Risikogruppen, auch Kinder, gleichen Zugang zu Grundversorgung in Flüchtlingszentren und -lagern haben, etwa zu Wasser und sanitären Einrichtungen, Nahrungsmitteln, Unterkunft und Gesundheitsfürsorge, einschließlich psychischer Gesundheitsfürsorge und psychosozialer Unterstützung. Wenn Behörden und Organisationen das nicht tun, so ist dies diskriminierend und verletzt sowohl das UN-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen als auch EU-Recht.

 

UNHCR und die griechische Regierung sollen ihren Mitarbeitern vor Ort klare Richtlinien zur Identifikation und Registrierung von Menschen mit Behinderungen zur Verfügung stellen und dabei Behinderungen berücksichtigen, die nicht sichtbar sind, etwa geistige Behinderungen oder psychische Erkrankungen. Mitarbeiter der Aufnahme- und Identifikationsdienste und Beamte, die Asylverfahren durchführen, sollen darin ausgebildet werden, Menschen mit Behinderungen zu identifizieren, angemessen auf ihre Bedürfnisse zu reagieren und ihnen während des gesamten Verfahrens Zugang zu Unterstützung zu ermöglichen. Flüchtlinge, Asylsuchende und Migranten mit Behinderungen sollen in diese Maßnahmen einbezogen und konsultiert werden.

 

Angesichts der aktuellen Witterungsbedingungen soll die griechische Regierung mit Unterstützung von UNHCR unverzüglich und mit Priorität alle Menschen mit Behinderungen und Angehörige anderer Risikogruppen wie schwangere Frauen, Kinder und ältere Menschen, die noch in Zelten leben, in beheizten Wohneinheiten mit Warmwasserversorgung unterbringen. Alle, die zurzeit in Zelten leben, sollen so bald wie möglich angemessen untergebracht werden.

 

Auf lange Sicht sollen die griechischen Behörden mit Unterstützung der EU und UNHCR die Lager-Unterbringung für alle Migranten abschaffen und gemeindenahe Unterkünfte zur Verfügung stellen. Das Leben in Lagern kann die Traumata von Flucht und Vertreibung sowie andere Gefahren verschärfen, darunter tätliche und sexualisierte Gewalt und Gesundheitsrisiken.

 

„Angaben der UN zufolge hat ein Siebtel der Weltbevölkerung eine Behinderung. Aber die UN und andere übersehen Menschen mit Behinderung, wenn sie auf eine humanitäre Krise reagieren“, so Barriga. „Die katastrophale Situation von Asylsuchenden und Migranten mit Behinderungen in Griechenland ist ein Weckruf. Die UN und die EU müssen diese Probleme ernst nehmen.“

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