(Bangkok, 16. September 2014) – Die Polizei in Vietnam misshandelt Personen, die sie in Gewahrsam nimmt. In einigen Fällen werden die Opfer dabei getötet, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Die vietnamesische Regierung soll unverzüglich handeln und den verdächtigen Todesfällen in Polizeigewahrsam ebenso wie der Folter von inhaftierten Personen durch Polizeibeamte ein Ende setzen.
Im Fokus des 96-seitigen Berichts „Public Insecurity: Deaths in Custody and Police Brutality in Vietnam” stehen Fälle von Polzeigewalt, bei denen Menschen, die sich zwischen August 2010 und Juli 2014 in Polizeigewahrsam befanden, zu Tode kamen oder schwere Verletzungen davontrugen. Human Rights Watch dokumentierte derartige Menschenrechtsverletzungen in 44 der 58 Provinzen in verschiedenen Teilen Vietnams sowie in allen fünf Großstädten des Landes.
„In jeder Region in Vietnam wurden Menschen in Gewahrsam von Polizisten misshandelt”, so Phil Robertson, stellvertretender Asien-Direktor von Human Rights Watch. „Die Regierung in Vietnam ist mit einer Menschenrechtskrise konfrontiert und soll die Fälle untersuchen sowie die verantwortlichen Polizisten zur Rechenschaft ziehen.“
Der Bericht beruft sich auf durch Human Rights Watch untersuchte Fälle von Polizeigewalt, über die in vietnamesischen Zeitungen, die von der Regierung kontrolliert werden, berichtet wurde . Ebenso wird Bezug genommen auf Berichte von unabhängigen Bloggern, Bürgerjournalisten und ausländischen Nachrichtenagenturen. Einige hiervon werden in dem Human Rights Watch-Bericht zum ersten Mal in englischer Sprache veröffentlicht. Human Rights Watch recherchierte für diesen Bericht auch in Vietnam, entschied aber, vor Ort keine Interviews mit Opfern und Zeugen zu führen, da diese dadurch der Gefahr von Vergeltungsmaßnahmen ausgesetzt worden wären.
In vielen Fällen wurden die Menschen, die in Polizeigewahrsam zu Tode kamen, wegen geringer Vergehen festgenommen. In einem Fall, der sich im August 2012 zutrug, wurde Nguyen Mau Thuan von Polizisten zu Tode geprügelt, nachdem er drei Stunden zuvor wegen eines harmlosen Nachbarschaftsstreits festgenommen worden war. Im August 2010 starb Le Phuc Hung in der Provinz Gia Lai in Polizeigewahrsam, nachdem Polzisten ihn verprügelt und mit Tränengas malträtiert hatten.
Die Polizei nannte häufig sehr unglaubwürdige Ursachen für die Todesfälle. Somit wurde der Eindruck erweckt, dass die wahren Umstände systematisch vertuscht werden sollten. Die Polizei behauptete, dass Dutzende von ansonsten geistig und körperlich gesunden Personen Selbstmord durch Erhängen oder auf andere Art begangen hätten. In anderen Fällen wurde nur eine vage und nicht überzeugende Erklärung abgegeben, wie etwa im Fall von Nguyen Van Duc in der Provinz Vinh Long. Laut des Autopsieberichts starb Nguyen Van Duc an einem Hämatom im Gehirn und an anderen Verletzungen. Die Polizei führte diese Verletzungen darauf zurück, dass Ärzte ihn bei der Notfallbehandlung „zu hart angepackt” hätten. Eine überraschend große Zahl an Personen, von denen viele jung, gesund und zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt waren, starb in Polizeigewahrsam angeblich aufgrund medizinischer Probleme. Auch Verletzungen in Polizeigewahrsam werden regelmäßig im ganzen Land gemeldet.
Einige Überlebende gaben an, geschlagen worden zu sein, um Geständnisse von ihnen zu erpressen, manchmal auch für Verbrechen, die sie nach ihren Angaben gar nicht begangen hatten. Im Juli 2013 schlugen Polizeibeamte in der Provinz Soc Trang sechs Männer und zwangen sie dazu, einen Mord zu gestehen. Andere sagten, sie seien geschlagen worden, weil sie Polizeibeamte kritisiert oder versucht hatten, mit ihnen zu diskutieren. Unter den Opfern von Polizeigewalt waren auch Kinder und Menschen mit geistiger Behinderung.
Von diesen Vorfällen wurde in den lokalen Medien nur unregelmäßig berichtet, was Anlass zur ernsten Sorge über die negativen Auswirkungen der Kontrolle der Regierung über die Medien gab. In einigen Fällen wurde ausführlich und detailliert berichtet und es wurden Widersprüche zwischen den Polizeiberichten und dem polizeilichen Fehlverhalten herausgestellt, so beispielsweise im Fall von Nguyen Cong Nhut, der sich im April 2011 in der Provinz Binh Duong angeblich in Polizeigewahrsam das Leben genommen hatte. Auf der anderen Seite wurde über andere gravierende Fälle gar nicht berichtet, wie etwa über den Tod von Hoang Van Ngai, einem Angehörigen der Volksgruppe der Hmong. Hoang Van Ngai starb im März 2013 in der Provinz Dak Kong. Journalisten berichteten, dass sie in mehreren Fällen von den lokalen Behörden daran gehindert wurden, Interviews mit den Familien der Opfer zu führen.
„Die Regierung in Vietnam soll den Medien erlauben, ihre Arbeit zu tun und in Fällen von Menschenrechtsverletzungen zu recherchieren und darüber zu berichten”, so Robertson. „Ein unabhängiger Journalismus könnte dabei helfen, Fälle von Misshandlungen aufzudecken, die andernfalls einfach unter den Teppich gekehrt würden.“
Polizeibeamten, die für schwere, oft tödliche Übergriffe verantwortlich sind, drohen nur selten ernsthafte Konsequenzen. In vielen Fällen, in denen Misshandlungen offiziell eingeräumt werden, drohen den Polizeibeamten nur einfache interne Disziplinarmaßnahmen, so etwa eine Rüge oder eine Verwarnung. Nur selten kommt es zu einer Degradierung, Versetzung oder einer Entlassung der betroffenen Polizeibeamten. Noch seltener kommt es zu einer strafrechtlichen Verfolgung und einer Verurteilung. Selbst wenn die Verantwortlichen strafrechtlich verfolgt und verurteilt werden, so erhalten sie in der Regel nur eine geringe Strafe oder eine Bewährungsstrafe.
In einem Fall wurde ein Polizeibeamter sogar befördert, nachdem er übergriffig geworden war. Im Juli 2010 wurde Nguyen Huu Khoa, stellvertretender Polizeichef der Gemeinde La Phu (Hoai Duc district, Hanoi) beschuldigt, einen Lastwagenfahrer namens Nguyen Phu Son geschlagen zu haben. Es war unklar, wie in diesem Fall ermittelt und wie der Fall gehandhabt wurde, jedoch wurde Nguyen Huu Khoa im Dezember 2010 zum Polizeichef befördert.
„Vietnam soll unverzüglich objektive Ermittlungen bei jedem Vorwurf von Polizeibrutalität einleiten und hart durchgreifen, wenn diese Vorwürfe nachgewiesen werden”, so Robertson. „Solange die Polizei keine klare Ansage von ganz oben in der Regierung bekommt, dass Misshandlungen nicht geduldet werden, wird es keine Sicherheit für die Bürger Vietnams geben, die in die Hände von Polizeibeamten fallen.“
In einigen der Fälle fand Human Rights Watch heraus, dass die Polizei Personen aufgrund eines vagen Verdachts festgenommen hat, ohne dass konkrete Beweise vorlagen. Diese Personen wurden dann geschlagen, um Geständnisse von ihnen zu erpressen. Ferner ignorierte die Polizei regelmäßig grundlegende Maßnahmen, um Bürger vor Misshandlung oder willkürlicher Festnahme zu schützen. Die Polizei verweigerte Anwälten und andere Rechtsberatern den unmittelbaren Zugang zu ihren Mandanten.
„Alle inhaftierten Personen sollen unmittelbaren und ungehinderten Zugang zu ihrem Anwalt bekommen, sodass das Risiko für Übergriffe durch die Polizei während der Verhöre minimiert wird“, so Robertson.
Die Regierung in Vietnam soll unverzüglich eine Null-Toleranz-Politik gegenüber Polizeigewalt etablieren. Sie soll Polizisten, insbesondere Gemeindepolizisten, in allen Bereichen besser ausbilden. Ferner sollen Überwachungskameras in allen Verhör- und Gewahrsamsräumlichkeiten angebracht werden, so Human Rights Watch. Ebenso soll die Regierung die Arbeit von Rechtsbeiständen von Verdächtigen und Festgenommenen stärken sowie die Meinungsfreiheit von Journalisten und im Internet sicherstellen.
Zudem soll die Regierung eine unabhängige Kommission für Polizeibeschwerden bilden, die alle gemeldeten Fälle von Polizeigewalt und anderem Fehlverhalten durch Polizeibeamte prüft und untersucht. Ebenfalls soll die Regierung von höchster Ebene aus sofortige und objektive Untersuchungen und Ermittlungen in Fällen von Polizeigewalt und anderem polizeilichen Fehlverhalten unterstützen.
„UN-Organisationen und internationale Geber, die Vietnam auf seinem Weg zu einem Rechtsstaat unterstützen, dürfen nicht zulassen, dass derartiges Polizeiverhalten weiterhin praktiziert wird”, so Robertson. „Es sollte einen einstimmigen Aufschrei geben, damit die Regierung Übergriffe durch Polizeibeamte beendet.“