(Donezk) – Die selbsternannten Behörden im Osten der Ukraine sollen unverzüglich alle Personen freilassen, die sich in ihrer Gefangenschaft befinden, und Entführungen durch bewaffnete Kräfte, die in ihrem Namen handeln, beenden. Das Schicksal Dutzender Gefangener ist weiter ungewiss. Freigelassene Häftlinge berichteten gegenüber Human Rights Watch über brutale Prügel während ihrer Haft.
„Bewaffnete Männer, die in Verbindung mit den Kiew-feindlichen Kräften stehen, schnappen sich Aktivisten, Journalisten und Beamte“, so Anna Neistat, stellv. Programmdirektorin von Human Rights Watch. „Einige der Freigelassenen tragen Blutergüsse und Verletzungen davon. Das Schicksal Dutzender anderer ist völlig ungewiss.“
Am 4. Mai 2014 entführten Kiew-feindliche Kräfte sechs Männer aus der Stadt Nowogradowka, darunter drei Mitglieder des Stadtrats. Sie wurden am folgenden Tag freigelassen. Alle Männer wurden brutal verprügelt, einige schwer verletzt.
Human Rights Watch dokumentierte auch die Entführung von Artem Popik am 1. Mai und von Jaroslaw Malantschuk am 29. April. Beide sind Mitglieder der lokalen Wahlkommission in Konstantinowka. Es ist nicht bekannt, wo sie sich befinden und was mit ihnen geschehen ist.
Laut Medienberichten und Aussagen von Aktivisten in der Ost-Ukraine halten die Kiew-feindlichen Behörden in der Region Donezk immer noch mehr als zwei Dutzend Personen gefangen.
Am 3. Mai entließen die Kiew-feindlichen Truppen in Slowiansk sieben Militärbeobachter der OSZE und ihre ukrainischen Begleiter unverletzt aus ihrer Gefangenschaft.
Internationale Menschenrechtssatndards gelten in der gesamten Ukraine, auch in den Gebieten, die unter der Kontrolle der selbsternannten Behörden stehen. Alle Beteiligten sind verpflichtet, die Menschenrechte zu achten. Die Behörden, die die Hoheitsgewalt über diese Gebiete beanspruchen, müssen dafür sorgen, dass sämtliche Kräfte, die unter ihrer Kontrolle stehen, die Menschenrechte achten. Die ukrainischen Behörden einschließlich der Polizei müssen alle in ihrer Macht stehenden Maßnahmen ergreifen, um ihren Verpflichtungen nachzukommen, die Bevölkerung vor Menschenrechtsverletzungen durch bewaffnete Gruppen zu schützen und jeden zu bestrafen, der die Menschenrechte verletzt.
„Die Kiew-feindlichen Kräfte sollen alle Gefangenen unverzüglich freilassen und die bewaffneten Männer, die unter ihrer Kontrolle stehen, in Schranken halten“, so Neistat. „Die internationalen Gemeinschaft soll ihren Einfluss geltend machen, um für das Wohlergehen und die Freilassung der Gefangenen zu sorgen und sicherzustellen, dass die nicht-staatlichen Kräfte in der Ost-Ukraine Menschen nicht mehr länger misshandeln.“
Entführungen in Nowogradowka
Am 4. Mai entführte eine große Gruppe bewaffneter Männer sechs Bewohner von Nowogradowka, 40 Kilometer nordwestlich von Donezk: Aleksandr Wowk und Aleksandr Gurow, Mitglieder der Unabhängigen Gewerkschaft Ukrainischer Bergleute; Konstantin Museiko, Waleri Pawlik und Oleg Bubitsch, Mitglieder des Stadtrats von Nowogradowka, sowie einen weiteren Mann.
Wowk sagte gegenüber Human Rights Watch, er sei am 4. Mai gemeinsam mit Pawlik, Bubitsch, Gurow und einem weiteren Mann, dessen Namen er nicht kannte, in Museikos Haus gewesen. Um ca. 15 Uhr sei eine Gruppe von etwa zehn Männern mit Schnellfeuerwaffen, Tarnkleidung und Sturmhauben auf den Hof gestürmt und habe die Männer aus dem Haus gezerrt. Die Entführung habe bei helllichtem Tage und nur wenige Schritte von der städtischen Polizeiwache stattgefunden, so Wowk.
„Sie schossen in die Luft und töteten Museikos Hund im Garten. Sie schrien: ‚Auf den Boden ihr Mistkerle!‘, drückten uns auf den Boden und zerrten uns dann in Museikos Kleinbus, der in der Nähe geparkt war.
Als sie losfuhren, konnten Gurow und ich aus dem Wagen springen, aber sie fingen uns wieder ein. Sie brachten uns in das Gebäude des Regionalrats in Donezk [Hauptquartier der selbstausgerufenen „Republik Donezk“], nahmen uns mit die Treppe hoch, stießen uns zu Boden und begannen, uns zu schlagen. Ich versuchte, meinen Kopf zu schützen, aber sie hörten nicht auf, mir Fußtritte auf Kopf und ins Gesicht zu geben. Sie waren vermummt, sagten nicht, wer sie waren, und beschuldigten mich, ein „Banderowezk“ [pro Kiew] zu sein.“
Wowk gab an, alle sechs Männer seien einzeln verhört worden. Dabei habe er Schläge und Schreie aus dem Nebenraum gehört. Am 5. Mai gegen 1 Uhr nachts hätten die Unbekannten ihn, Pawlik und Bubitsch freigelassen und ihnen gesagt, sie sollten nach Hause gehen. Die Kidnapper hätten seine Rentenkarte und das Geld der Männer einbehalten, andere konfiszierte Papiere jedoch wieder ausgehändigt, so Wowk.
Zum Zeitpunkt der Befragung durch Human Rights Watch war Wowks Gesicht, insbesondere seine Augen, überzogen von Blutergüssen. Zudem klagte er über Kopf und Gliederschmerzen. Wowk begab sich ins örtliche Krankenhaus, um sich behandeln und seine Verletzungen dokumentieren zu lassen. Er berichtete, Bubitsch seien durch die Prügel mehrere Rippen gebrochen worden und Pawlik trage schwere Kopfverletzungen.
Museiko, der am Nachmittag des 5. Mai gemeinsam mit Gurow und dem verbleibenden Gefangenen freigelassen wurde, sagte, er sei von verschiedenen Gruppen „jeweils 15 Minuten“ geschlagen worden. Sie hätten ihm Rippen gebrochen, ihn an Ohr, Auge und Nase verletzt und angedroht, ihn zu erschießen und ihm die Ohren abzuschneiden. Auch Gurow sei brutal verprügelt worden: „Er hatte ein Tattoo mit der ukrainischen Flagge und den Worten ‚Vivat Ukraine, vivat die Helden!‘ auf seinem Arm, deshalb schlugen sie ihm vor allem auf den Arm. Der Arm war ganz schwarz, geschwollen und fast auf die doppelte Größe angeschwollen.“
Museiko sagte weiter, die Entführer hätten in die Wände und Fenster seines Hauses geschossen, alles auf den Kopf gestellt sowie Geld und Goldschmuck gestohlen.
Jaroslaw Malantschuk und Artem Popik
Am 29. April entführte eine Gruppe von Männern in Tarnuniformen den 46-jährigen Jaroslaw Malanchuk, ein Mitglied der nationalistischen Swoboda-Partei und Angehöriger des lokalen Wahlausschusses der Stadt Konstantinowka. Eine Augenzeugin erklärte gegenüber Human Rights Watch, Malantschuk habe gegen 19 Uhr auf dem Nachhauseweg von der Bushaltestelle mit ihr telefoniert:
„Er sagte, jemand habe ihn zu einem Treffen eingeladen. Dort wolle er hin, bevor er nach Hause gehe. Ich machte mir Sorgen – er wusste nicht wer die Männer waren, die ihn zu dem Treffen eingeladen hatten. Plötzlich hörte ich Geräusche und dann wurde der Klang des Telefons dumpf – er musste es in die Tasche gesteckt haben. Ich hörte ihn schreien und ‚Bitte schlagt mich nicht!‘ flehen. Dann antwortete jemand ‚Zum Kofferraum! Auf den Knien!‘ Dann brach die Verbindung ab.
Ich fand Zeugen, die bestätigten, dass eine Gruppe Maskierter ihn geschlagen und im Kofferraum mitgenommen hatte. Mehr wollten sie mir nicht sagen – alle haben solche Angst.“
Der Zeugin zufolge leitete die Polizei auf Nachfragen regionaler Swoboda-Funktionäre hin Ermittlungen ein und befragte sie. Dennoch sei ihr nicht bekannt, dass die Ermittler irgendwelche Fortschritte gemacht hätten. Aus inoffiziellen Quellen erfuhr sie, dass Malantschuk im Büro der ukrainischen Sicherheitsbehörde SBU in Slowiansk festgehalten wurde. Dieses steht unter der Kontrolle der Kiew-feindlichen Kräfte.
Am nächsten Tag, kurz nach Mitternacht kam eine Gruppe bewaffneter Männer zum Haus von Artem Popik, 26, dem Vorsitzenden von Swoboda in Konstantinowka und Mitglied der örtlichen Wahlkommission.
Popiks Mutter berichtete Human Rights Watch, ihr Sohn habe die Polizei verständigt, als sie hörten, wie jemand gegen die Tür schlug. Die Polizei habe gesagt, er solle „seine Sachen nehmen und rennen“.
Popiks Mutter zufolge habe dieser nicht gewusst, wohin er laufen solle, und sich deshalb unter einem Bett versteckt, während die Männer die Tür aufbrachen und ins Haus kamen. Die drei Männer, die ins Haus kamen, hätten Tarnuniformen und schwarze Masken getragen. Einer habe ein Schnellfeuergewehr getragen. Sie hätten nach Popik gefragt und das Haus durchsucht. Dann hätten sie ihren Sohn unter dem Bett hervorgezogen, mit Pfefferspray orientierungslos gemacht, auf den Boden gedrückt und ihm Handschellen angelegt.
„Sie zerrten ihn heraus wie einen Hund. Dann sah ich, wie sie ihn in den Kofferraum warfen. Ich fragte immer wieder, warum und wohin sie ihn mitnahmen, doch sie antworteten: ‚Wir müssen nur ein bisschen Gehirnwaschen.‘ Sie nahmen ihn barfuß mit, nur mit einem T-Shirt und einer Sporthose bekleidet.“
Popiks Mutter erklärte, die Polizei sei erst angekommen, als die Kidnapper schon verschwunden waren. Sie hätten Fragen gestellt und ein Papier verfasst, die sie unterschrieben habe. Am Tag darauf habe sie versucht, formal Anzeige wegen der Entführung zu erstatten, um sicherzustellen, dass Ermittlungen eingeleitet würden. Wegen eines Feiertags sei jedoch niemand dort gewesen, um ihre Anzeige aufzunehmen.
Sie erkundigte sich auch in den Büros des Stadtrats, welche unter der Kontrolle der Kiew-feindlichen Kräfte stehen. Dort sagte man ihr, man habe keine Informationen über Popiks Verbleib. Inoffiziellen Quellen zufolge soll Popik zuerst nach Kramatorsk und anschließend ins Gewahrsam der SBU in Slowiansk gebracht worden sein.