(Simferopol) – Selbstverteidigungseinheiten und paramilitärische Gruppen entführen, attackieren und belästigen Aktivisten und Journalisten auf der Krim.
Diese Gruppen agieren außerhalb des Rechts, ohne Abzeichen, ohne klare Befehlsstruktur, und unter völliger Straffreiheit. Die Lokalbehörden auf der Krim sind verpflichtet, den Aktivitäten dieser Gruppen Einhalt zu gebieten und die Gruppen aufzulösen und zu entwaffnen.
„Die Behörden der Krim erlauben illegalen und unidentifizierten bewaffneten Einheiten, das Geschehen auf der Halbinsel zu bestimmen und Verbrechen zu begehen, die weder untersucht noch bestraft werden, als ob dort ein rechtliches Vakuum bestünde“, so Rachel Denber, stellvertretende Direktorin der Abteilung Europa und Zentralasien von Human Rights Watch. „Doch dem ist nicht so. Die lokalen Behörden unterliegen präzisen rechtlichen Verpflichtungen und müssen die Sicherheit aller Menschen schützen, die sich in ihrem Einflussbereich befinden.“
Human Rights Watch hat dokumentiert, dass die Selbstverteidigungseinheiten an den Entführungen von mindestens sechs Aktivisten der Euromaidan-Bewegung beteiligt waren; diese Bewegung hatte die monatelangen Proteste in Kiew organisiert, die zum Sturz von Präsident Viktor Yanukovich geführt hatten. Die Einheiten haben auch mehrere lokale und ausländische Journalisten belästigt und attackiert.
Lokale und internationale Organisationen zu Schutz der Pressefreiheit haben außerdem dokumentiert, dass die Selbstverteidigungseinheiten auf der Krim Dutzende Reporter angegriffen haben. Ukrainische Menschenrechtsgruppen berichten die Einheiten seien auch beteiligt daran gewesen, Demonstrationen brutal aufzulösen, ohne Rechtsgrundlage Menschen und Fahrzeuge zu durchsuchen – insbesondere an den Grenzen der Krim – und gewöhnliche Bürger zu belästigen.
Die Selbstverteidigungseinheiten operieren seit Ende Februar 2014 auf der Krim. Ihr „Kommandant“ Pawel Scheremet, dessen offizieller Rang unklar ist, sagte auf einer Pressekonferenz am 4. März, die Einheiten bestünden aus früheren Polizisten und Offizieren der Armee, Veteranen des Afghanistankrieges und anderen. Scheremet betonte, die Einheiten seien nicht berechtigt, Durchsuchungen oder Festnahmen durchzuführen. Sie seien zudem angehalten, mit der Polizei zusammenzuarbeiten.
Der Chef des Ministerrats der Krim Sergei Aksenow erklärte, seit dem 4. März hätten sich 11.000 Männer als Mitglieder der Selbstverteidigungsgruppen registriert. Sie seien mit Schutzschildern, Pistolen und „legal registrierten Schusswaffen“ bewaffnet. Aksenow sagte, die Einheiten würden vor und während des Referendums über den Status der Krim gebraucht, welches am 16. März stattfinden soll. Sie seien auch danach notwendig, bis sich die Situation in der Ukraine „stabilisiert“ habe. Er dementierte die verbreiteten Anschuldigungen, wonach den Einheiten russische Sicherheitskräfte angehören.
Nach Aussage von Beamten der Krim haben die Selbstverteidigungseinheiten „die Kontrolle“ über alle militärischen Einrichtungen, Strafverfolgungsbehörden und „strategische Objekte“ „übernommen“.
Die Vor-Ort-Recherchen von Human Rights Watch sowie Interviews mit Personen, die entweder in Berührung mit Selbstverteidigungs-Einheiten kamen oder diese beobachteten, legen jedoch nahe, dass die Einheiten außerhalb jedes rechtlichen Rahmens agieren. Einige tragen Tarnkleidung ohne Abzeichen, andere sind zivil gekleidet. Viele tragen Armbänder in den Farben der russischen Flagge oder in schwarz und orange entsprechend der St.-Georg-Flagge, dem Symbol höchster militärischer Ehre in Russland. Die Einheiten, die auf den Straßen patrouillieren, sind meist unbewaffnet und nicht maskiert, während die an Kontrollpunkten oder anderen strategischen Orten operierenden Männer schwarze Balaklava und automatische Waffen wie Kalaschnikows tragen.
Das ukrainische Recht erlaubt die „Beteiligung der Bürger beim Erhalt von Recht und Ordnung“ und schließt hierin die Formation von Selbstverteidigungseinheiten ein. Es legt jedoch fest, dass diese ausschließlich gemeinsam mit den regulären Strafverfolgungsbehörden und in einem klar festgelegten Rahmen operieren und niemals Schusswaffen gebrauchen dürfen.
Die Polizei auf der Krim sich weder mit den Einheiten abstimmt, noch die Kontrolle über sie hat. In einigen der unten aufgeführten Fälle gaben Zeugen und Opfer von Menschenrechtsverletzungen gegenüber Human Rights Watch an, die Polizei sei während der Aktionen der Selbstverteidigungseinheiten entweder nicht vor Ort gewesen, oder habe tatenlos zugesehen. Teilweise hätten sich die Beamten auch ausdrücklich geweigert einzugreifen und vielmehr erklärt, sie hätten keine Befehlsgewalt über die Einheiten.
Wie aus Zeugenaussagen sowie zahlreichen professionellen und privaten Youtube-Videos hervorgeht, agieren die Selbstverteidigungseinheinten oft in Begleitung von in Kooperation mit Kosaken und großen Gruppen maskierter Männer in Uniform ohne Abzeichen, die von den meisten Anwohnern für Mitglieder der russischen Armee oder Spezialeinheiten gehalten werden. In mindestens einem Fall, der Human Rights Watch mitgeteilt wurde, gab ein Mitglied einer Selbstverteidigungseinheit zu, er gehöre einer russischen Spezialeinheit an.
Ein Kommandant auf einem der ukrainischen Militärstützpunkte in Simferopol sagte gegenüber Human Rights Watch, bewaffnete Männer in Tarnkleidung und ohne Abzeichen hätten versucht, den Stützpunkt zu übernehmen. Daraufhin hätten die ukrainischen Offiziere versucht, zu verhandeln und argumentiert, die Krim sei Teil des ukrainischen Staatsgebietes und demnach gelte ukrainisches Recht. Dem Kommandanten zufolge habe einer der Männer gerufen: „Ukrainisches Recht interessiert mich nicht; ich bin ein Offizier der Russischen Föderation!“
Human Rights Watch ist besorgt darüber, dass die Präsenz von bewaffneten Kräften in Militäruniform und von Selbstverteidigungs-Patroullien, die keine Mitglieder der regulären Strafverfolgungsbehörden oder Sicherheitskräfte sind, auf den Straßen und in öffentlichen Gebäuden die Freiheit und Sicherheit der Menschen auf der Krim bedroht.
Die Behörden auf der Krim sollen unmittelbar alle außerrechtlich agierenden Einheiten, die Menschen vor deren illegalen Aktivitäten schützen, entwaffnen und auflösen und dafür sorgen, dass sämtliche Strafverfolgungsmaßnahmen ausschließlich von der Polizei durchgeführt werden. Die Behörden sollen sicherstellen, dass alle Selbstverteidigungseinheiten, die rechtmäßig gebildet wurden, im Rahmen des Rechts agieren, und dass die Öffentlichkeit über die Befehlsstruktur und Rechenschaftsmechanismen der Einheiten informiert ist.
Die Behörden sollen außerdem mutmaßliche Menschenrechtsverletzungen durch Mitglieder der Selbstverteidigungs-Einheiten untersuchen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen. Personen, die von den Einheiten inhaftiert oder verschleppt wurden, sollen unmittelbar freigelassen werden; außerdem soll Journalisten erlaubt werden, ihre Arbeit frei von Einschüchterung und Belästigung auszuführen.
Internationale Menschenrechtsverträge, besonders der Europäische Menschenrechtskonvention, die für die Behörden der Ukraine rechtsverbindlich ist, verpflichten diese, angemessene Maßnahmen zum Schutz von Leben und Sicherheit aller Menschen in ihrem Einflussbereich zu treffen.
Diese Verpflichtung beinhaltet die Schaffung eines angemessenen Rechtsrahmens, um Übergriffe gegen Personen zu verhindern, insbesondere solche, die zur Verletzung von Freiheit oder Sicherheit, schweren Verletzungen oder zum Tod führen. Unkontrollierten Gruppen zu erlauben, rechtsverletzende Sicherheitsoperationen durchzuführen, verstößt gegen diese Verpflichtung und widerspricht der grundlegenden Achtung der Menschenrechte.
„Die Behörden der Krim haben die sogenannten Selbstverteidigungseinheiten im Vorfeld des Referendums gewähren lassen. Bislang haben diese Einheiten sich darauf konzentriert, kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen und Informationen zu kontrollieren,“ sagte Denber. „Ihre Kampagne von Drohungen, Belästigungen, Angriffen und Verschleppungen von Aktivisten scheint keine Grenze zu kennen.“