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(New York, 6. Dezember 2009) - Acht Jahre nach dem Sturz der Taliban sind Frauen und Mädchen in Afghanistan weiterhin Opfer von Gewalt und Diskriminierung. Zudem haben sie oft keinen Zugang zu Justizwesen und Bildungsinstitutionen und sind als junge Frauen Opfer von Zwangsheirat, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Die afghanische Regierung hat die Mörder von prominenten Frauen nicht vor Gericht gestellt, wodurch ein Klima der Straflosigkeit für diejenigen entstanden ist, die Frauen attackieren.

Der 96-seitige Bericht „We Have the Promises of the World: Women's Rights in Afghanistan" beschreibt beispielhaft Fälle von anhaltenden Menschenrechtsverletzungen in fünf Bereichen: Angriffe auf Frauen in der Öffentlichkeit, Gewalt gegen Frauen, Kinder- und Zwangsheirat, angemessener Zugang zum Justizwesen und die Möglichkeit zu höherer Schulbildung für Mädchen.

„Die Lage der afghanische Frauen und Mädchen ist schrecklich und kann sich noch verschlechtern“, so Rachel Reid, Afghanistan-Expertin von Human Rights Watch. „Während die ganze Welt momentan auf die neue Sicherheitsstrategie der Obama-Regierung blickt, ist es von großer Wichtigkeit, dass Frauen- und Mädchenrechte keine Lippenbekenntnisse bleiben und von der Regierung und Geberländern nicht ans Ende der Prioritätenliste geschoben werden“.

Seitdem die Not von Frauen und Kindern während der Herrschaft der Taliban benutzt wurde, um die militärische Invasion in Afghanistan im Jahr 2001 zu rechtfertigen, wird Frauenrechten keine dauerhafte Priorität in der Politik der Regierung oder bei internationalen Gebern eingeräumt. Es besteht die Gefahr, dass die seit 2001 gemachten Fortschritte für afghanische Frauen und Mädchen in den Bereichen Bildung, Arbeit und Bewegungsfreiheit zunehmend wieder eingeschränkt werden. Gründe hierfür sind die Stärkung fundamentalistischer Fraktionen in der Regierung, die zunehmende Gefahr durch Aufständische und eine sich abzeichnende Aussöhnung mit einzelnen Gruppen der Taliban.

„Frauenrechte haben keine Priorität bei unserer Regierung oder der internationalen Gemeinschaft", so die Parlamentarierin Shinkai Karokhail zu Human Rights Watch. „Wir sind vergessen worden".

In der Öffentlichkeit aktive Frauen sind immer wieder Opfer von Drohungen und Einschüchterungen. Trotz Morden an einigen prominenten Frauen wurden die Täter nicht vor Gericht gestellt. Der Mord an der Menschenrechtsverteidigerin und Politikerin Sitara Achakzai im April 2009 stellte ein weiteres Warnsignal für alle Frauen dar, die in der Öffentlichkeit stehen.

Prominente Frauen berichteten in Interviews für diesen Bericht, dass sie sich nicht ernst genommen fühlen, wenn sie Drohungen melden. Eine Parlamentarierin, die wie auch andere Befragte wegen Drohungen anonym bleiben wollte, berichtete Human Rights Watch:

 „Ich wurde schon so oft bedroht. Manchmal melde ich dies, wobei die Behörden mir dann sagen, ich soll mir keine Feinde machen und ruhig sein. Aber wie soll ich aufhören, über Frauen- und Menschenrechte zu reden?"

Eine Polizistin, die Todesdrohungen erhielt, erzählte:

„Sie sagten mir, sie würden meine Töchter umbringen. Ich fürchte mich jede Minute. Ich kann nie nach Hause gehen, weil mich die Regierung dort nicht schützen kann. Mein altes Leben ist vorbei."

Eine landesweite Umfrage zu Gewalt gegen afghanische Frauen ergab, dass 52 Prozent der Befragten schon einmal Opfer von körperlicher und 17 Prozent von sexueller Gewalt geworden sind. Trotzdem melden die wenigsten Frauen und Mädchen diese Gewalttaten den Behörden wegen sozialer und juristischer Hindernisse. Bei Vergewaltigungen sind diese Hindernisse besonders groß. Frauenrechtsaktivistinnen und Parlamentarierinnen haben sich sehr dafür eingesetzt, diese Missstände zu beenden, und konnten schließlich auch mit der Aufnahme von Vergewaltigung ins Strafgesetzbuch einen Erfolg verzeichnen. Dennoch zeigt die Regierung geringe Bereitschaft, jeden Fall als ernsthaften Kriminalfall zu behandeln oder eine öffentliche Kampagne dagegen zu starten.

Fehlende strafrechtliche Verfolgung verschlimmert die Gefährdung von Frauen. Ein Opfer versuchte unter großen Hindernissen die Verbrecher vor Gericht zu bringen, nachdem sie von mehreren Tätern hintereinander vergewaltig worden war, darunter ein lokaler Kommandeur mit guten politischen Kontakten. Durch einen Erlass des Präsidenten wurden diese dann jedoch freigelassen. Bald danach wurde der Ehemann des Opfers im Jahre 2009 erschossen. Die Frau berichtete Human Rights Watch, dass er ermordet wurde, weil er sich für ihre Rechte eingesetzt hatte:

 „Ich habe meinen Sohn und meine Ehre verloren und nun auch meinen Mann", so die Frau. „Ich bin nur eine arme Frau, wer hört mir schon zu?"

Laut Umfragen sind bei mehr als der Hälfte der Eheschließungen die Frauen jünger als 16 Jahre, und 70 bis 80 Prozent der Ehen finden ohne die Zustimmung der Frau oder des Mädchens statt. Dadurch entstehen für Frauen und Mädchen viele grundlegende Probleme, wobei ein Zusammenhang zwischen häuslicher Gewalt und Kinder- bzw. Zwangsheirat besteht.

Ein 13-jähriges Mädchen, Opfer einer Zwangsheirat, berichtete Human Rights Watch, wie sie von der Familie des Mannes nach ihrer Flucht verfolgt worden war: „Sie kamen zu mir und forderten mich auf zurückzukommen. Ich weigerte mich, aber sie kamen immer wieder. Ich sage immer nein ... ich kann nicht zurückgehen. Sie wollen mich umbringen." Frauenrechtsaktivistinnen, die dem Mädchen Unterschlupf gewährt hatten, wurden im Parlament denunziert. Die junge Frau kämpft Jahre später immer noch um die gerichtliche Annullierung ihrer illegalen Zwangsheirat.

Dieser Fall ist nur einer von vielen in dem Bericht, der das grundlegende Problem von Frauen und Mädchen zeigt, dass sie keinen uneingeschränkten Zugang zum Justizwesen haben. Umfragen zufolge sind mehr als die Hälfte aller inhaftierten Frauen und Mädchen wegen „moralischer Verbrechen" inhaftiert, wie zum Beispiel Ehebruch oder „von Zuhause Weglaufen", wobei letzteres gemäß afghanischem oder Sharia-Recht kein Verbrechen ist. Die Polizei oder Gerichte reagieren jedoch meist mit Unverständnis, wenn eine prominente Frau bedroht wird, eine junge Frau vor Zwangsheirat fliehen will oder ein Vergewaltigungsopfer Bestrafung für den Täter fordert.

„Polizei und Richter betrachten Gewalt gegen Frauen nicht als Verbrechen, deshalb verfolgen sie diese Fälle nicht", so Dr. Soraya Sobhrang von der Unabhängigen Afghanischen Kommission für Menschenrechte.

Gesetzesreformen zum Schutz von Frauenrechten sind wichtig. Doch um die öffentliche Meinung zu ändern und Menschenrechtsverletzungen zu verhindern, ist auch politische Führung nötig.

„Die Regierung soll ihrer Verantwortung zum Schutz von Frauen und Kindern ernsthaft nachkommen", so Reid. „Präsident Karzai muss einiges tun, um seinen Ruf im Bereich der Frauenrechte wieder herzustellen".

Nachdem die Taliban viele Mädchenschulen zerstört hatten, wurde die Ausbildung von Mädchen zu einem der wichtigsten Bestandteile in den Bemühungen der internationalen Geberländer in Afghanistan. Obwohl große Fortschritte gemacht wurden, besteht nach wie vor ein großes Ungleichgewicht der Geschlechter. Die Mehrheit der Mädchen geht weiterhin nicht in die Grundschule. Nur elf Prozent der Mädchen im Sekundarschulalter besuchen die Klassen sieben bis neun, nur vier Prozent  der Mädchen besuchen die Klassen zehn bis zwölf. Die Zahl der Schulabgänger wächst im Sekundarschulalter stark an, wobei der Rückgang unter den Mädchen besonders dramatisch ist.

Die immer mehr an Bedeutung verlierende Rolle von Frauenrechten in Afghanistan kam erst wieder auf die politische Tagesordnung, als im März 2009 das Shia-Gesetz vom Parlament verabschiedet und von Präsident Karzai unterschrieben wurde. Unter nationalem und internationalem Protest ließ sich Karzai auf eine Änderung des Gesetzes ein, wobei einige zweifelhafte Artikel bestehen blieben, die Shia-Frauen in ihrer Freiheit stark einschränken. Dazu zählt, dass eine Ehefrau ihren Mann um Erlaubnis bitten muss, das Haus verlassen zu dürfen, mit Ausnahme von nicht genauer bestimmten „vernünftigen rechtlichem Anlässen". Das Gesetz gibt außerdem nur Vätern und Großvätern das Sorgerecht für Kinder.

„Wir haben die Worte der Völkergemeinschaft zum Shia-Gesetz sehr begrüßt. Sie haben viele schöne Dinge gesagt, wie sie es bereits 2001 getan haben", so die Frauenrechtlerin Wazhma Frogh. „Wir haben das Versprechen der Welt. Dennoch warten wir weiterhin darauf, was sie darüber hinaus noch tun werden."

Präsident Karzai soll das Gesetz überarbeiten, um den uneingeschränkten Schutz von Frauenrechten zu garantieren, und Frauen, die sich aktiv für ihre Rechte eingesetzt haben, sollen an politischen Entscheidungen beteiligt werden. 

„Das Shia-Gesetz ist eine rechtzeitige Mahnung dafür, wie gefährdet afghanische Frauen angesichts politischer Machenschaften und nicht eingehaltener Versprechen sind", so Reid. „Karzai soll seine neue Amtszeit mit einem klaren Signal an die Frauen beginnen, das den Willen seiner Regierung zeigt, das Prinzip der Gleichheit zu fördern."

Die wichtigsten Empfehlungen des Berichts:

  • Die Regierung und die Geberländer sollen der Förderung und dem Schutz von Frauenrechten beim Wiederaufbau des Landes und in ihren politischen, wirtschaftlichen und militärischen Strategien eine zentrale Stellung einräumen.
  • Die Regierung soll mit Unterstützung der Geber eine groß angelegte Kampagne starten, die klarstellt, dass Vergewaltigung eine Straftat ist und als solche von den Exekutivorganen, Richtern, Beamten, dem Parlament und der afghanischen Öffentlichkeit verurteilt wird.
  • Die Regierung soll die staatliche Registrierung von Ehen leichter zugänglich und obligatorisch machen.
  • Der Präsident soll die Freilassung aller Frauen und Mädchen anordnen, die wegen des Vorwurfs „von Zuhause Weglaufen" inhaftiert sind. Zudem sollen sie eine offizielle Entschuldigung sowie eine Entschädigung erhalten.
  • Die Regierung soll mit Unterstützung der Geber die Anzahl und die geographische Verbreitung von Mädchenschulen verbessern. Es sollen mehr Sekundarschulen für Mädchen gebaut und die Rekrutierung und Ausbildung von Lehrerinnen beschleunigt werden.
  • Die Regierung soll mit Unterstützung der Vereinten Nationen und anderen Geberländern die Sicherheit von Kandidatinnen und Wählerinnen bei den Parlamentswahlen 2010 gewährleisten
  • Internationale Geber und die Vereinten Nationen sollen gemeinsam mit dem afghanischen Ministerium für Frauen alle Ausgaben unter Gender-Gesichtspunkten überprüfen.

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