378 000 hauptsächlich kurdische Binnenflüchtlinge, die vor über zehn Jahren von der Armee vertrieben wurden, warten noch immer auf die versprochene Hilfe von der türkischen Regierung, um in ihre Heimatorte im Südosten der Türkei zurückzukehren
Am 7. und 8. März werden der Europäische Erweiterungskommissar Olli Rehn und eine Delegation hochrangiger EU-Vertreter Ankara besuchen, um Gespräche über die Mitgliedschaft der Türkei zu führen. Die Vertreter der EU müssen die Türkei drängen, effektive Maßnahmen zu ergreifen, um die Rückkehr der intern vertriebenen Menschen in den Südosten der Türkei zu erleichtern. Die türkischen Sicherheitskräfte vertrieben während eines bewaffneten inneren Konflikts in den achtziger und neunziger Jahren tausende von Menschen aus dieser Region.
Der 37-seitige Bericht “Still Critical: Prospects in 2005 for Internally Displaced Kurds in Turkey” beschreibt im Detail, wie die türkische Regierung versäumte, die von den Vereinten Nationen vor fast drei Jahren empfohlenen Maßnahmen zur Unterstützung der intern Vertriebenen umzusetzen. Seit die EU die Beitrittskandidatur der Türkei im Dezember bestätigt hat, scheint die türkische Regierung die Pläne zur Umsetzung dieser Maßnahmen zurückgestellt zu haben.
Der Bericht beschreibt auch, wie die Türkei den Fortschritt im Bereich der Binnenflüchtlinge in ihren Berichten an die Europäische Union übertrieben dargestellt hat. Bevor die Europäische Union die Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit der Türkei ankündigte, lieferte die türkische Regierung der Europäischen Kommission Statistiken, nach denen sich die Türkei auf dem Weg zu einer Lösung des Problems befand, eine Voraussetzung für die EU-Vollmitgliedschaft. Die Türkei behauptete, ein Drittel der Vertriebenen wäre bereits zurückgekehrt. Human Rights Watch entdeckte jedoch, dass sich die tatsächliche Zahl in einigen Gebieten auf weniger als ein Fünftel der offiziellen Schätzung belief.
„Als wir die von der Regierung herausgegebenen Statistiken über die Hilfe zur Rückkehr der Vertriebenen überprüften, stellte sich heraus, dass diese Zahlen nicht verlässlich waren“, sagte Rachel Denber, amtierende Direktorin der Europa- und Zentralasienabteilung von Human Rights Watch. „An den blossen Zahlen lässt sich auch nicht erkennen, dass Dorfbewohner zu Orten zurückkehren, die dank der Untätigkeit der Regierung praktisch unbewohnbar sind.“
Die Regierung hat es versäumt, im Südosten der Türkei eine Infrastruktur mit Elektrizität, Telefonleitungen, Schulen usw. aufzubauen und hat keine richtige Hilfe zum Wiederaufbau von Häusern bereitgestellt.
„Noch schlimmer ist, dass die paramilitärischen „Dorfschützer“ der Regierung die Zurückkehrenden in manchen Teilen der südöstlichen Türkei angreifen und ermorden“, fügte Denber hinzu.
Zahlreiche zwischenstaatliche Organisationen sowie die türkische Parlamentskommissionen haben das Dorfschützer-System verurteilt, welches in den achtziger Jahren zur Bekämpfung der illegalen, bewaffneten Kurdischen Arbeiterpartei (PKK, heute Kongra Gel genannt) dienen sollte. Mehr als 58 000 paramilitärische Dorfschützer werden noch immer vor der Regierung bezahlt. Nach Angaben von Human Rights Watch haben die paramilitärischen Dorfschützer der Regierung in den letzten drei Jahren im Südosten der Türkei 11 zurückgekehrte Dorfbewohner ermordet.
Nach einer Untersuchung des Flüchtlingproblems empfahlen die Vereinten Nationen der Türkei, eine zuständige Behörde für Binnenflüchtlinge einzurichten, eine Partnerschaft mit der internationalen Gemeinschaft zur Lösung der Problematik zu entwickeln und Entschädigungen für die durch die Vertreibung entstandenen Schäden zu zahlen. Beinahe drei Jahre später hat die türkische Regierung noch immer keine gemeinsamen Projekte mit zwischenstaatlichen Organisationen begonnen und es ist nach wie vor keine zentrale Regierungsstelle für Binnenflüchtlinge zuständig. Im letzten Jahr verabschiedete das türkische Parlament ein Entschädigungsgesetz, doch es wurden noch keine Zahlungen geleistet.
Schon vor 18 Jahren warnte Human Rights Watch in einem Bericht zum Konflikt im Südosten der Türkei im Jahre 1987 vor der bevorstehenden systematischen Zerstörung von Dörfern. Die türkische Armee führte ihre Zerstörungskampagne mit beträchtlicher Brutalität durch, wandte Folter an, ließ Menschen "verschwinden" und richtete Dorfbewohner außergerichtlich hin. Human Rights Watch hat die türkische Regierung seitdem immer wieder für ihre leeren Gesten im Zusammenhang mit den Rückführungsprogrammen kritisiert und 1995 sowie 2002 weitere Berichte veröffentlicht.
„Der türkische Staat hat versucht, seine Taten zu vertuschen und nun werden die Vertriebenen jahrelangen Verzögerungen ausgesetzt“, meinte Denber. „Wenn die EU- Vertreter in Ankara ankommen, müssen sie das Problem der Vertriebenen an die erste Stelle der Tagesordnung setzen.“
Damit endlich Fortschritte gemacht werden appelliert Human Rights Watch an die Europäische Union, die türkische Regierung unter Druck zu setzen, einem im letzten Jahr vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen vorgelegten Flüchtlingsprojekt zuzustimmen. Zusätzlich muss Ankara eine effektiv agierende Behörde für Binnenflüchtlinge einrichten.
Seit die Europäische Union die Beitrittskandidatur der Türkei im Jahr 1999 annahm, kamen die Menschenrechtsreformen in diesem Land ins stottern. Die Türkei hat im Bereich des Schutzes von Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Sprachrechten und Schutz vor Folter noch viel aufzuholen.
„Die prekäre Lage der Vertriebenen ist die dringlichste Sorge, doch die Regierung hat ihre Konzentration auf die Reformen im Allgemeinen verloren”, bemerkte Denber. „Letzte Woche beobachteten drei unserer Delegierten die Gerichtsverhandlungen von Ragip Zarakolu und Fikret Baskaya, einem Verleger und einem Professor, denen auf Grund der Äußerung ihrer gewaltfreien Meinung Haft droht.“
Die Verhinderung von Folter ist ein weiterer Bereich, bei dem die türkische Regierung keine Energie mehr zeigt. Die Türkei hat in den letzten Jahren beträchtliche Fortschritte gemacht. Doch zur Bekämpfung der immer wieder auftretenden Fälle von Folter und Misshandlung hat die Europäische Union der Türkei im Oktober 2004 empfohlen, eine unabhängige Überwachung der Haftanstalten einzurichten. Fünf Monate später hat die Türkei immer noch kein unabhängiges Überwachungssystem eingerichtet, obwohl die nötigen Rechtsgrundlagen bereits vorhanden sind.
Im Jahr 2000 legte die Europäische Union der Türkei mit der sogenannten Beitrittspartnerschaft eine Liste von Mindestanforderungen für die Vollmitgliedschaft vor. Diese wurden im Jahr 2003 überarbeitet und im Laufe dieses Jahres steht eine weitere Revision bevor.