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Gaza: Aussetzung der UNRWA-Hilfen verschärft Risiko einer Hungersnot

Finanzierung fortsetzen trotz Ermittlungen gegen Mitarbeitende der UN-Agentur

Menschen stehen für Brot in einer teilweise eingestürzten, aber noch funktionierenden Bäckerei im Nuseirat Flüchtlingscamp in Deir al Balah, Gaza, an, 4. November 2023. © 2023 Ashraf Amra/Anadolu via Getty Images

(New York) - Die Regierungen sollten das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge (UNRWA) angesichts seiner entscheidenden Rolle bei der Abwendung einer humanitären Katastrophe und der Gefahr einer Hungersnot im Gazastreifen weiter finanzieren, während das Hilfswerk den Vorwürfen nachgeht, dass 12 seiner Mitarbeitenden in die von der Hamas angeführten Angriffe vom 7. Oktober 2023 im Süden Israels verwickelt waren, erklärte Human Rights Watch heute.

UNRWA, das größte Hilfswerk im Gazastreifen, hat darauf hingewiesen, dass es ohne die Wiederaufnahme der Finanzierung nicht in der Lage sein wird, seine Arbeit im Gazastreifen, im Westjordanland und in den drei anderen Ländern der Region, in denen es tätig ist, „über Ende Februar hinaus fortzusetzen“. Nachdem die israelischen Behörden dem UNRWA Informationen über die mutmaßliche Verwicklung mehrerer seiner Mitarbeitenden in die Anschläge vom 7. Oktober übermittelt hatten, gab UNRWA bekannt, dass es die Verträge der identifizierten Mitarbeitenden „sofort gekündigt“ und eine Untersuchung eingeleitet habe, um „unverzüglich die Wahrheit zu ermitteln“. Der UN-Generalsekretär bestätigte später die Unabhängigkeit der UN-Untersuchung der Vorwürfe und erklärte, dass das UN-Amt für interne Aufsichtsdienste (OIOS) sofort aktiviert wurde.

„Die Vorwürfe gegen UNRWA-Mitarbeitende wiegen schwer, und die UN scheint sich ernsthaft mit ihnen auseinanderzusetzen. Aber der UN-Organisation, die am ehesten in der Lage ist, die mehr als 2,3 Millionen Menschen im Gazastreifen mit lebensrettenden Nahrungsmitteln, Wasser und Medikamenten zu versorgen, Gelder vorzuenthalten, zeigt eine eklatante Gleichgültigkeit gegenüber dem, wovor führende Expert*innen der Welt warnen, nämlich der drohenden Gefahr einer Hungersnot“, sagte Akshaya Kumar, Direktorin für Krisenintervention bei Human Rights Watch. „Die palästinensische Zivilbevölkerung in Gaza, darunter Kinder, Menschen mit Behinderungen und Schwangere, sind in hohem Maße auf die Hilfe des UNRWA angewiesen und haben nichts mit den Anschuldigungen gegen einzelne Mitarbeitende zu tun.“

Stand 31. Januar 2024, haben 18 Regierungen, deren Mittel in der Vergangenheit mehr als drei Viertel des Haushalts der Organisation ausmachten, ihre Finanzierung als Reaktion auf die Vorwürfe eingefroren. Mehr als eine Million vertriebene Palästinenser*innen im Gazastreifen sind während der aktuellen Feindseligkeiten in den Unterkünften der Organisation untergebracht, und viele von ihnen sind auf die lebenswichtige humanitäre Hilfe der Organisation angewiesen.

Australien, Österreich, Kanada, Estland, Finnland, Deutschland, Island, Italien, Japan, Lettland, Litauen, die Niederlande, Neuseeland, Rumänien, Schweden, die Schweiz, das Vereinigte Königreich und die Vereinigten Staaten kündigten an, dass sie ihre Zahlungen an das UNRWA auf unbestimmte Zeit aussetzen, um auf die Anschuldigungen zu reagieren, ein Dutzend Mitarbeitende des Hilfswerks sei in die Anschläge vom 7. Oktober verwickelt gewesen. Im Gegensatz dazu haben die Regierungen Belgiens, Irlands, Luxemburgs, Sloweniens, Spaniens und Norwegens zu Recht Erklärungen abgegeben, in denen sie die Fortsetzung ihrer finanziellen Unterstützung für das UNRWA zusagen und gleichzeitig die Bedeutung einer Untersuchung der Vorwürfe unterstreichen.

Anstatt wichtige Gelder zurückzuhalten, gaben die Europäische Union und Frankreich Erklärungen ab, in denen sie ihre Absicht erklärten, „die Angelegenheit im Lichte des Ergebnisses der von der UN angekündigten Untersuchung und der von ihr zu treffenden Maßnahmen zu überprüfen“ und „zu gegebener Zeit zu entscheiden”. Die Beiträge der Regierungen an das UNRWA sind freiwillig und liegen im Ermessen der jeweiligen Regierung, so Human Rights Watch.

Am 7. Oktober führten Bewaffnete aus dem Gazastreifen unter der Führung der Hamas einen Angriff im Süden Israels durch, bei dem sie gezielt Zivilist*innen töteten, in Menschenmengen schossen, Menschen in ihren Häusern niederschossen und Geiseln nach Gaza verschleppten, darunter auch ältere Menschen und Kinder - Taten, die einem Kriegsverbrechen gleichkommen. Nach Angaben der israelischen Behörden wurden seit dem 7. Oktober mehr als 1.200 Menschen, die meisten von ihnen Zivilist*innen, getötet, und bis zum 30. Januar befanden sich 136 Menschen weiterhin in Geiselhaft.

Kurz nach dem Angriff des 7. Oktober stellten die israelischen Behörden die Versorgung der Bevölkerung des Gazastreifens mit lebenswichtigen Gütern wie Wasser und Strom ein und blockierten die Einfuhr von Treibstoff und wichtigen humanitären Hilfsgütern - ein Akt kollektiver Bestrafung, der einem Kriegsverbrechen gleichkommt. Human Rights Watch hat zudem festgestellt, dass die israelischen Behörden Hunger als Kriegswaffe in Gaza einsetzen. Sie tun dies, indem sie vorsätzlich die Lieferung von Wasser, Nahrungsmitteln und Treibstoff blockieren, gezielt humanitäre Hilfsmaßnahmen behindern, Flächen zerstören, die offensichtlich nur landwirtschaftlich genutzt werden, und der Zivilbevölkerung Dinge vorenthalten, die überlebenswichtig für sie sind. Dies geschieht im Rahmen einer von israelischen Behörden festgelegten und von israelischen Streitkräften umgesetzten Politik.

Israel hat unaufhörlich Luftangriffe auf den Gazastreifen ausgeübt. Hierbei wurden Schulen und Krankenhäuser getroffen, große Teile von Stadtvierteln in Schutt und Asche gelegt und 60 % der Wohneinheiten im Gazastreifen zerstört oder beschädigt, auch bei Angriffen, die offensichtlich rechtswidrig waren. Die israelischen Behörden haben zudem alle Bewohner*innen des nördlichen Gazastreifens aufgefordert, das Gebiet zu verlassen, wodurch bis zum 30. Januar 1,7 Millionen Menschen, die große Mehrheit der Bevölkerung des Gazastreifens, vertrieben wurden. Nach Angaben des Hilfswerks wurden seit dem 7. Oktober 152 UNRWA-Mitarbeitende getötet und 141 UNRWA-Einrichtungen bei 252 „Zwischenfällen“ im Zusammenhang mit den Feindseligkeiten beschädigt.

Human Rights Watch hat Israels wichtigste Verbündete - darunter die Vereinigten Staaten, das Vereinigte Königreich, Kanada und Deutschland - aufgefordert, die Militärhilfen und die Waffenverkäufe an Israel auszusetzen, solange die israelischen Streitkräfte ungestraft weit verbreitete, schwerwiegende Übergriffe begehen, die Kriegsverbrechen gegen palästinensische Zivilist*innen darstellen. Im Gegensatz zur raschen Aussetzung der Finanzmittel für das UNRWA während der laufenden Ermittlungen - obwohl ihnen schwerwiegende Vorwürfe möglicher Kriegsverbrechen zur Kenntnis gebracht wurden - liefern die USA, Großbritannien, Kanada und Deutschland weiterhin Waffen und und leisten Militärhilfe an Israel, obwohl sich die Beweise für schwerwiegende Übergriffe häufen, so Human Rights Watch.

Hilfsorganisationen haben auch darauf hingewiesen, wie wichtig und notwendig die Arbeit der UNRWA in Gaza ist. In einer gemeinsamen Erklärung erklärten 21 humanitäre Organisationen, sie seien „schockiert über die rücksichtslose Entscheidung, eine Lebensader für eine ganze Bevölkerung zu kappen, und zwar ausgerechnet von den Ländern, die eine Aufstockung der Hilfe in Gaza und den Schutz der humanitären Helfer*innen bei ihrer Arbeit gefordert hatten“. Auch der Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation und Ärzte ohne Grenzen appellierten an die Geber, ihre UNRWA-Hilfen nicht auszusetzen.

Die Integrated Food Security and Nutrition Phase Classification (IPC), eine von mehreren Partnern getragene Initiative, die regelmäßig Informationen über das Ausmaß und die Schwere der weltweiten Ernährungsunsicherheit und Unterernährung veröffentlicht, kam in einem Ende Dezember veröffentlichten Bericht zu dem Schluss, dass die gesamte Bevölkerung des Gazastreifens von akuter Ernährungsunsicherheit oder schlimmerem betroffen ist. Die IPC erklärte, dass praktisch allen Palästinenser*innen im Gazastreifen täglich Mahlzeiten fehlen, wobei viele Erwachsene hungern, damit die Kinder essen können, und dass die Bevölkerung von einer Hungersnot bedroht ist, sollten sich die derzeitigen Bedingungen nicht ändern. Die IPC fügte hinzu: „Dies ist der höchste Anteil an Menschen, die mit einem hohen Maß an akuter Ernährungsunsicherheit konfrontiert sind, den die IPC-Initiative je für ein bestimmtes Gebiet oder Land ermittelt hat.“

UNRWA wurde 1949 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen gegründet, um palästinensischen Flüchtlingen zu helfen. Das Hilfswerk beschäftigt 30.000 Mitarbeitende. Es leistet direkte humanitäre Hilfe und führt Entwicklungs- und Schutzprogramme für mehr als 5,9 Millionen palästinensische Flüchtlinge durch, die bei dem Hilfswerk registriert sind und im Gazastreifen, im Westjordanland, einschließlich Ost-Jerusalem, sowie in Syrien, im Libanon und in Jordanien leben. Mehr als die Hälfte der regulären Mittel der Organisation ist für Bildungsmaßnahmen bestimmt. UNRWA beherbergt zudem über 1 Million vertriebene Palästinenser*innen in 150 Einrichtungen im Gazastreifen, darunter auch ihre Schulen. Seit dem 7. Oktober wurden mindestens 357 Menschen, die in den Einrichtungen des Hilfswerks untergebracht waren, getötet und 1.255 verletzt.

Einige israelische Beamte und Mitglieder des US-Kongresses haben sich auf die aktuellen Vorwürfe bezogen, um eine seit langem laufende Kampagne gegen UNRWA voranzutreiben. Nach Bekanntwerden der jüngsten Anschuldigungen betonte Israels Außenminister Israel Katz am 27. Januar die seit langem bestehende Ablehnung der israelischen Regierung gegenüber UNRWA und behauptete unter anderem, dass das UN-Hilfswerk „das Flüchtlingsproblem aufrechterhält“. Katz teilte mit, dass die israelische Regierung „unter seiner Führung“ beabsichtige, „in den USA, der Europäischen Union und anderen Ländern weltweit parteiübergreifende Unterstützung für diese Politik zu gewinnen, die darauf abzielt, die Aktivitäten des UNRWA im Gazastreifen zu beenden“.

Nach Ansicht der Direktoren des Ständigen interinstitutionellen Ausschusses hat „keine andere Organisation die Kapazitäten, den 2,2 Millionen Menschen in Gaza in diesem Umfang die dringend benötigte Hilfe zu leisten“. Janti Soeripto, Präsidentin und CEO von Save the Children, bezeichnete es als „Wunschdenken“, wenn Regierungen glaubten, andere Hilfsorganisationen könnten UNRWA in Gaza ersetzen. Der Leiter des Norwegischen Flüchtlingsrats sagte, dass andere humanitäre Gruppen zusammengenommen „nicht einmal annähernd dem gleichkommen, was UNRWA für die Menschen in Gaza bedeutet“.

Als Besatzungsmacht ist Israel verpflichtet, dafür zu sorgen, dass die humanitären Bedürfnisse der Bevölkerung in Gaza befriedigt werden. Der Internationale Gerichtshof (IGH) ordnete am 26. Januar im Rahmen der Klage Südafrikas gegen Israel wegen mutmaßlicher Verstöße gegen die Völkermordkonvention vorläufige Maßnahmen an. Das Gericht erließ verbindliche Anordnungen, die Israel u.a. dazu verpflichten, sofortige und wirksame Maßnahmen zu ergreifen, um die dringend benötigte Grundversorgung und humanitäre Hilfe für die Palästinenser*innen im Gazastreifen zu ermöglichen und die schlechten Lebensbedingungen zu verbessern. Das Gericht wies Israel an, innerhalb eines Monats über die Umsetzung der Anordnungen Bericht zu erstatten.

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