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Israelische Streitkräfte dringen in das Ostjerusalemer Haus von Khayri A. ein, der am 27. Januar 2023 sieben Zivilisten in der israelischen Siedlung Neve Yaakov getötet hat, um es zu versiegeln und schließlich abzureißen. © 2023 Ahmad Gharabli/AFP via Getty

(Jerusalem) - Das Vorgehen der israelischen Behörden, die Häuser zweier Palästinenser im besetzten Westjordanland zu versiegeln, die verdächtigt werden, Angriffe auf Israelis verübt zu haben, stellt eine Kollektivstrafe und somit ein Kriegsverbrechen dar.

Diese Strafmaßnahme, auf die israelische Behörden nach eigenen Angaben den Abriss der Häuser folgen lassen werden, erfolgt inmitten der ansteigenden Gewalt, die seit dem 1. Januar dieses Jahres bereits 35 Palästinenser*innen und 7 Israelis das Leben gekostet hat. Es gab Razzien der israelischen Armee, die unrechtmäßig palästinensische Städte und Flüchtlingslager angreift, sowie palästinensische Angriffe auf Israelis und Angriffe auf Palästinenser*innen und ihr Eigentum durch israelische Siedler*innen. Letztere werden für diese Verbrechen nur selten zur Rechenschaft gezogen. 

„Vorsätzliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung sind verwerfliche Verbrechen“, sagte Omar Shakir, Direktor für Israel und Palästina bei Human Rights Watch. „Aber so wie kein Missstand den vorsätzlichen Angriff auf Zivilist*innen in Neve Yaakov rechtfertigen kann, können eben solche Angriffe auch nicht rechtfertigen, dass die israelischen Behörden mutwillig die Familien von verdächtigten Palästinensern bestrafen, indem sie deren Häuser abreißen und sie auf die Straße setzen.“

Einer der mutmaßlichen palästinensischen Angreifer, Khayri A., eröffnete am 27. Januar in der israelischen Siedlung Neve Yaakov im besetzten Ostjerusalem das Feuer und tötete sieben Zivilist*innen, darunter ein Kind, und verletzte drei weitere Personen, bevor er von israelischen Sicherheitskräften tödlich getroffen wurde. Der Angriff erfolgte einen Tag, nachdem israelische Streitkräfte bei einer Razzia im Flüchtlingslager Dschenin zehn Palästinenser*innen, darunter zwei Kinder und eine 61-jährige Frau, getötet und mindestens 20 Personen verletzt hatten.

Im Januar töteten israelische Streitkräfte nach Angaben des Gesundheitsministeriums der Palästinensischen Behörde 35 Palästinenser*innen, darunter 8 Kinder. Bei keinem anderen Vorfall wurden im Januar so viele Menschen getötet wie bei der Razzia am 26. Januar im Flüchtlingslager Dschenin. Die israelischen Behörden erklärten, ihre Streitkräfte seien in das Lager eingedrungen, um Mitglieder bewaffneter palästinensischer Gruppen festzunehmen, die angeblich Anschläge auf Israelis verübt hätten. Augenzeug*innen berichteten von einem Schusswechsel, bei dem sowohl vermeintliche Kämpfer als auch Zivilist*innen getötet wurden. Der Palästinensische Rote Halbmond erklärte, die israelischen Streitkräfte hinderten Sanitätsdienste daran, das Lager zu betreten, um Verletzte zu behandeln.

Schon 10 Monate vor der Razzia vom 26. Januar hatte die israelische Armee begonnen, verstärkt Razzien im Westjordanland durchzuführen, nachdem im März 2022 mehrere tödliche Angriffe von Palästinensern in Israel verübt worden waren. Nach Angaben des Büros der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten töteten israelische Streitkräfte im vergangenen Jahr 187 Palästinenser*innen im Westjordanland, darunter 43 Kinder, und damit mehr als in jedem anderen Jahr, seit die Vereinten Nationen 2005 mit der systematischen Erfassung der Todesopfer begonnen haben. Die israelischen Streitkräfte wenden routinemäßig übermäßige oder unnötige tödliche Gewalt gegen palästinensische Zivilist*innen an, werden dafür jedoch nur selten zur Rechenschaft gezogen.

Am 28. Januar schoss ein 13-jähriger palästinensischer Junge im Ostjerusalemer Stadtteil Silwan auf zwei Israelis, einen Zivilisten und einen Soldaten, der zu diesem Zeitpunkt nicht im Dienst war. Beide wurden schwer verletzt, wie von Human Rights Watch gesichtetes Videomaterial zeigt. Der Junge wurde von einer Person verwundet und ins Krankenhaus eingeliefert. Keine bewaffnete palästinensische Gruppe bekannte sich zu den Anschlägen in Neve Yaakov oder Silwan.

Die israelische Polizei erklärte, sie habe im Zusammenhang mit dem Anschlag in Neve Yaakov 42 Personen festgenommen, darunter viele Verwandte und Bekannte von Alqam. Die meisten wurden am nächsten Tag wieder freigelassen, einige befinden sich jedoch noch in Haft, so ein Anwalt, der Alqams Familie vertritt, am 31. Januar gegenüber Human Rights Watch. Das israelische Sicherheitskabinett genehmigte zudem die Versiegelung des Hauses von Alqams Familie, was die Behörden sofort umsetzten.

Ein Anwalt des palästinensischen Jungen, der den Anschlag in Silwan verübt haben soll, teilte Human Rights Watch mit, dass sich die Mutter, der Vater und der Bruder des Jungen seit dem Anschlag in israelischer Haft befinden. Das Kabinett beschloss außerdem, das Haus der Familie des Jungen zu versiegeln. Die israelischen Streitkräfte haben die Kontrolle über das Haus übernommen, sagte der Anwalt.  

Als Reaktion auf den Angriff in Neve Yaakov haben die israelischen Behörden auch eine Reihe weiterer Maßnahmen ergriffen. Sie haben die Bestrafung palästinensischer Grundstückseigentümer*innen wegen „illegaler Bautätigkeit“ in Ostjerusalem verschärft. Dies führte bereits zum Abriss von Häusern von Palästinenser*innen, die kaum eine Chance auf eine neue Baugenehmigung haben. Die israelischen Behörden haben außerdem angekündigt, die völkerrechtswidrigen Siedlungen im Westjordanland „ausbauen“ zu wollen, und haben ein Gesetz vorgelegt, das den Entzug der Staatsbürgerschaft oder des ständigen Wohnsitzes für alle Personen vorsieht, die einen „terroristischen Akt“ begehen; dieses Gesetz wurde am 31. Januar in der israelischen Knesset in erster Lesung verabschiedet.

Israelische Menschenrechtsgruppen haben seit dem Anschlag von Neve Yaakov einen Anstieg der Gewalt durch Siedler*innen im Westjordanland dokumentiert. Zwischen 2005 und 2021 stellte die israelische Polizei 92 Prozent der Ermittlungen gegen Siedler*innen, die Palästinenser*innen angegriffen hatten, ein, ohne dass Anklage erhoben wurde, so die israelische Menschenrechtsgruppe Yesh Din.

Das humanitäre Völkerrecht, darunter die Haager Bestimmungen von 1907 und die Bestimmungen der Vierten Genfer Konvention, verbietet Kollektivstrafen, einschließlich der vorsätzlichen Schädigung der Angehörigen von Personen, die beschuldigt werden, Verbrechen begangen zu haben, unter allen Umständen. Gerichte in aller Welt werten Kollektivstrafen als Kriegsverbrechen. Der Oberste Gerichtshof Israels hat jedoch stets die Behauptung zurückgewiesen, dass die Praxis der israelischen Regierung, Häuser in den besetzten palästinensischen Gebieten zu Strafzwecken abzureißen, einer Kollektivstrafe gleichkommt.

Verschiedene Arten von Kollektivstrafen, wie etwa der Abriss von Häusern als Sanktion und die pauschale Einschränkung der Bewegungsfreiheit aller Menschen in einem bestimmten Gebiet oder bestimmter Gemeinden auf der Grundlage von Handlungen einer kleineren Untergruppe, gehören zu den Maßnahmen, die die israelischen Behörden zur systematischen Unterdrückung der Palästinenser*innen einsetzen, so Human Rights Watch. Human Rights Watch hat festgestellt, dass diese Unterdrückung durch die israelischen Behörden in Verbindung mit dem unmenschlichen Vorgehen gegen die Palästinenser*innen als Teil einer Politik zur Sicherung der Vorherrschaft Israels über die Palästinenser*innen den Verbrechen gegen die Menschlichkeit der Verfolgung und Apartheid gleichkommt.

Correction

2/2/2023: This press release has been edited after publication to update casualty figures.

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