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Iran: Sicherheitskräfte feuern tödliche Schüsse auf Demonstrierende

Internationaler Druck nötig, um tödliche Gewalt durch Sicherheitskräfte zu beenden

Iranische Demonstrierende marschieren eine Straße in Teheran entlang. 1. Oktober 2022. © 2022 Getty

(Beirut) – Die iranischen Behörden gehen rücksichtslos, mit exzessiver und tödlicher Gewalt gegen Menschen vor, die im ganzen Land gegen die Regierung demonstrieren, so Human Rights Watch heute.

Anhand von Videos von Protesten und Interviews mit Zeug*innen und einem Mitglied der Sicherheitskräfte dokumentierte Human Rights Watch zahlreiche Vorfälle, bei denen Sicherheitskräfte in 13 iranischen Städten unrechtmäßig exzessive oder tödliche Gewalt gegen Demonstrierende einsetzten. Videos zeigen, wie Sicherheitskräfte mit Schrotflinten, Sturmgewehren und Handfeuerwaffen gegen Demonstrierende bei überwiegend friedlichen und oft dicht gedrängten Protesten vorgingen und dabei insgesamt Hunderte Menschen töteten oder verletzten. In einigen Fällen wurde auf Menschen geschossen, die weglaufen wollten.

„Die brutale Reaktion der iranischen Behörden auf die Proteste in vielen Städten deutet auf eine koordinierte Aktion der Regierung hin, die kritische Stimmen unter grausamer Missachtung des Lebens zum Schweigen bringen soll“, sagte Tara Sepehri Far, leitende Iran-Forscherin bei Human Rights Watch. „Die vielen Schüsse der Sicherheitskräfte auf Demonstrierende fachen die Wut gegen die korrupte und autokratische Regierung nur weiter an.“

Die Proteste begannen am 16. September 2022, nachdem die 22-jährige Mahsa (Jina) Amini im Gewahrsam der sogenannten iranischen „Sittenpolizei“ gestorben war. Die betroffenen Regierungen sollten zusammenarbeiten, um den Druck auf Iran zu erhöhen und eine unabhängige Untersuchung unter der Leitung der Vereinten Nationen zu den schwerwiegenden Übergriffen während der Proteste einzuleiten und Empfehlungen auszusprechen, wie die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden können.

Human Rights Watch überprüfte 16 in sozialen Medien veröffentlichte Videos, die die Proteste vom 17. bis 22. September zeigen. Zu sehen ist, wie die Polizei und andere Sicherheitskräfte massiv und mit tödlicher Gewalt gegen Demonstrierende in der Hauptstadt Teheran und in den Städten Divandarreh, Garmsar, Hamedan, Kerman, Mashhad, Mehrshahr, Rasht und Shiraz vorgehen. Die Videos zeigen auch, wie Sicherheitskräfte Schusswaffen wie Handfeuerwaffen und Sturmgewehre im Stil von Kalaschnikows einsetzten. Human Rights Watch befragte außerdem fünf Zeug*innen der Übergriffe in Sanandaj, Marivan, Saghez und Mashhad sowie einen Angehörigen der Sicherheitskräfte.

Human Rights Watch analysierte zudem Foto- und Videomaterial, das schwere und manchmal tödliche Verletzungen von Demonstrierenden zeigt. Das tödliche Durchgreifen der Sicherheitskräfte in Zahedan am 30. September und die darauf folgenden Angriffe auf Demonstrierende, unter anderem auf dem Campus der Sharif-Universität in Teheran am 2. Oktober, wurden bei dieser Untersuchung nicht berücksichtigt.

Human Rights Watch hat die Namen von 47 Personen zusammengetragen, die nach Angaben von Menschenrechtsgruppen oder glaubwürdigen Medien bei Protesten getötet wurden, die meisten durch Schüsse. Darunter waren mindestens neun Kinder, zwei davon Mädchen, und sechs Frauen. Laut iranischen Staatsmedien belief sich die Zahl der Todesopfer bis zum 30. September auf rund 60. Sie meldeten auch den Tod von zehn Mitgliedern der Sicherheitskräfte. Die tatsächliche Zahl der Todesopfer unter den Demonstrierenden ist wahrscheinlich wesentlich höher. Die iranischen Behörden unterbrechen in weiten Teilen des Landes immer wieder den Internetzugang und blockieren Messaging-Apps, was die Dokumentation und Verifizierung erschwert.

„Wir hatten uns versammelt, um zu singen, als Sicherheitskräfte auf Motorrädern auf uns zukamen“, sagte eine 35-jährige Frau aus der Stadt Sanandaj über einen Protest, der am 17. September in der Nähe der Gendarmerie (Palästina)-Kreuzung stattfand. „Wir rannten in eine Gasse, sie verfolgten uns und fingen an, Tränengas einzusetzen und einige begannen, zu schießen. Einem Mann hinter uns wurde ins Bein geschossen und er fiel zu Boden. Die Leute schleppten ihn in eine andere Gasse, in das Haus von jemandem. [...] Seine Wunde blutete sehr stark und war sehr tief.“

In einem Video, das in der Stadt Shahre-Rey südlich von Teheran aufgenommen wurde, ist ein Mitglied der Sicherheitskräfte in Tarnkleidung zu sehen, das von anderen Personen in Einsatzkleidung umgeben ist. Die Person nimmt mit einem Sturmgewehr, das einer Kalaschnikow ähnelt, zweimal nicht sichtbare Ziele ins Visier und schießt. In einer weiteren Aufnahme, die in der Stadt Rasht gemacht wurde, feuert ein Polizeibeamter, der ein Team von Bereitschaftspolizisten anführt, mit einer Handfeuerwaffe.

Human Rights Watch überprüfte und verifizierte auch vier Videos, auf denen zu sehen ist, wie Sicherheitskräfte auf Menschenmengen von Demonstrierenden schießen, von denen einige fliehen. Mindestens vier Videos zeigen, wie Sicherheitskräfte Schrotflinten verwenden, die mit Munition geladen werden können, die mehrere Gummi- oder Metallkugeln gleichzeitig abfeuert. Ein Mitglied der Sicherheitskräfte bestätigte, dass die Polizeikräfte „in der Regel Winchester-Schrotflinten mit unterschiedlicher Munition – Gummi- oder Metallkugeln – verwenden“.

Eine Frau aus der Stadt Sanandaj sagte, dass die Sicherheitskräfte dort am 21. September mit so genannter „weniger tödlicher“ Munition direkt auf ihren oberen Brustkorb geschossen und ihr oberflächliche Verletzungen zugefügt hätten, als sie sie bat, einen Teenager nicht festzunehmen.

„[Die Sicherheitskräfte] rannten auf einen 13-jährigen Jungen zu, der in der Menge stand“, sagte sie. „Er war so zart und klein, dass er sich nicht einmal wehrte. Er lag im Gras und schützte seinen Kopf, während sie auf ihn einschlugen. Ich schrie ‚Lasst ihn in Ruhe!‘ und bin auf sie zu gerannt. Sie schossen in die Luft und die Leute rannten weg, während sie den Jungen über die Straße schleppten. Während ich rannte, rief ich immer wieder ‚Er ist mein Bruder!‘, weil ich dachte, dass ich damit ihr Mitleid erwecken würde. Ich sah, wie sich ein Polizist umdrehte, sich hinkniete und auf mich zielte. Ich sah das Feuer aus seiner Waffe kommen. Ich bekam Angst und rannte weg. Ich hatte ein brennendes Gefühl, bis ich nach Hause kam und merkte, dass ich in die Brust getroffen wurde.“

Die UN-Grundprinzipien für den Einsatz von Gewalt und Schusswaffen verbieten den Einsatz von Schusswaffen, es sei denn, es besteht unmittelbare Gefahr für Leib und Leben. Der UN-Menschenrechtsausschuss, der die Einhaltung des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte überwacht, hat erklärt, dass „Schusswaffen kein geeignetes Mittel für die polizeiliche Überwachung von Versammlungen sind und niemals lediglich zur Auflösung einer Versammlung eingesetzt werden dürfen.... [Jeglicher Schusswaffengebrauch durch Strafverfolgungsbeamte im Rahmen von Versammlungen muss sich auf gezielte Personen unter Umständen beschränken, unter denen es zwingend notwendig ist, einer unmittelbaren Bedrohung von Leib und Leben zu begegnen“.

In den UN-Leitlinien für „weniger tödliche Waffen“ bei der Strafverfolgung aus dem
Jahr 2020 heißt es: „Mehrere gleichzeitig abgefeuerte Projektile sind ungenau, und ihr Einsatz kann im Allgemeinen nicht mit den Grundsätzen der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit in Einklang gebracht werden. Metallkugeln, wie sie aus Schrotflinten abgefeuert werden, sollten niemals verwendet werden“.

Eine Frau aus der Stadt Saghez in der Provinz Kurdistan berichtete, dass Sicherheitskräfte am 18. September, dem zweiten Tag der Proteste in der Stadt, auf ihre Gruppe von Demonstrierenden schossen, als ihre Freundin filmte, wie Sicherheitskräfte mit Schlagstöcken gegen die Metalltür eines Hauses schlugen. Sie waren gezwungen, in einem nahe gelegenen Haus Zuflucht zu suchen. Sie sagte: „Nach einiger Zeit, als wir uns sicher fühlten, verließen wir das Haus, aber die Sicherheitskräfte versteckten sich hinter den Bäumen am Ende der Straße und begannen von hinten auf uns zu schießen, als wir wegliefen.“

Human Rights Watch untersuchte zwei Fotos, die laut Rohini Haar, einer unabhängigen medizinischen Sachverständigen, Demonstrierende mit schweren Verletzungen zeigen, die „charakteristisch“ für Verletzungen sind, die durch Metallkugeln verursacht wurden.

In zwei teils verstörenden Videos, die nachweislich in der Stadt Kerman aufgenommen wurden, sind Demonstrierende zu sehen, die eine bewusstlose, am Kopf blutende Frau wegtragen, während eine große Menschenmenge davonläuft.

Auf den Videos ist auch zu sehen, wie Polizeibeamte und andere Mitglieder der Sicherheitskräfte, darunter auch Beamte in Zivil, Seite an Seite mit der Polizei arbeiten und friedliche Demonstrierende und Umstehende mit Schlagstöcken malträtieren, treten und verprügeln. Die Polizeikräfte setzten auch andere Waffen ein, darunter Pfefferspray- und Schreckschusspistolen.

Die 35-jährige Frau sagte, sie habe am 1. Oktober gesehen, wie Sicherheitskräfte eine Gruppe friedlich protestierender Frauen in Sanandaj mit Metallseilen und Schlagstöcken angegriffen hätten. Daraufhin „fingen auch wir an zu protestieren“, sagte sie. „Sie stürmten auf uns und den Rest der Menge zu. ... Eine Person in Zivil schlug auf eine Frau ein. Ich ging nach vorne, beschimpfte ihn und sagte ihm, er solle das lassen. Er kam wieder auf mich zu und schlug mit einem Metallseil auf mich ein. Einer von ihnen packte mich am Hals, als ich wegwollte, und die anderen beiden kamen und schlugen mich ein oder zwei Mal.“ Sie zeigte Fotos von Hämatomen auf ihrem Rücken, Arm und Bauch, die ihren Angaben nach von den Schlägen herrühren.

Human Rights Watch stellte fest, dass die meisten Menschen friedlich demonstrierten, manche jedoch Steine und andere Gegenstände warfen. In einigen Fällen griffen Demonstrierende die Sicherheitskräfte an. Die Gewalt durch die Demonstrierenden rechtfertigt jedoch nicht die übermäßige Gewaltanwendung durch die Sicherheitskräfte, so Human Rights Watch.

Iranische Demonstrant*innen auf den Straßen der Hauptstadt Teheran am 21. September 2022, während eines Protests für Mahsa Amini, die wenige Tage zuvor in Polizeigewahrsam gestorben war. © 2022 AFP via Getty Images

In Garmsar zeigen Videos deutlich, wie Sicherheitskräfte mit automatischen Waffen auf Demonstrierende schießen, die Steine und andere Gegenstände auf eine Polizeistation werfen. In einem Video ist zu sehen, wie ein Demonstrant, der offenbar keine unmittelbare Gefahr für die Sicherheitskräfte darstellte, zusammenbricht, sobald Schüsse zu hören sind. Auf einem später aufgenommenen Video ist zu sehen, wie der Demonstrant mit einer massiven Kopfverletzung stirbt.

Seit dem 16. September haben die iranischen Sicherheitskräfte zudem Hunderte von Aktivist*innen, Journalist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen außerhalb der Proteste festgenommen. Dazu gehören Niloufar Hamedi, eine Reporterin der Tageszeitung Shargh Daily, und Elaheh Mohammadi, eine Reporterin der Tageszeitung Hammihan. Beide hatten über den Tod von Mahsa (Jina) Amini berichtetet. Die Familie von Mahsa (Jina) Amini hat um ein unabhängiges medizinisches Gutachten gebeten, um die Todesursache zu klären.

Nach iranischem Recht kann die sog. „Sittenpolizei“ eine Geldstrafe oder eine Gefängnisstrafe von 10 Tagen bis zu zwei Monaten gegen Frauen verhängen, die sich ohne „korrekten“ Hijab in der Öffentlichkeit zeigen. Diese iranische Sittenpolizei verhaftet regelmäßig Frauen an öffentlichen Orten. In den letzten fünf Jahren wurden mehrere Aktivistinnen, darunter die prominente Anwältin Nasrin Sotoudeh sowie Yasman Ariani, Saba Kordafshari, Monireh Arabshahi, Mojgan Keshavarz und Farhad Meysami, wegen ihres friedlichen Widerstands gegen die Hijab-Pflicht strafrechtlich verfolgt.

Seit dem Ausbruch der Proteste haben die iranischen Behörden den Internetzugang im ganzen Land massiv gestört. Auf Anordnung des iranischen Nationalen Sicherheitsrates wurden seit dem 21. September mehrere soziale Medienplattformen blockiert, darunter der Messengerdienst WhatsApp und Instagram. In den vergangenen vier Jahren haben die iranischen Behörden das Internet während weit verbreiteter Proteste ganz oder teilweise abgeschaltet, um den Zugang zu Informationen zu beschränken und die Verbreitung von Informationen, insbesondere von Videos der Proteste, zu verhindern, so Human Rights Watch.

Internetabschaltungen verletzen zahlreiche Rechte, darunter das Recht auf freie Meinungsäußerung und Zugang zu Informationen sowie das Recht auf friedliche Versammlung und Vereinigung. Nach den internationalen Menschenrechtsgesetzen ist der Iran verpflichtet, sicherzustellen, dass Internetbeschränkungen gesetzlich vorgesehen sind und eine notwendige und angemessene Reaktion auf ein spezifisches Sicherheitsanliegen darstellen. Beamte sollten keine breit angelegten, wahllosen Abschaltungen vornehmen, um den Informationsfluss zu unterbrechen oder die Möglichkeiten der Zivilbevölkerung zur freien Versammlung und politischen Äußerung einzuschränken.

In den letzten vier Jahren kam es im Iran zu mehreren Serien von Massenprotesten. Die Behörden haben auf diese landesweiten Proteste mit exzessiver und tödlicher Gewalt und der willkürlichen Verhaftung Tausender Demonstrierender reagiert. Bei einer der brutalsten Niederschlagungen im November 2019 gingen die Sicherheitskräfte rechtswidrig mit exzessiver und tödlicher Gewalt gegen massive Proteste im ganzen Land vor. Amnesty International schätzt, dass bei den Protesten 2019 mindestens 340 Menschen getötet wurden. Seitens der Behörden gab es keine glaubwürdigen und transparenten Untersuchungen zu den schweren Übergriffen der Sicherheitskräfte.

„Die Menschen im Iran protestieren, weil sie den Tod von Mahsa (Jina) Amini und das harte Durchgreifen der Behörden nicht als isoliertes Ereignis betrachten, sondern als jüngstes Beispiel für die systematische Unterdrückung der eigenen Bevölkerung durch die Regierung“, sagte Sepehri Far.

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