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Military police officers patrol at a market in Budapest, Hungary, March 31, 2020.

Das Coronavirus in Europa: Von Ausgangssperre bis Machtausweitung

COVID-19 in Europa, Zentralasien und in der Türkei

© 2020 Zoltan Balogh/MTI via AP

Das Coronavirus hat sich in Italien und Spanien rasch verbreitet, so dass diese beiden Länder zu den weltweiten COVID-19-Hotspots zählen. Anderswo in Europa hat die ungarische Regierung das Virus als Vorwand benutzt, um seine Macht auszuweiten, wiederum andere nutzen es, um Kritiker zum Schweigen zu bringen. Hugh Williamson, Direktor der Abteilung Europa und Zentralasien bei Human Rights Watch (ECA), sprach mit Amy Braunschweiger über die Reaktionen der Regierungen auf das Virus - sowohl gute als auch schlechte - und darüber, wie ein rechtebasierter Ansatz zur Bewältigung dieser Gesundheitskrise dazu beitragen könnte, für mehr Sicherheit für die Menschen zu sorgen und die Ausbreitung des Virus einzudämmen.

Was sind Ihre größten Bedenken bezüglich des Coronavirus, das sich in Europa und Zentralasien verbreitet?

Europa ist eines der weltweiten Epizentren für COVID-19-Fälle. In Italien und Spanien gibt es furchtbar viele Todesfälle, wobei die Zahl der Toten jeden Tag dramatisch ansteigt, ebenso in Frankreich und Großbritannien. Wir sind wirklich besorgt um das Wohl der Menschen in der gesamten Region.

Aus menschenrechtlicher Sicht geht es darum, dass die Regierungen alles tun, um das Recht auf Gesundheit zu wahren und zu schützen. Das bedeutet auch, dass alle Menschen Zugang zu medizinischer Versorgung haben müssen. Der Schlüssel dazu ist der Schutz von Risikogruppen wie älteren Menschen, Menschen mit Behinderungen und Menschen mit Vorerkrankungen. Diese Menschen müssen in einer Weise geschützt werden, die sie unterstützt und nicht einschränkt.

Police patrol near the Arc de Triomphe on the first day of confinement due to COVID-19, Paris, France, March 17, 2020.

This document provides an overview of human rights concerns posed by the coronavirus outbreak and recommends ways governments and other actors can respect human rights in their response.

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Es geht um die Rechte von Frauen, die während der Krise den Großteil der Pflegearbeit leisten und um die damit verbundenen Risiken. Frauen sind zudem einem erhöhten Risiko häuslicher Gewalt während der Ausgangssperren ausgesetzt. Menschen in Gefängnissen oder Abschiebehaft sind aufgrund der überfüllten, manchmal unhygienischen Bedingungen einem hohen Risiko ausgesetzt. Und die Mitarbeiter des Gesundheitswesens, die an vorderster Front stehen, brauchen Schutz und Unterstützung - sie leisten die härteste Arbeit.

 

Welche Reaktionen von Regierungen auf das Virus schaden den Menschenrechten?

Einige Regierungen nutzen die COVID-19-Krise als Vorwand, um sich mehr Macht zu verschaffen. Am 30. März verabschiedete das ungarische Parlament ein drakonisches Notstandsgesetz, das es Ministerpräsident Orban ermöglicht, Gesetze auszusetzen, das Parlament zu umgehen und beliebig viele Dekrete zu erlassen. Beunruhigend ist, dass Journalisten und andere Menschen, die Kritik an Orban üben, beschuldigt werden können, „falsche Fakten“ oder „verzerrte Fakten“ zu verbreiten. Betroffenen würden hierfür Freiheitsstrafen von bis zu fünf Jahren drohen. Dies ist ein Ausverkauf der Menschenrechte und der grundlegenden demokratischen Prinzipien der EU-Verträge. Dies alles erfolgt im Namen der Bekämpfung des Coronavirus.

Eine weitere Regierung, die unter dem Deckmantel der Bekämpfung der COVID-19-Krise Schritte zur Machtausweitung unternimmt, sitzt in Aserbaidschan. Im März wurde der prominente Oppositionsführer Tofig Yagublu unter dem Vorwurf des Rowdytums verhaftet, kurz nachdem der Präsident des Landes angekündigt hatte, er werde die Maßnahmen, die zur Bekämpfung des Coronavirus verabschiedet wurden, gegen die Opposition einsetzen.

Wir beobachten, wie Notstandsgesetze in der gesamten Region umgesetzt werden, um zu überprüfen, ob sie nicht missbraucht werden. In Großbritannien prüfen wir die Tatsache, dass die Regierung die Inhaftierung von Menschen aus Gründen der psychischen Gesundheit erleichtert hat. Sie hat auch die Mechanismen abgeschwächt, durch die Menschen, die soziale Betreuung benötigen, qualitativ hochwertige Unterstützung erhalten. Wir sind schockiert darüber, dass in Kasachstan Hunderte Menschen wegen Verstößen gegen die Quarantänebestimmungen inhaftiert wurden - und das zu einer Zeit, in der die Zahl der Gefängnisinsassen unbedingt reduziert werden muss.

Wie sehen Reaktionen auf das Virus aus, die im Einklang mit den Menschenrechten stehen?

Das ist eine echte Herausforderung für die Regierungen. Das müssen wir akzeptieren. Die Regierungen in der gesamten Region müssen unglaublich schmerzhafte politische Entscheidungen treffen. Es liegt im besten Interesse der Menschen, dass die Regierungen zum Schutz ihrer Gesundheit zum Teil drastische Maßnahmen ergreifen, etwa indem sie die Bewegungen der Menschen kontrollieren und Unternehmen schließen. Wenn sie diese Maßnahmen ergreifen, sollten die Regierungen hierfür entsprechende Fristen festlegen und über eine gute parlamentarische Kontrolle verfügen. Meistens ist das auch der Fall. Wir wissen das zu schätzen, aber wir müssen die Regierungen auch weiterhin zur Rechenschaft ziehen.

Viele Regierungen, nicht nur in den wohlhabenderen europäischen Ländern, haben versucht, den von der Krise wirtschaftlich schwer getroffenen Bürgern zu helfen. In Kirgisistan und Usbekistan wird Mietern, die ihre Rechnungen für Strom, Gas, Wasser oder ihren Internetanschluss nicht bezahlen können, mehr Zeit dafür eingeräumt. Kasachstan leistet monatliche Zahlungen an Menschen ohne Papiere und an Menschen, die kürzlich arbeitslos geworden sind.

Einige Länder setzen sich dafür ein, Frauen und Mädchen weiterhin Zugang zu Leistungen für die reproduktive Gesundheit zu ermöglichen. England, Schottland und Wales haben zum Beispiel angekündigt, Frauen zu erlauben, die für eine medikamentöse Abtreibung erforderlichen Tabletten zu Hause zu nehmen, anstatt hierfür in eine Klinik fahren zu müssen.

Migrants gather as riot police guard a gate in Moria refugee camp on the northeastern Aegean island of Lesbos, Greece, March 16, 2020.  © 2020 AP Photo/Panagiotis Balaskas

 

Was bedeutet COVID-19 für Flüchtlinge in Griechenland und anderswo?

Die Situation in vielen Teilen Griechenlands ist dramatisch. Auf den griechischen Inseln sind Zehntausende Menschen in Flüchtlingslagern zusammengepfercht, die eigentlich nur für ein paar Tausend Menschen ausgelegt sind. Die Regierung hat den ganzen März über die Annahme von Asylanträgen abgelehnt, was gegen EU-Recht und das Völkerrecht verstößt. Wir brauchen bessere Einrichtungen und eine Aufteilung der Asylsuchenden auf kleinere Einrichtungen - wie etwa Hotels und Wohnungen - in ganz Griechenland. Dies ist besonders wichtig für Menschen mit Vorerkrankungen und andere Risikogruppen. Wir brauchen bessere Unterkünfte und bessere Waschgelegenheiten, wir brauchen ausreichend Toiletten und Seife. Und dies alles muss auch für Menschen mit Behinderungen zugänglich sein.

Außerdem müssen die EU-Länder die Umsiedlung von Asylbewerbern aus Griechenland beschleunigen. Europa hat sich verpflichtet, 1.600 unbegleitete Kinder aus diesen schrecklichen Lagern aufzunehmen. Dies sollte schnell passieren.

Die Herausforderungen für Menschen, die in Abschiebehaft gehalten werden, bestehen in vielen Ländern. Wir glauben, dass dort eine besondere Gefahr einer Verbreitung des Virus besteht. Wir fordern die Regierungen auf, die Menschen freizulassen, deren Abschiebung nicht unmittelbar bevorsteht und die keine Gefahr für die Öffentlichkeit darstellen.

Solche Freilassungen laufen gerade an. Spanien hat angekündigt, Menschen aus der Abschiebehaft zu entlassen. Belgien und Großbritannien haben in den vergangenen Wochen jeweils 300 Menschen freigelassen. So muss es weitergehen.

Wie gut sind die ECA-Länder auf COVID-19 vorbereitet, was ihre Infrastruktur betrifft?

Das Coronavirus legt Schwächen in der Infrastruktur offen, die schnell behoben werden müssen.

Es gibt viele strukturelle Barrieren für den Zugang zu medizinischer Versorgung, auch ohne das Virus. Hierzu gehören Leistungen und Medikamente, die Patienten privat zahlen müssen. Diese können ärmere Menschen sich oft nicht leisten. Auch haben ethnische Minderheitengruppen und Menschen mit Behinderungen Probleme, eine angemessene medizinische Versorgung zu erhalten. Es besteht die Gefahr, dass diese Probleme sich während der Krise noch verschärfen.

Wir müssen sicherstellen, dass die Regierungen die Beschäftigten im Gesundheitswesen unterstützen. In fast allen Ländern besteht ein gravierender Mangel an Schutzmasken, Handschuhen und anderen wichtigen Dingen.

In Großbritannien sind Kinder aus armen Familien, die ihre Hauptmahlzeit in der Schule einnehmen, dem Risiko ausgesetzt, zu hungern. Die Regierung und die lokalen Behörden haben mittlerweile Programme ins Leben gerufen, um kostenlose Schulmahlzeiten durch Supermarktgutscheine oder andere Vorkehrungen zu ersetzen. Das ist ein guter Schritt.

Auch ältere Menschen in Großbritannien leiden unter der Krise. Die Regierung muss dringend die soziale Versorgung älterer Menschen, vor allem in England, verbessern, um sicherzustellen, dass sie während dieser Zeit gesund bleiben. Stattdessen hat sie die Anforderungen an die Bewertung der Sozialfürsorge und Fürsorgevereinbarungen ausgesetzt.

Dazu kommt ein problematischer Einsatz der Infrastruktur. Moskau installiert gerade eines der größten Überwachungskamerasysteme der Welt. Die Behörden wollen diese Kameras und möglicherweise auch ein Online-Registrierungssystem nutzen, um Personen auszumachen, die gegen die Quarantäneauflagen verstoßen und um Zugang zu persönlichen Finanztransaktionen zu erhalten. Der Einsatz von Technologie im Kampf gegen das Virus muss nicht per se schlecht sein. Allerdings gibt die Menschenrechtslage in Russland hier Anlass zur Sorge. In Armenien haben die Behörden ein Gesetz verabschiedet, das sehr weitreichende Überwachungsbefugnisse für die Verwendung von Handydaten zur Identifizierung, Isolierung und Überwachung von Coronavirus-Fällen vorsieht, alles auf Kosten der Privatsphäre.

Wer in der Region ist am stärksten von dem Virus bedroht?

Zusätzlich zu den von mir erwähnten Gruppen würde ich sagen, Menschen im Gefängnis. Die Haftanstalten sind oft eng und überfüllt. Selbst im besten Gefängnis ist es schwierig, die Ausbreitung des Virus zu kontrollieren, was schlecht für die Gefangenen und das Personal ist. Italien hat die vorzeitige Entlassung einiger Gefangener unter Aufsicht genehmigt. Die türkische Regierung hat mit Plänen zur beschleunigten Freilassung von Personen aus den Gefängnissen aufgrund des Virus einen richtigen Schritt unternommen. Bestimmte Gefangene laufen jedoch Gefahr, ausgeschlossen zu werden. In der Türkei gibt es Zehntausende, die aufgrund von fadenscheinigen Terrorismusvorwürfen in Haft sitzen, insbesondere diejenigen, die angeblich mit der Gülen-Bewegung oder der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) in Verbindung stehen. Einige dieser Gefangenen sind bereits älter oder krank und könnten in den Gefängnissen sterben. Sie verdienen es, wie menschliche Wesen behandelt zu werden und bei ihren Familien zu sein.

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