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(Bagdad) – Irakische Regierungstruppen, die seit Januar 2014 gegen bewaffnete Gruppen in der westlichen Provinz Anbar kämpfen, haben das Krankenhaus von Falludscha wiederholt mit Mörsergranaten und anderer Munition beschossen, so Human Rights Watch heute. Die wiederholten Angriffe auf das Krankenhaus, auch mit zielgerichteten Schusswaffen, deuten stark darauf hin, dass die irakische Armee dieses gezielt unter Beschuss genommen hat. Dies wäre ein schwerer Verstoß gegen das Völkerrecht.

Seit Anfang Mai haben Regierungstruppen zudem Fassbomben auf Wohngebiete in Falludscha und Umgebung abgeworfen. Dies ist Teil einer Kampagne gegen Oppositionsgruppen wie den Islamischen Staat im Irak und Syrien (ISIS). Die wahllosen Angriffe haben zivile Opfer gefordert und Tausende Bewohner zur Flucht gezwungen.

„Die Regierung feuert seit mehr als vier Monaten wild auf Wohngebiete in Falludscha. Im Mai hat sie ihre Angriffe intensiviert“, so Fred Abrahams, Special Adviser bei Human Rights Watch. „Diese gefährliche Gleichgültigkeit gegenüber Zivilisten ist für die Menschen, die zwischen den Regierungstruppen und Oppositionsgruppen festsitzen, lebensgefährlich.“

Die bewaffneten Gruppen wie ISIS, die in Anbar gegen die Truppen der Regierung kämpfen, bekennen sich offen zur Hinrichtung gefangengenommener irakischer Soldaten. ISIS hat sich außerdem dazu bekannt, in Reaktion auf den Beschuss Falludschas Selbstmordanschläge und Anschläge mit Autobomben auf zivile Ziele in anderen Teilen des Irak verübt zu haben. Nach den Erkenntnissen von Human Rights Watch stellen die Menschenrechtsverletzungen von ISIS wahrscheinlich Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar.

In Falludscha hat ISIS entlang der wichtigsten Schnellstraße und in anderen Teilen der Stadt improvisierte Sprengsätze gelegt. Laut Aussagen von Anwohnern operierte die Gruppierung auch in Gefängnissen in Falludscha und andernorts.

Sechs von Human Rights Watch befragte Augenzeugen, darunter drei Krankenhausangestellte, machten glaubwürdige Aussagen zu den Angriffen der Regierungstruppen auf das zentrale Krankenhaus von Falludscha, die seit Januar wiederholt stattgefunden haben sollen. Dabei sollen die Krankenhausgebäude schwer beschädigt sowie Patienten und Mitarbeiter verletzt worden sein. Ein in Anbar stationierter Beamte der irakischen Sicherheitsbehörden, der unter der Bedingung der Wahrung seiner Anonymität mit Human Rights Watch sprach, gab an, die Regierungstruppen hätten das Krankenhaus zu 16 verschiedenen Zeitpunkten mit Mörsern und Artillerie beschossen.

Drei Angestellte des Krankenhauses sagten, die Mörsergranaten hätten mehrere Male die Notaufnahme, die Intensivstation, die zentrale Klimaanlage, einen Wohnanhänger, in dem Krankenhausmitarbeiter aus Bangladesch untergebracht waren, sowie andere Teile des Krankenhauses getroffen. Dabei seien vier Mitarbeiter aus Bangladesch, drei irakische Ärzte und eine unbekannte Zahl von Patienten verletzt worden, so die Befragten.

Die Berichte über wiederholte Angriffe über einen Zeitraum von vier Monaten decken sich mit Fotos, die gut erkennbare Schäden an den Krankenhausgebäuden zeigen. Dies deutet stark darauf hin, dass das Krankenhaus gezielt unter Beschuss genommen wurde.

Zwei Augenzeugen der Angriffe, darunter ein Krankenhausangestellter, berichteten, das Krankenhaus sei von regierungsfeindlichen, jedoch nicht zu ISIS gehörigen Kämpfern bewacht worden. Zudem seien dort verwundete Kämpfer behandelt worden. Der in Anbar stationierte, anonym befragte Sicherheitsbeamte sagte, nach den Informationen, die er im Rahmen seiner Arbeit und von Mitarbeitern des Krankenhauses erhalten habe, habe ISIS dieses teilweise besetzt und nutze die zweite Etage für die Behandlung verletzter Kämpfer und, um hochrangige Kommunalbeamte in den Verwaltungsbüros zu inhaftieren.

Das Kriegsrecht stellt alle Krankenhäuser – zivil wie militärisch – unter besonderen Schutz. Sie dürfen auch dann nicht angegriffen werden, wenn dort feindliche Kämpfer behandelt werden. Gemäß des Völkergewohnheitsrechts, welches für die Kämpfe in Anbar gilt, sind Krankenhäuser geschützt, solange sie nicht für feindselige Handlungen genutzt werden, welche nicht ihrer humanitären Funktion entsprechen. Doch selbst dann dürfen sie erst angegriffen werden, wenn vorher eine Warnung gegeben und eine angemessene Frist gesetzt und letztere nicht beachtet wurde. Zudem dürfen bewaffnete Gruppen Krankenhäuser und medizinische Einrichtungen nicht besetzen bzw. nutzen.

Augenzeugen und Bewohner von Falludscha schilderten auch wahllose Mörser- und Raketenangriffe, bei denen Zivilisten getötet und Wohnhäuser, mindestens zwei Moscheen sowie eine (nicht militärisch genutzte) Schule, beschädigt oder zerstört wurden.

Die Aussagen der Zeugen, Anwohner und des anonym befragten Sicherheitsbeamten deuten darauf hin, dass bei den Angriffen der Regierungstruppen seit Anfang Mai auch Fassbomben zum Einsatz kamen, welche aus Helikoptern auf bewohnte Gebiete in Falludscha abgeworfen wurden. Der oben anonym befragte Beamte gab an, die Armee setze in Falludscha, Garma, Saklawija, Ibrahim Ibn Ali und in deren Umland seit dem 2. Mai Fassbomben ein. „Sie begannen, sie [die Fassbomben] einzusetzen, weil sie so viel Schaden wie möglich anrichten wollten“, so der Befragte. „Meine Regierung […] beschloss, die Stadt zu zerstören, statt zu versuchen, sie einzunehmen.“

Drei Bewohner von Falludscha sagten gegenüber Human Rights Watch, sie hätten beobachtet, wie Helikopter am 8. Mai Fassbomben auf das Wohnviertel Hai Al-Schorta abgeworfen hätten. Zwischen dem 8. und 9. Mai seien vier Fassbomben auf andere Wohngebiete abgeworfen, Dutzende weitere seien zwischen dem 3. und 9. Mai auf Hay al-Askari niedergegangen. Vier andere Bewohner schilderten Geräusche, die sie aufgrund des Klirrens und gewaltigen Knalls als Angriff mit Fassbomben deuteten. Sie beschrieben zudem erhebliche Schäden in Wohngebieten, die mit dem Schadensprofil von Fassbomben übereinstimmen.

Am 12. Mai leugnete das Büro von Premierminister Nuri al-Maliki, dass das Militär in Anbar Fassbomben eingesetzt habe, und bezeichnete die Vorwürfe als „Diffamierungskampagne“. Der Kommandeur der Einsatzleitung in Anbar, General Raschid Fleih stritt die Anschuldigungen ebenfalls ab.

Fassbomben sind ungelenkte Waffen, die typischerweise aus großen Ölfässern, Gaszylindern oder Wassertanks hergestellt und mit Sprengstoff sowie Metallschrott als Schrapnell befüllt werden. Sie haben eine weitreichende Explosionswirkung und können, wenn sie in bewohnten Gebieten eingesetzt werden, erhebliche zivile Schäden verursachen. Da nicht klar ist, inwieweit eine Fassbombe in einem bewohnten Gebiet zielgerichtet gegen ein legitimes militärisches Ziel eingesetzt werden kann, ist ihr Einsatz mit hoher Wahrscheinlichkeit wahllos im Sinne des Kriegsrechts und damit unzulässig.

Laut Angaben der Regierung wurden durch die Kämpfe in Anbar seit Januar über 70.000 Familien vertrieben. Die UN schätzt, dass die Kämpfe seit Anfang Mai mindestens 5.000 Familien zur Flucht gezwungen haben, andere Quellen schätzen diese Zahl auf 10.000. Seit Januar hindert die Regierung Zivilisten daran, das Gebiet zu verlassen, und blockiert gleichzeitig humanitäre Hilfe für die verbliebenen Menschen.

Das Fehlen funktionierender medizinischer Einrichtungen und Telekommunikationsmittel erschwert die Bestimmung der Opferzahlen, besonders in Großraum Falludscha. Das Gesundheitsdirektorat in Anbar berichtete, zwischen dem 31. Dezember 2013 und dem 30. April 2014 seien 589 Menschen getötet und 2.494 verletzt worden. Die Behörde schlüsselte diese Zahlen nicht nach Zivilisten und Kämpfern auf. Der von Human Rights Watch befragte Sicherheitsbeamte aus Anbar schätzte, dass bei den Angriffen der Regierung auf Falludscha, Garma und Saklawija seit Januar mindestens 1000 Menschen, überwiegend Zivilisten, getötet worden waren. Er merkte jedoch an, es gebe „keine Möglichkeit, eine genaue Zahl zu nennen“.

Seit Januar toben in Anbar Kämpfe zwischen Regierungstruppen und einer Reihe regierungsfeindlicher sunnitischer Milizen, darunter ISIS und lokale „Stammesmilizen“, die der Regierung seit langem kritisch gegenüberstehen.
Ein Befehlshaber der regierungsfeindlichen Kräfte, der aus Sicherheitsgründen anonym bleiben wollte, sagte gegenüber Human Rights Watch, in Anbar operierten elf bewaffnete Oppositionsgruppen. Alle außer ISIS kämpften unter dem Banner des „Militärrats von Anbar“, einem Bündnis von Kämpfern, die den Stämmen Anbars und anderen bewaffneten Gruppen nahestehen. Die genaue Anzahl und Verflechtungen der regierungsfeindlichen Kämpfer in Falludscha sind jedoch weiter unklar.

Einige von Human Rights Watch befragte Bewohner sagten, die oppositionellen Truppen hätten nur in der Umgebung Falludschas Stellung bezogen, andere erklärten, die Kämpfer, etwa von ISIS, befänden sich auch in der Stadt. Der befragte Befehlshaber gab an, in Falludscha hielten sich sowohl Kämpfer von ISIS als auch des Militärrats von Anbar auf. Er nannte jedoch keine Zahlen.

ISIS postet häufig Videos und Fotos, die zeigen, wie die Gruppe irakische Soldaten hinrichtet oder Selbstmordanschläge gegen Sicherheitskräfte und Zivilisten verübt. Am 13. Mai bekannte ISIS sich zu neun Anschlägen mit Autobomben in den schiitischen Teilen Bagdads, bei denen mindestens 34 Menschen getötet wurden. In einem Video, das auf einer ISIS-nahen Website veröffentlicht wurde, werden die Anschläge als Beginn eines „Rachefeldzugs“ gegen die „Aggression gegen unser Volk in Falludscha“ bezeichnet.

Die USA, die der irakischen Regierung seit Beginn des Konflikts in Anbar militärische Hilfe, darunter auch Hellfire-Raketen, geliefert hat, sollten dem Irak mit der Streichung ihrer Militärhilfe drohen, falls sie ihre rechtswidrigen Angriffe nicht unterbindet.

Ausländische Militärhilfe an Einheiten, die erwiesenermaßen Menschenrechtsverletzungen verübt haben, sollten gestoppt werden, bis die Regierung die völkerrechtswidrigen Angriffe beendet und Sicherheitskräfte, die für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind, unter Kontrolle bringt – so sieht es auch das US-Recht vor.
„Die Verbrechen einiger Oppositionsgruppen sind abscheulich, doch die irakische Regierung darf sie nicht als Rechtfertigung für völkerrechtswidrige Angriffe benutzen“, so Abrahams. „Iraks Verbündete sollen den Beschuss ziviler Infrastruktur, den offensichtlichen Einsatz von Fassbomben und andere wahllose Angriffe verurteilen.“

Hintergrundinformationen zu den Menschenrechtsverletzungen durch Regierungstruppen und oppositionelle Kämpfer in Anbar finden Sie am Ende unserer englischen Pressemitteilung

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