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(New York) – Syrische Regierungstruppen haben während einer zweiwöchigen Offensive im Norden der Provinz Idlib kurz vor der Waffenruhe mindestens 95 Zivilisten getötet und Hunderte Häuser abgebrannt oder zerstört, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Die Angriffe geschahen Ende März und Anfang April, während der Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen, Kofi Annan, mit der syrischen Regierung über ein Ende der Gewalt verhandelte.

Der 38-seitige Bericht „‘They Burned My Heart’: War Crimes in Northern Idlib during Peace Plan Negotiations” dokumentiert Dutzende Fälle von außergerichtlichen Hinrichtungen, Tötungen von Zivilisten und Zerstörung von privatem Eigentum, welche als Kriegsverbrechen gelten. Auch von willkürlichen Festnahmen und Folter wird berichtet. Der Bericht basiert auf Ermittlungen vor Ort, durchgeführt von Human Rights Watch in den Städten Taftanaz, Saraqeb, Sarmeen, Kelly, und Hazano in der Provinz Idlib Ende April.

„Während die Diplomaten über Einzelheiten von Kofi Annans Friedensplan diskutierten, griffen syrische Panzer und Helikopter einen Ort nach dem anderen an“, so Anna Neistat, stellvertretende Direktorin für Krisengebiete bei Human Rights Watch. „Überall wo wir hinkamen, sahen wir abgebrannte und zerstörte Häuser, Geschäfte und Autos. Außerdem hörten wir von einigen Leuten, deren Verwandte getötet wurden. Es war, als ob die syrischen Regierungstruppen jede Minute genutzt hätten, um Schaden anzurichten, bevor die Waffenruhe einsetzt.“

Human Rights Watch dokumentierte groß angelegte Militäraktionen, die die Regierungstruppen zwischen dem 22. März und 6. April in den Rebellenhochburgen in Idlib durchführte. Diese Angriffe führten zum Tod von mindestens 95 Zivilisten. Bei jedem Angriff verwendeten die Truppen eine Vielzahl an Panzern und Helikoptern, mit denen sie dann in die Städte einfielen. Dort blieben sie jeweils einen bis drei Tage, bevor sie weiter in den nächsten Ort zogen. Von den Soldaten in allen der betroffenen Städte zurückgelassene Graffiti deuten darauf hin, dass die Militäraktion von der 76. Panzerbrigade durchgeführt wurde.

In neun unterschiedlichen Fällen, die von Human Rights Watch dokumentiert wurden, töteten die Regierungstruppen 35 Zivilisten in ihrem Gewahrsam. Die meisten der Hinrichtungen fanden während des Angriffs auf Taftanaz am 3. und 4. April statt, einem Ort mit rund 15.000 Einwohnern nordöstlich der Stadt Idlib.

Ein Überlebender der Exekutionen durch die Sicherheitskräfte von 19 Mitgliedern der Familie Ghazal in Taftanaz berichtete Human Rights Watch, wie er die Leichname seiner Verwandten fand:

„Wir fanden erst fünf Leichen in einem kleinen Geschäft neben dem Haus. Sie waren fast vollständig verbrannt. Wir konnten sie nur durch einige wenige noch existierende Kleidungsstücke identifizieren. Dann betraten wir das Haus und fanden in einem der Räume neun Leichen auf dem Boden neben der Wand. Auf dem Boden war sehr viel Blut. In der Wand war eine Reihe von Einschusslöchern. Die neun Männer hatten Schussverletzungen am Rücken und einige auch am Kopf. Ihre Hände waren nicht zusammengebunden, aber auf dem Rücken gefaltet.“

Die Mitarbeiter von Human Rights Watch konnten die Einschusslöcher in der Wand, die eine Reihe von ungefähr 50 bis 60 cm über dem Boden bildeten, selbst begutachten. Zwei der Getöteten waren jünger als 18 Jahre.

In mehreren anderen von Human Rights Watch dokumentierten Fällen eröffneten die Regierungstruppen das Schussfeuer und töteten oder verletzten Zivilisten, die den Angriffen entkommen wollten. Die Umstände dieser Fälle deuten darauf hin, dass die Regierungstruppen keinen Unterschied zwischen Zivilisten und Kämpfern machten und keine Vorsichtsmaßnamen zum Schutz von Zivilisten ergriffen. Die Regierungstruppen gaben im Vorfeld des Angriffs keinerlei Warnung an die Zivilbevölkerung. So wurden zum Beispiel der 76-jährige Ali Ma’assos und seine 66 Jahre alte Frau Badrah durch ein Maschinengewehr getötet, kurz nachdem die Armee den Angriff auf Taftanaz am Morgen des 3. April eröffnet hatte. Sie wurden getötet, während sie versuchten, mit mehr als 15 Freunden und Familienmitgliedern auf einem Pick-Up Wagen aus der Stadt zu fliehen.

Als sie in die Städte einfielen, verbrannten und zerstörten Regierungstruppen sowie die regierungsnahen Shabeeha-Milizen zahlreiche Häuser, Geschäfte, Autos, Traktoren und anderes Eigentum. Lokale Aktivisten zeichneten die teilweise oder vollständige Verbrennung und Zerstörung von Hunderten Häusern und Geschäften auf. In Sarmeen zum Beispiel dokumentierten lokale Aktivisten das Abbrennen von 437 Räumen und 16 Läden sowie die vollständige Zerstörung von 22 Häusern. In Taftanaz berichteten Aktivisten von rund 500 Häusern, die zum Teil oder vollständig heruntergebrannt wurden. 150 Häuser wurden dort teilweise oder komplett durch Panzerbeschuss oder andere Explosionen zerstört. Human Rights Watch untersuchte viele der abgebrannten und zerstörten Häuser in den betroffenen Städten.

In den meisten Fällen wurden die Brände und Zerstörungen offensichtlich vorsätzlich durchgeführt. Die Mehrzahl der abgebrannten Häuser hatten keine Schäden an den Außenmauern, was die Möglichkeit ausschließt, dass das Feuer durch einen Beschuss entfacht wurde. Zudem waren vielen der Häuserruinen vollständig zerstört, im Gegensatz zu denen, die scheinbar durch Panzergranaten getroffen wurden. Diese Häuser waren meist nur teilweise zerstört.

Während der Militäraktionen nahmen die Sicherheitskräfte auch Dutzende von Menschen auf willkürliche Art und Weise fest, ohne dafür eine Rechtsgrundlage zu haben. Ungefähr zwei Drittel der Festgenommenen befinden sich zur Zeit immer noch in Haft, trotz des Versprechens von Präsident Bashar Al-Assad, die politischen Häftlinge freizulassen. In den meisten Fällen sind Schicksal und Aufenthaltsort der Inhaftierten weiterhin unbekannt und geben Anlass zu der Sorge, dass sie Opfer des Verschwindenlassens von politischen Gegnern wurden. Diejenigen, die freigelassen wurden, viele von ihnen alt oder krank, berichteten Human Rights Watch, dass sie während ihrer Haft in verschiedenen Einrichtungen der Mukhabarat (der syrische Geheimdienst) in Idlib Opfer von Folter und Misshandlung wurden.

Oppositionskämpfer waren vor den Angriffen in allen Städten anwesend und versuchten in einigen Fällen, die Armee davon abzuhalten, in die Städte einzudringen. Nach Angaben von Einwohnern zogen sich die Oppositionskämpfer jedoch in den meisten Fällen bald zurück, als sie realisierten, dass sie in Unterzahl waren und keine Chance hatten, gegen die Panzer und Artilleriegeschütze Widerstand zu leisten. In anderen Städten flohen die Rebellen, ohne jeglichen Widerstand zu leisten; die Einwohner sagten, mit diesem Vorgehen wollten sie vermeiden, die Zivilbevölkerung in Gefahr zu bringen.

Die Kämpfe in Idlib erreichten offenbar die Stufe eines bewaffneten Konflikts nach internationalem Recht, basierend auf der Intensität der Kämpfe und dem Ausmaß der Organisation auf beiden Seiten, einschließlich der bewaffneten Opposition, die den Rückzug anordnete und durchführte. Dies würde bedeuten, dass das humanitäre Völkerrecht (Das Recht in Zeiten bewaffneter Konflikte) in diesem Fall zusätzlich zu den internationalen Menschenrechtskonventionen gilt. Schwere Verletzungen des humanitären Völkerrechts gelten als Kriegsverbrechen.

Human Rights Watch hat in früheren Berichten bereits schwere Menschenrechtsverletzungen von Oppositionskämpfern dokumentiert und verurteilt, einschließlich einiger Fälle in Taftanaz. Diese Menschenrechtsverletzungen sollen untersucht werden und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Sie rechtfertigen jedoch in keiner Weise die Menschenrechtsverbrechen der Regierungstruppen, einschließlich der standesrechtlichen Hinrichtungen von Dorfbewohnern und der massiven Zerstörung von Dörfern.

Human Rights Watch appellierte an den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, sicherzustellen, dass die UN Beobachtermission in Syrien auch eine angemessen besetzte und ausgestattete Menschenrechtssektion beinhalte. Diese soll in der Lage sein, sicher und unabhängig Opfer von Menschenrechtsverletzungen zu befragen, und sie zugleich vor Vergeltungsmaßnahmen schützen. Human Rights Watch rief den Sicherheitsrat ebenso dazu auf, sicherzustellen, dass die Verantwortlichen für diese Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden, indem er die Situation in Syrien an den Internationalen Strafgerichtshof verweist. Auch die UN-Untersuchungskommission in Syrien soll dies unterstützen.

„Die Vereinten Nationen sollen – durch die Untersuchungskommission und den Sicherheitsrat – sicherstellen, dass die Verbrechen, die von den syrischen Sicherheitskräften begangen wurden, nicht ungestraft bleiben“, so Neistat. „Der Friedensplan wird ernsthaft untergraben, wenn die Menschenrechtsverletzungen hinter dem Rücken der Beobachtermission weitergehen.“

Augenzeugenberichte aus “‘They Burned My Heart’: War Crimes in Northern Idlib during Peace Plan Negotiations”

„Die Soldaten hatten seine Hände mit Handschellen auf dem Rücken festgebunden. Sie schlugen ihn nicht in meiner Anwesenheit, aber ich sah, dass sein Auge blau angelaufen war. Ich versuchte, ruhig und nett zu den Soldaten zu sein, damit sie ihn freiließen. Sie verbrachten ungefähr 15 Minuten im Haus, fragten ihn nach Waffen und durchsuchten alles. Ich glaube sie suchten nach Geld. Ich verabschiedete mich nicht, um ihn nicht traurig zu machen. Auch er sagte nichts. Als sie mit ihm weggingen, sagten die Soldaten, ich solle ihn vergessen.”

– Mutter von Mohammad Saleh Shamrukh, Chorleiter aus Saraqeb, der von den syrischen Sicherheitskräften am 25. März hingerichtet wurde.

„Die Soldaten platzierten uns vier so, dass wir mit dem Gesicht zur Wand standen. Sie fragten zuerst Awad, wo seine bewaffneten Söhne seien. Als Awad sagte, dass er ein alter Mann sei und keine bewaffneten Söhne habe, erschossen sie ihn mit drei Schüssen aus einer Kalaschnikow. Dann sagten sie zu Ahmed, dass 25 Jahre im Gefängnis anscheinend nicht genug für ihn gewesen seien. Als er nichts sagte, erschossen sie ihn. Dann erschossen sie Iyad ohne irgendwelche Fragen, und er fiel auf meine Schulter. Ich realisierte, dass nun ich an der Reihe war. Ich sagte, dass es keinen Gott außer Allah gebe und dass Mohammed sein Prophet sei, und dann erinnere ich mich an nichts mehr.“

– Mohammed Aiman Ezz, ein 43-jähriger Mann, dem die Regierungstruppen in einer Hinrichtung von vier Männern am 4. April in Taftanaz drei Mal in den Hinterkopf und Nacken schossen. Er ist der einzige Überlebende.

„Ich wusste in meinem Herzen, dass es meine Jungen [mein Sohn und mein Bruder] waren, die sie getötet hatten. Ich rannte hinaus und ungefähr 50 Meter entfernt vom Haus lagen neun Leichen neben der Wand. Es waren noch immer Scharfschützen auf den Dächern und wir mussten uns sehr langsam bewegen und Taschenlampen benutzen. Ich leuchtete mit meiner Taschenlampe auf den ersten Leichnam, dann auf den zweiten – es war weder Uday noch Saed. Dann bat ich die Nachbarn um Hilfe und wir fanden sie beide. Saed hatte noch seine Hände auf den Rücken gebunden. Später erzählten mir die Leute, dass Uday und Saed dort hingerichtet wurden und dass die anderen sieben FSA Kämpfer aus anderen Orten kamen. Uday hatte eine Einschusswunde im Nacken und im Hinterkopf; Saed in seiner Brust und im Nacken.“

–„Heba” (nicht ihr richtiger Name), Mutter des 15-jährigen Uday Mohammed al-Omar und des 21-jährigen Saeed Mustafa Barish, die beide von den syrischen Sicherheitskräften am 26. März 2012 in Sarageb hingerichtet wurden

„Der Panzer war auf der Hauptstraße, nur zehn Meter vom Haus entfernt. Plötzlich feuerten sie vier Granaten ab, eine nach der anderen, direkt ins Haus. Ich war im Haus nebenan mit meiner Mutter und meinen sechs Kindern. Wir wurden alle durch die Luft gewirbelt durch die Detonation, und für 15 Minuten konnte ich nichts sehen oder hören. Dann gingen wir in den Raum, der von der Granate getroffen worden war. Eine der Wände hatte ein riesiges Loch mit ungefähr 1,5 Metern Durchmesser und die gegenüber liegende Wand war komplett zerstört. Wir fanden Ezzat im Schutt; wir konnten nur seine Finger und einen Teil seines Schuhs sehen. Es ist ein Wunder, dass seine Frau und sein Kind nicht verletzt wurden. Sie waren im selben Haus, aber gingen gerade in die Küche, als die Granaten einschlugen. Wir holten Ezzat aus dem Geröll, aber wir konnten ihn nicht retten. Seine Brust war zertrümmert und es kam Blut aus seinem Mund und seinen Ohren.“

–„Rashida” (nicht ihr richtiger Name), eine Verwandte des 50-jährigen Ezzat Ali Sheikh Dib, der starb, als die Armee sein Haus in Sarageb am 27. März bombardierte.

„Sie setzten eine Kalaschnikow an meinen Kopf und drohten, uns alle zu töten, wenn mein Mann nicht nach Hause käme. Die Kinder fingen an zu weinen. Dann befahl ein Beamter einem Soldaten, Petroleum zu holen, und sagte zu den Kindern, dass er sie verbrennen würde genau wie ihren Vater, weil er ein Terrorist sei. Als der Soldat mit einer Art Flüssigkeit zurückkam – es schien kein Petroleum zu sein – gossen sie es in drei der Räume aus, während wir im Wohnzimmer blieben. Wir wollten raus aus dem Haus, aber die Soldaten hinderten uns daran. Meine jungen Töchter weinten und bettelten darum, uns gehen zu lassen. Wir hatten alle schreckliche Angst. Schließlich erlaubten sie uns, das Haus zu verlassen, aber ich bekam noch mehr Angst, als ich all die Soldaten und Panzer auf der Straße sah.“

–„Salma” (nicht ihr richtiger Name), deren Haus in Taftanaz am 4. April von Soldaten abgebrannt wurde, zusammen mit denen ihrer fünf Schwager

„Sie setzten mich ins Auto, in Handschellen, und ließen mich dort den ganzen Tag sitzen, bis um sieben Uhr abends. Ich sagte zu ihnen, „ich bin ein alter Mann, lasst mich auf die Toilette gehen“, aber sie schlugen mir nur ins Gesicht. Dann brachten sie mich zur Staatssicherheit in Idlib und schlossen mich in eine 30m2 große Zelle mit ungefähr 100 anderen Häftlingen. Ich musste auf dem Boden hockend schlafen. Es gab nur eine Toilette für uns alle. Sie holten mich vier Mal zu einer Vernehmung und fragten jedes Mal, warum sich einige meiner Familienmitglieder der FSA angeschlossen hatten. Ich habe es nicht abgestritten, aber ich sagte ich könne nichts tun um zu kontrollieren, was meine Verwandten tun. Sie schlugen mich oft ins Gesicht“.

– „Abu Ghassan” (nicht sein richtiger Name), ein 73-jähriger Mann, der in einer der Städte in Nord-Idlib festgenommen wurde und 18 Tage inhaftiert war.

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