(London, 15. Dezember 2011) – Ehemalige syrische Soldaten haben 74 Kommandeure und Funktionäre namentlich genannt, die für Angriffe auf unbewaffnete Demonstranten verantwortlich sind, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. In dem Bericht werden die Namen von Kommandeuren und Amtsträgern des syrischen Militärs und der Geheimdienste genannt, die 2011 während der Proteste gegen die Regierung zahlreiche Tötungen, Folter und unrechtmäßige Festnahmen angeordnet, autorisiert oder stillschweigend geduldet haben sollen. Human Rights Watch hat den UN-Sicherheitsrat aufgefordert, den Internationalen Strafgerichtshof mit Ermittlungen zur Lage in Syrien zu beauftragen und Sanktionen gegen die Verantwortlichen zu verhängen.
Der 88-seitige Bericht „‚By All Means Necessary!‘: Individual and Command Responsibility for Crimes against Humanity in Syria“ basiert auf mehr als 60 Interviews mit Überläufern des syrischen Militärs und der Geheimdienste. Sie lieferten detaillierte Informationen über die Beteiligung ihrer Einheiten an Angriffen und Menschenrechtsverletzungen gegen die syrische Bevölkerung sowie über die Befehle, die sie von Kommandeuren und Funktionären der verschiedenen Ebenen erhalten hatten und die in dem Bericht namentlich genannt werden.
„Die Überläufer nannten uns Namen, Dienstgrad und Dienststellung derjeniger, die den Schießbefehl erteilt haben. Jeder einzelne in dem Bericht genannte Funktionär, bis hinauf in die höchsten Ebenen der syrischen Regierung, soll sich für die Verbrechen gegen das syrische Volk verantworten“, so Anna Neistat, stellvertretende Direktorin der Abteilung Krisengebiete von Human Rights Watch und Mitverfasserin des Berichts. „Der UN-Sicherheitsrat soll den Fall Syrien an den Internationalen Strafgerichtshof verweisen und so sicherstellen, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.“
Die Schilderungen der übergelaufenen Soldaten lassen keinen Zweifel daran, dass die syrischen Sicherheitskräfte in zahlreichen Fällen systematisch gegen die Menschenrechte verstoßen haben, unter anderem durch Tötungen, willkürliche Festnahmen und Folter der Zivilbevölkerung als Teil der staatlichen Politik. Diese Taten stellen Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar.
Tötungen von Demonstranten und Passanten
Alle von Human Rights Watch befragten Überläufer gaben an, dass ihre Kommandeure Soldaten und bewaffnete Einheiten vor den Einsätzen regelmäßig instruiert und dazu ermächtigt hatten, die überwiegend friedlichen Proteste landesweit „mit allen erforderlichen Mitteln“ zu stoppen. Sie berichteten, der Befehl „mit allen erforderlichen Mitteln“ sei als Befugnis zur Anwendung von tödlicher Gewalt zu verstehen gewesen, insbesondere weil sie scharfe Munition erhalten hatten, um die Mengen unter Kontrolle zu halten.
Etwa die Hälfte der von Human Rights Watch befragten Überläufer gab an, dass sie den Befehl, das Feuer auf Demonstranten oder Passanten zu eröffnen, direkt von den Kommandeuren ihrer Einheit oder von anderen Offizieren erhalten hatten. Dabei war ihnen zugesichert worden, dass sie nicht zur Rechenschaft gezogen würden. Zum Teil waren die Funktionäre selbst aktiv an den Tötungen beteiligt.
„Amjad“, der im 35. Spezialkräfteregiment in Daraa eingesetzt war, gab an, dass sein Kommandeur ihm am 25. April mündlich den Befehl erteilt hatte, das Feuer auf die Demonstranten zu eröffnen:
Der Kommandeur unseres Regiments, Brigadegeneral Ramadan Ramadan, war in der Regel nicht in der ersten Reihe. Aber dieses Mal stand er vor der ganzen Brigade. Er sagte: „Setzt schwere Geschütze ein. Niemand wird eine Rechtfertigung verlangen.“ Normalerweise sollen wir Kugeln sparen, aber dieses Mal sagte er: „Verschießt so viele Kugeln, wie ihr wollt.“ Als jemand fragte, worauf wir schießen sollen, antwortete er: „Auf alles, was sich vor euch befindet.“ Etwa vierzig Demonstranten wurden an diesem Tag getötet.
Laut Informationen der Hohen Kommissarin der Vereinten Nationen für Menschenrechte sind seit dem Beginn der Proteste mehr als 5.000 Menschen getötet worden. Human Rights Watch hat viele dieser Fälle dokumentiert.
Seit Beginn des Aufstands im März haben die syrischen Behörden – und erst kürzlich Präsident Bashar al-Assad in einem Interview am 7. Dezember – wiederholt bewaffnete Terrorgruppen für die Gewalt im Land verantwortlich gemacht. Sie sollen vom Ausland aufgewiegelt und unterstützt worden seien. Human Rights Watch hat mehrere Fälle dokumentiert, bei denen Demonstranten und bewaffnete Bürgergruppen Gewalt angewendet haben. Auch die Zahl bewaffneter Übergriffe auf Sicherheitskräfte durch übergelaufene Soldaten ist seit September deutlich angestiegen. Trotzdem verliefen die meisten Proteste, die Human Rights Watch seit Beginn des Aufstands im März dokumentieren konnte, weitgehend friedlich. Die von Human Rights Watch befragten Überläufer bezweifelten die Angaben der Regierung über bewaffnete Gruppen und sagten, dass die Demonstranten ihren Beobachtungen zufolge nicht bewaffnet waren und auch keine wesentliche Gefahr für die Soldaten dargestellt hatten.
Willkürliche Festnahmen, Folter und Hinrichtungen
Die Informationen der Überläufer untermauern die Untersuchungsergebnisse von Human Rights Watch zu zahlreichen Fällen von willkürlichen Festnahmen und Folter von Gefangenen in ganz Syrien. Die Überläufer sprachen von massiven willkürlichen Festnahmen während der Proteste als auch an Kontrollpunkten sowie von landesweiten sogenannten Säuberungsaktionen in den Wohnvierteln mit Hunderten, zum Teil Tausenden Festnahmen.
Die Überläufer berichteten, dass sie Gefangene routinemäßig verprügelt und misshandelt haben und dabei auf Befehl handelten oder von ihren Kommandeuren dazu ermutigt wurden oder diese die Vergehen stillschweigend duldeten. Diejenigen, die in Hafteinrichtungen arbeiteten oder Zugang dazu hatten, sagten gegenüber Human Rights Watch, dass sie Zeugen von Folter wurden oder selbst daran beteiligt waren.
„Hani“, ein Mitglied der Sondereinsatztruppe des Geheimdienstes der Luftwaffe, schilderte die Befehle, die er erhielt:
Am 1. April führten wir Festnahmen im Viertel Mo’adamiyeh in Damaskus durch. Die Befehle erhielten wir von Oberst Suheil Hassan. Er wies uns ausdrücklich an, den Menschen brutal auf den Kopf zu schlagen und uns keine Gedanken über die Folgen zu machen. Wir setzten auch Elektroschockstöcke ein. Den Befehl teilte er uns vor dem Einsatz mündlich mit.
Wir verprügelten die Menschen in den Bussen und anschließend in den Hafteinrichtungen auf dem Stützpunkt. Dort brachten wir die Menschen zunächst in den Hof und schlugen wahllos auf sie ein, ohne sie vorher zu vernehmen. Ich habe die Gefangenen selbst in den Hof gebracht und dann in die Hafteinrichtung. An diesem Tag haben wir etwa hundert Menschen festgenommen und alle in eine fünf auf fünf Meter große Zelle gesperrt.
Meine Einheit war auch daran beteiligt, Menschen zu verprügeln. In mir brodelte es, aber ich konnte es nicht zeigen, weil ich wusste, was dann geschehen würde.
Drei Überläufer schilderten Human Rights Watch Fälle von willkürlichen Hinrichtungen sowie Todesfälle infolge von Folter mit insgesamt 19 Opfern. Oberstleutnant „Ghassan“, ein Mitglied der Präsidentschaftsgarde, berichtete, dass er um den 7. August herum Zeuge einer willkürlichen Hinrichtung an einem Kontrollpunkt in Douma wurde:
Ich war an einem Kontrollpunkt im Viertel Abdul Ra'uf in Douma stationiert. Mein Dienst sollte von 16 Uhr bis Mitternacht gehen. Ich traf um 15.45 Uhr ein und hörte aus einem leer stehenden Gebäude in der Nähe des Checkpoints Schreie und wie jemand verprügelt wurde. Ich ging hinein und sah, dass Oberst Mohamed Saker, der vor mir Dienst am Checkpoint hatte, jemanden festgenommen hatte, der auf Liste der Gesuchten stand. Ich wollte meinen Dienst sofort antreten, um dem Ganzen ein Ende zu bereiten, und sagte, ich hätte jetzt Dienst. Aber Saker antwortete: „Nur Geduld. Erst werden wir uns um den hier kümmern.“
Der Mann, den sie festgenommen hatten, wurde von sieben Soldaten verprügelt. Als ich kam, war er noch am Leben. Er schrie, die Soldaten fluchten und lachten. Es dauerte noch etwa fünf Minuten, dann starb er. Er bewegte sich nicht mehr und ich sah, wie Blut aus seinem Mund kam.
Als ich meinen Dienst antrat, informierte ich Khadur [Brigadegeneral Mohamed Khadur, Kommandeur der 106. Brigade der Präsidialgarde], dass es einen Todesfall gab. Er gab uns den Befehl, den Checkpoint zu räumen und den Toten liegen zu lassen. Wir gingen zum Hauptquartier zurück. Irgendjemand muss die Leiche geholt haben. Man hat uns gesehen, als wir das Gebäude verließen.
Lokale Aktivisten berichteten von mehr als 197 Hinrichtungen und Todesfällen in Haft seit dem 15. November.
Die Überläufer lieferten zudem weitere Informationen über die Verweigerung von ärztlicher Hilfe für verletzte Demonstranten, den Einsatz von Rettungswagen zur Festnahme von Verwundeten sowie über die Misshandlung von Verletzten in Krankenhäusern, die von den Geheimdiensten und vom Militär kontrolliert werden – ein Besorgnis erregendes Vorgehen, das von Human Rights Watch und anderen Organisationen bereits dokumentiert wurde.
Verantwortlichkeit im Rahmen von Befehlsstrukturen
Nach internationalem Recht sind Kommandeure für Völkerrechtsverbrechen ihrer Untergebenen verantwortlich, wenn sie davon wussten oder davon hätten wissen müssen und diese geschehen ließen, anstatt entsprechende Ermittlungen anzustellen.
Human Rights Watch zufolge kann man angesichts der zahlreichen Tötungen und anderer Verbrechen in Syrien sowie aufgrund der ausführlichen Schilderungen der Soldaten über die Befehle, auf die Demonstranten zu schießen und sie zu misshandeln, aber auch aufgrund der umfangreichen Dokumentation dieser Menschenrechtsverletzungen durch internationale und lokale Organisationen und Medien davon ausgehen, dass zumindest die ranghohen militärischen und zivilen Führungskräfte des Landes von diesem Vorgehen Kenntnis hatten. Die anhaltenden Tötungen, Festnahmen, Repressionen und die Tatsache, dass die syrische Regierung jede Verantwortung von sich weist, machen zudem deutlich, dass keinerlei sinnvolle Maßnahmen ergriffen wurden, um gegen diese Menschenrechtsverletzungen vorzugehen.
Zudem liegen Human Rights Watch Informationen vor, wonach die militärische und zivile Führung Syriens maßgeblich an dem gewaltsamen Vorgehen gegen Demonstranten beteiligt war.
„Präsident Assad kann die Verantwortung für die gnadenlose Brutalität seiner Regierung noch so sehr von sich weisen. Seine Behauptung, es habe keinen Befehl für ein gewaltsames Vorgehen gegeben, entbindet ihn nicht von der strafrechtlichen Verantwortung“, so Neistat. „Als oberster militärischer Befehlshaber muss er von diesen Verstößen gewusst haben. Wenn nicht von seinen Untergebenen, dann aus den Berichten der UN und jenen, die Human Rights Watch ihm zukommen ließ.“
Human Rights Watch forderte zudem Ermittlungen gegen weitere ranghohe Funktionäre im Rahmen der Vorgesetztenverantwortlichkeit für Verbrechen gegen die Menschlichkeit, unter anderem gegen Verteidigungsminister Imad Dawoud Radjiha und den Stabschef der Armee, Imad Fahed al-Jasem el-Freij, gegen die Chefs des militärischen Geheimdienstes und der Direktion für den Geheimdienst der Luftwaffe, Generalmajor Abdul Fatah Kudsiyeh und Generalmajor Jamil Hassan, den Geheimdienstchef Generalmajor Ali Mamlouk und den Leiter der Direktion für politische Sicherheit, Generalmajor Dib Zeitoun.
„Die syrischen Funktionäre, die an diesen Verbrechen beteiligt waren, sollten wissen, dass sie irgendwann dafür bezahlen müssen“, so Neistat. „Und sie sollten wissen, dass sie letztendlich diejenigen sein werden, die dafür zur Verantwortung gezogen werden, auch wenn Präsident Assad behauptet, von nichts gewusst zu haben.“
Befehlsverweigerung und ihre Folgen
Die Verweigerung von Befehlen und Widerspruch gegen die Äußerungen der Regierung zu den Protesten haben massive Konsequenzen nach sich gezogen. Acht Überläufer berichteten Human Rights Watch, dass sie mit eigenen Augen gesehen haben, wie Soldaten von Offizieren oder Geheimdienstagenten getötet wurden, weil sie ihre Befehle verweigerten.
„Habib“, ein Rekrut der 65. Brigade, 3. Division, sagte gegenüber Human Rights Watch, dass ein Soldat seines Bataillons um den 14. April herum getötet wurde, weil er den Befehl von Oberst Mohammed Khader, dem Kommandeur des Bataillons, auf die Demonstranten in Douma zu schießen, nicht befolgt hatte:
Die Soldaten standen vorne. Oberst Khader und die Sicherheitskräfte standen direkt hinter uns. Yusuf Musa Krad, ein 21-jähriger Rekrut aus Daraa, stand direkt neben mir. Irgendwann bemerkte der Oberst, dass Yusuf nur in die Luft schoss. Er unterrichtete Oberleutnant Jihad vom örtlichen Militärgeheimdienst. Die beiden waren immer gemeinsam anzutreffen. Jihad rief einen auf den Dächern postierten Scharfschützen an und zeigte auf Yusuf. Dann tötete der Scharfschütze Yusuf mit zwei Kopfschüssen. Sicherheitskräfte schufen Yusufs Leiche fort. Am nächsten Tag sahen wir seine Leiche im Fernsehen. Es hieß, er sei von Terroristen getötet worden.
Drei Überläufer berichteten Human Rights Watch, dass sie verhaftet wurden, weil sie Befehle verweigert oder Aussagen der Regierung in Frage gestellt hatten. Zwei weitere sagten, dass sie von Sicherheitskräften verprügelt und gefoltert worden waren.
Empfehlungen
Human Rights Watch forderte den UN-Sicherheitsrat auf, den Internationalen Strafgerichtshof mit Ermittlungen zur Lage in Syrien zu beauftragen. Da Verbrechen gegen die Menschlichkeit unter die universelle Gerichtsbarkeit fallen, obliegt es allen Staaten, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.
Human Rights Watch appellierte insbesondere an Russland – als einem der wenigen Länder, die die syrische Regierung noch unterstützen – seinen Widerstand gegen das entschiedene Handeln des UN-Sicherheitsrates gegenüber Syrien aufzugeben und die Unterstützung sowie den Verkauf von Waffen an die syrische Regierung angesichts der konkreten Gefahr einzustellen, dass damit schwere Menschenrechtsverletzungen begangen werden. Zudem soll Russland die systematischen Menschenrechtsverletzungen der syrischen Behörden in bilateralen Gesprächen entschieden verurteilen.
„Mehr als 5.000 Syrer sind bisher ums Leben gekommen, viele weitere wurden verletzt, festgenommen und gefoltert, während Russland das rücksichtslose Abschlachten und die leeren Reformversprechen des Assad-Regimes verteidigte und damit Zeit vergeudete“, so Neistat. „Die russische Regierung ist verpflichtet, das syrische Volk zu schützen und nicht seine brutalen Mörder.“