(Kigali, 31. Mai 2011) – Ruandas gemeindenahe Gacaca-Gerichte haben zwar zur Aufarbeitung des Völkermords von 1994 beigetragen, aber in zahlreichen Fällen weder glaubwürdige Urteile gefällt noch für Gerechtigkeit gesorgt, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Da sich die Arbeit der Gacaca-Gerichte dem Ende nähert, soll Ruanda innerhalb seines nationalen Gerichtswesens Sonderabteilungen einrichten, um mutmaßliche Fehlurteile erneut zu überprüfen.
Der 144-seitige Bericht „Justice Compromised: The Legacy of Rwanda’s Community-Based Gacaca Courts“ evaluiert die Arbeit der Gacaca-Gerichte und zeigt eine Reihe gravierender Mängel auf, die bei den Prozessen zu beobachten waren, einschließlich Korruption und Verfahrensverstößen. Darüber hinaus untersucht der Bericht den Beschluss der Regierung, Vergewaltigungsfälle im Zusammenhang mit dem Völkermord an die Gacaca-Gerichte zu überweisen und Verbrechen, die von Soldaten der Ruandischen Patriotischen Front (RPF) begangen wurden, ihrer Zuständigkeit zu entziehen. Die RPF ist seit dem Ende des Völkermords im Juli 1994 Regierungspartei in Ruanda.
„Ruandas ehrgeiziger Versuch zur juristischen Aufarbeitung des Unrechts wird ein zwiespältiges Erbe hinterlassen“, so Daniel Bekele, Direktor der Afrika-Abteilung von Human Rights Watch. „Die Gerichte haben dazu beigetragen, dass die Menschen in Ruanda die Vorfälle von 1994 besser verstehen, aber in vielen Fällen war die Beweisführung mangelhaft und hat zu Fehlurteilen geführt.“
Human Rights Watch hat die Gacaca-Prozesse an mehr als 2.000 Tagen verfolgt. Für den Bericht sind über 350 Fälle überprüft und mehrere Hundert Personen befragt worden, die in die Prozesse involviert waren, darunter Angeklagte, Überlebende des Völkermords, Zeugen, weitere Mitglieder der Gemeinde, Richter sowie lokale und nationale Regierungsbeamte.
Seit 2005 haben mehr als 12.000 lokale Gerichte 1,2 Millionen Fälle verhandelt, die mit dem Völkermord von 1994 zusammenhängen. Bei den Gewalttaten sind mehr als eine halbe Million Menschen überwiegend aus der in Ruanda lebenden Tutsi-Minderheit ums Leben gekommen. Diese lokalen Gerichte werden Gacacas genannt, was in der Landessprache Kinyarwanda „Gras“ bedeutet; ein Verweis auf den Ort, an dem man sich traditionell einfand, um Streitigkeiten zu schlichten. Die Prozesse sollten ursprünglich bis Mitte 2010 abgeschlossen sein, der Termin wurde jedoch im Oktober 2010 noch einmal verschoben. Berichten zufolge hat der Justizminister im Mai 2011 angekündigt, dass die Gacaca-Gerichte ihre Arbeit bis Dezember 2011 offiziell einstellen.
Die Gacacas waren 2001 eingerichtet worden, um das ordentliche Rechtssystem zu entlasten und das Problem der überfüllten Gefängnisse in den Griff zu bekommen. 1998 waren 130.000 mutmaßlich am Genozid beteiligte Personen in Gefängnissen zusammengepfercht, die eigentlich für 12.000 Menschen ausgerichtet waren; die dort herrschenden unmenschlichen Bedingungen führten zu mehreren Tausend Todesfällen. Zwischen Dezember 1996 und Anfang 1998 waren gerade einmal 1.292 mutmaßliche Täter an ordentlichen Gerichten verurteilt worden, und so war man sich schnell einig, dass eine Lösung zur Beschleunigung der Prozesse gefunden werden musste.
Mit dem Gacaca-Gesetz von 2001 sollte diese schwierige Situation überwunden werden. Die neuen Gacaca-Gerichte – die von der Regierung beaufsichtigt wurden, aber nur begrenzte verfahrensrechtliche Garantien boten – vereinten modernes Strafrecht mit traditionellen, informellen Verfahren auf Gemeindeebene.
Für die ruandische Regierung stellte die Einrichtung eines Systems, mit dem mehrere Zehntausend Fälle rasch aufgearbeitet werden konnten und das gleichzeitig eine breite Zustimmung in der Bevölkerung finden sollte, eine enorme Herausforderung dar. Zu den Erfolgen dieses Systems zählen die beschleunigten Verfahren unter Beteiligung der Bevölkerung und ein Rückgang der Zahl der Gefängnisinsassen. Darüber hinaus haben die Gacaca-Prozesse zu einem besseren Verständnis der Vorfälle von 1994 beigetragen, aber auch zur Lokalisierung und Identifizierung der Leichen der Opfer und einer möglichen Entschärfung der ethnischen Spannungen zwischen der Hutu-Mehrheit und der Tutsi-Minderheit.
Die Menschen in Ruanda haben für die mit der Einrichtung des neuen Gacaca-Systems einhergehenden Kompromisse allerdings einen hohen Preis bezahlt. Human Rights Watch zufolge gab es eine Vielzahl von Verstößen gegen ein faires Verfahren. Dazu gehören Einschränkungen im Hinblick auf eine effektive Verteidigung; eventuelle Fehlurteile aufgrund des Einsatzes von Richtern, die größtenteils keine angemessene Ausbildung hatten; haltlose Anschuldigungen, die zum Teil darauf beruhten, dass die ruandische Regierung Kritiker zum Schweigen bringen wollte; Missbrauch der Gacacas, um „persönliche Rechnungen“ zu begleichen; Einschüchterung von Zeugen der Verteidigung durch Richter oder Beamte; Korruption bei Richtern und Konfliktparteien.
„Die Einrichtung der Gacacas war gut. Es hat der Bevölkerung ermöglicht, eine wichtige Rolle im Gacaca-Prozess einzunehmen. Aber ich bedaure natürlich, dass sie [die Richter] Partei ergreifen“, so ein Zeuge während einer Verhandlung, bei der auch Mitarbeiter von Human Rights Watch anwesend waren.
Die ruandische Regierung argumentierte, dass das übliche Recht auf ein faires Verfahren verzichtbar sei, weil die Mitglieder der Gemeinde – vertraut mit den Vorfällen in ihrer Region – Falschaussagen oder richterliche Parteinahme enttarnen würden. Human Right Watch musste jedoch feststellen, dass potenzielle Zeugen oftmals keine Aussage zugunsten mutmaßlich am Genozid beteiligter Personen gemacht haben, weil sie eine Strafverfolgung fürchteten: wegen Meineids, der Beihilfe zum Völkermord oder des „Verbreitens von Genozid-Ideologie“, einem vage definierten Verbrechen, das Ansichten, Äußerungen oder Verhaltensweisen verbietet, die zu ethnischen Spannungen oder Gewalt führen könnten. Andere wiederum hatten aus Angst vor sozialer Ausgrenzung nichts zur Verteidigung mutmaßlicher Täter beigetragen.
Ein Überlebender des Völkermords brach während des Interviews mit Human Rights Watch unter Tränen zusammen. Er sagte, er schäme sich dafür, dass er nicht den Mut aufgebracht hatte, zugunsten eines Hutu-Mannes auszusagen, der sein Leben und das Leben von über einem Dutzend seiner Verwandten gerettet hatte.
„Viele Menschen berichteten, dass sie während der Gacaca-Prozesse geschwiegen haben, auch wenn sie an die Unschuld der mutmaßlichen Täter glaubten“, so Bekele. „Sie waren der Meinung, dass einfach zu viel auf dem Spiel stand, um nach vorne zu treten und Menschen zu verteidigen, denen zu Unrecht Verbrechen im Zusammenhang mit dem Völkermord vorgeworfen werden.“
Human Rights Watch hat auch Frauen befragt, die im Zuge des Völkermords Opfer von Vergewaltigungen geworden sind und deren Fälle im Mai 2008 von ordentlichen Gerichten, die einen besseren Schutz der Privatsphäre garantieren können, an Gacaca-Gerichte überwiesen wurden. Über die dortigen Verhandlungen ist aber die gesamte Gemeinde informiert, selbst wenn diese hinter verschlossenen Türen stattfinden. Viele der Vergewaltigungsopfer fühlten sich durch den Verlust ihrer Privatsphäre verraten.
Der Beschluss der Regierung, Verbrechen, die von Soldaten der derzeit regierenden Partei RPF begangen worden waren, der Zuständigkeit der Gacaca-Gerichte zu entziehen, hat dazu geführt, dass die Opfer immer noch auf Gerechtigkeit warten. Soldaten der RPF, der Partei, die im Juli 1994 den Völkermord beendete und danach die derzeitige Regierung bildete, töteten zwischen April und Dezember 1994 mehrere Tausend Menschen. Das Gacaca-Gesetz wurde 2004 dahingehend geändert, dass diese Verbrechen ausgeklammert wurden. Dadurch stellte die Regierung sicher, dass diese Straftaten nicht an den Gacacas verhandelt werden.
„Einer der gravierendsten Mängel der Gacacas liegt darin, dass man nicht allen Opfern der schweren Verbrechen von 1994 Gerechtigkeit zuteilwerden ließ“, so Bekele. „Dadurch dass die Regierung die von den RPF-Soldaten begangenen Verbrechen der Zuständigkeit der Gacaca-Gerichte entzogen hat, hat sie deren Möglichkeit, eine dauerhafte Versöhnung in Ruanda zu erreichen, eingeschränkt.“
Schwere Fehlurteile sollen nicht an Gacaca-Gerichten, sondern von professionellen Richtern an Sondergerichten innerhalb des ordentlichen Rechtssystems überprüft werden, so wie die ruandische Regierung es Ende 2010 vorgeschlagen hat.
„Wenn die Gacaca-Gerichte mutmaßliche Fehlurteile überprüfen, könnten sich einige dieser Probleme wiederholen“, so Bekele. „Die Regierung soll deshalb sicherstellen, dass diese Fälle innerhalb des offiziellen Rechtssystems auf professionelle, faire und unparteiische Weise überprüft werden. Das würde auch dazu beitragen, das Erbe der Gacacas zu wahren und das ruandische Justizsystem über Generationen zu stärken.“