(Washington, DC, 11. Januar 2011) – Die chinesische Regierung hat sich in den vergangenen beiden Jahren nicht an die im ersten Nationalen Aktionsplan Menschenrechte (2009-2010) bekundeten Selbstverpflichtungen zum Schutz wichtiger bürgerlicher und politischer Rechte gehalten, so Human Rights Watch heute.
Der 67-seitige Bericht „Promises Unfulfilled: An Assessment of China’s National Human Rights Action Plan“ dokumentiert Fortschritte beim Schutz bestimmter wirtschaftlicher und sozialer Rechte, beschreibt jedoch auch, wie die chinesische Regierung in den vergangenen beiden Jahren wichtige Ziele des Nationalen Aktionsplans Menschenrechte (NHRAP) durch weitere Einschränkungen der Meinungsäußerungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit in Frage gestellt hat. Diese Rückschritte bei wichtigen bürgerlichen und politischen Rechten haben eine Vielzahl von Menschenrechtsverletzungen, die auch im NHRAP ausdrücklich genannt werden, nicht verhindert, sondern vielmehr begünstigt.
„Wäre dieser Plan energisch umgesetzt worden und nicht von unzähligen durch die Regierung geduldeten Menschenrechtsverletzungen begleitet gewesen, hätte er einen echten Wandel in der chinesischen Menschenrechtspolitik markieren können“, so Sophie Richardson, Advocacy-Direktorin der Asien-Abteilung von Human Rights Watch. „Das Versagen der Regierung bei der Umsetzung des Aktionsplans macht jedoch deutlich, dass es sich eher um eine PR-Aktion gehandelt hat als um ein wirksames Instrument zum Schutz und zur Förderung der Rechte der Menschen in China.“
Die chinesische Regierung stellte den NHRAP im April 2009 als politisches Instrument zur „Förderung und [zum] Schutz der Menschenrechte im Zeitraum 2009-2010“ vor. Der Plan nennt politische Ziele in verschiedenen Bereichen, etwa bei den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten oder den bürgerlichen und politischen Rechten, und widmet den internationalen Menschenrechtsverpflichtungen der chinesischen Regierung und den Initiativen zur politischen Bildung über die Menschenrechte jeweils einen eigenen Abschnitt. Der Aktionsplan beschreibt sich als das Ergebnis der „umfassenden Mitwirkung“ von 53 Ministerien, Behörden und Nichtregierungsorganisationen, die der Regierung unterstehen, sowie von Wissenschaftlern aus neun verschiedenen Forschungseinrichtungen. Ihre Mitarbeit wurde durch das Informationsbüro des Staatsrats und durch das Außenministerium koordiniert.
Die gleichzeitig von der Regierung verübten Menschenrechtsverletzungen untergruben jedoch die Bedeutung und die Glaubwürdigkeit des NHRAP. Im Zeitraum 2009-2010 war die Regierung für folgende Maßnahmen verantwortlich:
• Sie ließ prominente Dissidenten wie den inhaftierten Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo unter fragwürdigen Anklagen wegen „Untergrabung der Staatsgewalt“ zu langjährigen Haftstrafen verurteilen.
• Sie weitete Einschränkungen der Pressefreiheit und freien Meinungsäußerung im Internet aus.
• Sie verstärkte die Überwachung von Anwälten, Menschenrechtlern und Nichtregierungsorganisationen.
• Sie intensivierte ihre Kontrolle über Uiguren und Tibeter.
• Sie ließ eine zunehmende Anzahl von Menschen verschleppen („verschwinden lassen“) oder willkürlich inhaftieren, teilweise auch in illegalen geheimen Haftanstalten, den sogenannten „schwarzen Gefängnissen“.
„China braucht einen glaubwürdigen nationalen Aktionsplan für die Menschenrechte, der nicht bloß darauf abzielt bzw. dazu verwendet wird, Kritik abzuwehren, sondern die Menschenrechtslage im Land zu verbessern“, so Richardson. „Die Tatsache, dass die chinesische Regierung hat bei den wichtigsten Zielen des Nationalen Aktionsplans Menschenrechte keine konkreten Fortschritte gemacht hat, lässt immer tiefere Zweifel daran aufkommen, dass China auch angesichts seiner wachsenden globalen Bedeutung bereit sein wird, sich an internationale Menschenrechtsstandards zu halten.“
Die wichtigsten Ergebnisse des Human Rights Watch-Berichts:
Fortschritte bei NHRAP-Zielen
Laut offizieller Zahlen hat die Politik der chinesischen Regierung dazu beigetragen, die Zahl der in absoluter Armut lebenden Chinesen seit 1978 um mehr als 200 Millionen zu reduzieren. Der NHRAP verpflichtete die Regierung, ihre laufenden Bemühungen zur Armutsbekämpfung fortzusetzen. Die Führung in Peking zählt die „Linderung der Armut“ auch zu den Prioritäten des kommenden zwölften Fünfjahresplans zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung. Obwohl landesweite Statistiken unzuverlässig sein können und Armut und Ungleichheit weiter ernstzunehmende Probleme sind, verdienen die Bemühungen der Regierung zur Anhebung des Lebensstandards Anerkennung.
Verfehlte NHRAP-Ziele
Folter
Obwohl im NHRAP beteuert wird, es sei „strengstens verboten, Geständnisse durch Folter zu erzwingen und Beweise mit Hilfe von Drohungen, Bestechung, Täuschung oder anderen unrechtmäßige Mittel zu beschaffen“, waren Misshandlungen von Inhaftierten in chinesischen Gefängnissen im Zeitraum 2009-2010 weiter an der Tagesordnung.
Unrechtmäßige Inhaftierung
Obwohl der NHRAP versichert: „Der Staat verbietet unrechtmäßige Inhaftierungen durch Strafvollzugspersonal“ und vorschreibt „Gegen Personen, die für illegale, unrechtmäßige oder verlängerte Inhaftierungen verantwortlich sind, sind Ermittlungen einzuleiten und Strafen zu verhängen, wenn sie für schuldig befunden werden“, waren unrechtmäßige Inhaftierungen in den Jahren 2009-2010 immer noch weit verbreitet. Zu den Opfern gehörten Tausende Tibeter, die nach den Unruhen in Tibet im März 2008 ohne gesetzliche Grundlage inhaftiert wurden, Dutzende uigurische Jungen und Männer muslimischen Glaubens, die nach den ethnischen Zusammenstößen in Urumqi im Juli 2009 verschleppt wurden, und Tausende Bürger, die in illegalen Geheimgefängissen festgehalten wurden.
Todesstrafe
Im Bezug auf Hinrichtungen erklärt der NHRAP: „[Die] Todesstrafe muss streng kontrolliert und umsichtig angewendet werden.“ Dennoch weigert sich die chinesische Regierung weiterhin, die Anzahl der jedes Jahr vollstreckten Hinrichtungen zu veröffentlichen. Die Mechanismen, die den Missbrauch der Todesstrafe verhindern sollen, sind nach derzeitigen Erkenntnissen unangemessen.
Internationale Menschenrechtsverpflichtungen und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der internationalen Menschenrechte
Dem NHRAP zufolge muss die Regierung „ihren Verpflichtungen im Rahmen der internationalen Menschenrechtskonventionen, denen sie beigetreten ist, nachkommen, und Konsultationen und Kooperationen auf dem Gebiet der internationalen Menschenrechte anregen und sich aktiv an ihnen beteiligen“. Ungeachtet dessen arbeitete die chinesische Regierung in Menschenrechtsfragen nur unzureichend mit internationalen Gremien zusammen. Sie wies wiederholt Forderungen nach einer unabhängigen Untersuchung der Unruhen in Tibet im März 2008 zurück, lehnte die Entsendung des UN-Hochkommissar für Menschenrechte nach Tibet sowie ähnliche Anfragen von sechs UN-Sonderberichterstattern ab und machte bei der ersten Überprüfung Chinas im Rahmen des UPR-Verfahrens vor dem UN-Menschenrechtsrat unzutreffende Aussagen, etwa: „Es gibt keine Zensur [in China]“ und „Weder Privatpersonen noch Verlage sind für die Äußerung ihrer Meinungen und Ansichten bestraft worden“.
Versäumnisse des NHRAP
Der Aktionsplan schenkt Themen, die im Vergleich mit Chinas drängenden Menschenrechtsproblemen bestenfalls zweitrangig sind, beachtliche Aufmerksamkeit, etwa der Erhöhung der pro Kopf zur Verfügung stehende Fläche in öffentlichen Sportanlagen bis 2010 auf 1,4 Quadratmeter und oder der Förderung digitaler Kino-, Radio- und Fernsehangebote.
Gleichzeitig übergeht der NHRAP eine Reihe wichtiger Menschenrechtsfragen, die sowohl chinesische als auch internationale Menschenrechtler als vorrangig betrachten: Das System der staatlichen Wohnsitzkontrolle (hukou), Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit steigenden Zahl von Streitigkeiten über Grundbesitz und Menschenrechtsfragen im Hinblick auf Chinas wachsendes diplomatisches, entwicklungspolitisches und finanzielles Engagement in Entwicklungsländern.
Ungeachtet dieser Schwachstellen im NHRAP, ruft Human Rights Watch die chinesische Regierung auf, den zur Ausarbeitung des Aktionsplans eingeleiteten Dialog auszuweiten und auch den Sachverstand der UN-Sonderberichterstatter zu nutzen, um die Ziele des Plans zu erreichen. Ein erster Schritt in diese Richtung wäre die Schaffung eines unabhängigen NHRAP-Kontrollausschusses, der untersucht, inwieweit die Ziele des Aktionsplans umgesetzt wurden. Das Gremium sollte zudem einen überarbeiteten NHRAP herausgeben, die konkrete Auswertungskriterien und Zeitrahmen enthält und eine regelmäßige öffentliche Überprüfung seiner Umsetzung vorsieht.