(Jerusalem) – Israelische Behörden begehen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, nämlich Apartheid und Verfolgung, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Diese Feststellung beruht auf der übergeordneten politischen Richtlinie der israelischen Regierung, die Vorherrschaft jüdischer Israelis über Palästinenser aufrechtzuerhalten, sowie auf den schweren Verbrechen, die gegen Palästinenser verübt wurden, die in den besetzten Gebieten, einschließlich Ost-Jerusalem, leben.
Der 213-seitige Bericht „A Threshold Crossed: Israeli Authorities and the Crimes of Apartheid and Persecution“ untersucht Israels Umgang mit den Palästinensern. Er beschreibt, wie heute de facto eine einzige Institution, die israelische Regierung, über einen Großteil des Gebiets zwischen Jordan und Mittelmeer herrscht, in dem es zwei etwa gleich große Bevölkerungsgruppen gibt. Während die Regierung jüdische Israelis dort bevorteilt, unterdrückt sie Palästinenser, insbesondere in den besetzten Gebieten.
„Prominente Stimmen haben jahrelang davor gewarnt, dass es nur ein kleiner Schritt hin zur Apartheid ist, wenn Israel nicht von dem eingeschlagenen Weg zur Vorherrschaft über die Palästinenser abweicht“, sagte Kenneth Roth, Executive Director von Human Rights Watch. „Diese detaillierte Studie zeigt, dass die israelischen Behörden diesen Schritt bereits hinter sich haben und heute die Verbrechen gegen die Menschlichkeit der Apartheid und der Verfolgung begehen.“
Die Feststellung von Apartheid und Verfolgung ändert nichts am rechtlichen Status der besetzten Gebiete, zu denen die Westbank, einschließlich Ost-Jerusalem, und Gaza gehören, oder an der Realität der israelischen Besatzung.
Der Begriff der Apartheid hat seinen Ursprung in Südafrika und ist heute ein allgemeingültiger Rechtsbegriff. Das Verbot der besonders schweren institutionellen Diskriminierung und Unterdrückung, oder auch Apartheid, stellt ein Grundprinzip des Völkerrechts dar. Die Internationale Konvention über die Unterdrückung und Bestrafung des Verbrechens der Apartheid von 1973 sowie das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) von 1998 definieren Apartheid als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das drei zentrale Elemente umfasst:
- Die Absicht, die Herrschaft einer rassischen Gruppe über eine andere aufrechtzuerhalten.
- Der Kontext einer systematischen Unterdrückung einer marginalisierten Gruppe durch eine dominante Gruppe.
- Inhumane Akte.
Dem heutigen Verständnis nach bezieht sich „rassische“ Gruppe nicht allein auf eine Behandlung auf der Grundlage genetischer Merkmale, sondern auch auf eine Behandlung auf der Grundlage der Abstammung oder des nationalen bzw. ethnischen Ursprungs, wie sie im Internationalen Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (ICERD) definiert ist. Human Rights Watch greift auf dieses erweiterte Verständnis des Konzepts „Rasse“ zurück.
Verfolgung, die unter dem Römischen Statut und dem Völkergewohnheitsrecht als Verbrechen gegen die Menschlichkeit definiert ist, umfasst die schwere Verletzung der Grundrechte einer „rassischen“, ethnischen oder anderen Gruppe mit diskriminierender Absicht.
Human Rights Watch stellte fest, dass die Elemente dieser Verbrechen in den besetzten Gebieten gemeinsam auftreten, und zwar als Teil einer einheitlichen Politik der israelischen Regierung. Diese Politik ist darauf ausgerichtet, die Vorherrschaft jüdischer Israelis über Palästinenser in Israel sowie in den besetzten Gebieten aufrechtzuerhalten. In den besetzten Gebieten ist diese Politik mit der systematischen Unterdrückung und unmenschlichen Handlungen gegen dort lebende Palästinenser verbunden.
Basierend auf der jahrelangen Dokumentation der Menschenrechtslage, Fallstudien, einer Beurteilung der Planungsunterlagen der Regierung sowie Erklärungen durch Offizielle und anderen Quellen hat Human Rights Watch die politischen Richtlinien und Maßnahmen für Palästinenser in den besetzten Gebieten und in Israel mit denen für jüdische Israelis in denselben Gebieten verglichen. Human Rights Watch bat die israelische Regierung im Juli 2020 um eine Stellungnahme zu diesen Fragen, erhielt jedoch keine Antwort.
Sowohl in Israel als auch in den besetzten Gebieten waren israelische Behörden bestrebt, das für jüdische Gemeinschaften zur Verfügung stehende Land auszuweiten und dafür zu sorgen, dass der Großteil der Palästinenser in dichtbesiedelten Zentren lebt. Die Behörden haben Maßnahmen ergriffen, um den von ihnen öffentlich als „Gefahr“ beschriebenen demographischen Wandel einzudämmen. Für die Stadt Jerusalem, sowohl im westlichen Teil als auch in den besetzten östlichen Teilen, verfolgt die Regierung das Ziel, eine „solide jüdische Mehrheit in der Stadt aufrechtzuerhalten“, und definierte zu diesem Zweck sogar das demographische Verhältnis, das sie erhofft, aufrechtzuerhalten.
Um ihre Vorherrschaft aufrechtzuerhalten, diskriminieren israelische Behörden systematisch die Palästinenser. Zur institutionellen Diskriminierung, der palästinensische Bürger Israels ausgesetzt sind, gehören Gesetze, die es Hunderten von jüdischen Kleinstädten erlauben, Palästinenser faktisch auszuschließen, sowie Budgets, die palästinensischen Schulen nur einen Bruchteil der Mittel zukommen lassen, die Schulen für jüdisch-israelische Kinder zur Verfügung stehen. Die Schwere der Repression in den besetzten Gebieten, wozu auch die drakonische Militärherrschaft über die Palästinenser gehört, während jüdische Israelis, die in abgetrennten Gemeinden im selben Territorium leben, alle Rechte gemäß dem israelischen Zivilrecht genießen, lässt sich als systematische Unterdrückung begreifen, die die Anforderungen der Definition von Apartheid erfüllt.
Die israelischen Behörden haben verschiedenste Rechte von Palästinensern verletzt. In den besetzten Gebieten stellen viele Fälle schwerwiegende Verletzungen von Grundrechten dar und sind inhumane Akte – eines der zentralen Elemente der Apartheid. Dazu gehören: weitreichende Einschränkungen der Bewegungsfreiheit durch die Gaza-Blockade und ein Passierschein-System, die Enteignung von mehr als einem Drittel des Landes in der Westbank, strenge Auflagen in Teilen der Westbank, die zur Zwangsumsiedlung von Tausenden von Palästinensern geführt haben, die Verweigerung des Aufenthaltsrechts für Hunderttausende Palästinenser und ihre Angehörige sowie die Aufhebung grundlegender Bürgerrechte für Millionen von Palästinensern.
Viele der Übergriffe, die mit diesen Verbrechen verbunden sind, wie etwa die praktisch durchgängige Verweigerung von Baurechten für Palästinenser und die Zerstörung von Tausenden von Häusern unter dem Vorwand fehlender Genehmigungen, lassen sich auch mit Sicherheitsbedenken nicht rechtfertigen. In anderen Fällen, wie dem des faktischen Stopps neuer Eintragungen ins Melderegister in den besetzten Gebieten, der die Familienzusammenführung von Palästinensern verhindert und Einwohner von Gaza daran hindert, in der Westbank zu leben, dienen Sicherheitsargumente als Vorwand, das oben genannte demographische Verhältnis zu erreichen. Selbst Fälle, bei denen es tatsächlich um die Sicherheitsfragen geht, rechtfertigen keine Apartheid und Verfolgung, ebenso wenig wie sie die übermäßige Anwendung von Gewalt oder Folter rechtfertigen würden, so Human Rights Watch.
„Wenn Millionen von Palästinensern ihre Grundrechte verweigert werden, ohne legitime Sicherheitsbedenken als Rechtfertigung und alleine deswegen, weil sie palästinensisch und nicht jüdisch sind, geht es nicht allein um eine Besatzung, die Rechte verletzt“, sagte Roth. „Diese Politik, die jüdischen Israelis unabhängig ihres Wohnorts dieselben Rechte und Privilegien zuspricht, Palästinenser jedoch unabhängig ihres Wohnorts in unterschiedlichem Maße diskriminiert, steht für einen Ansatz, der eine Gruppe von Menschen zulasten einer anderen Gruppe bevorteilt.“
Die Erklärung und Maßnahmen der israelischen Behörden in den letzten Jahren, einschließlich der Verabschiedung eines Gesetzes mit Verfassungsrang im Jahr 2018, das Israel als „Nationalstaat des jüdischen Volkes“ definiert, die steigende Zahl an Gesetzen, die israelische Siedler in der Westbank privilegieren und nicht für die im selben Territorium lebenden Palästinenser gelten, sowie der massive Ausbau der Siedlungen in den letzten Jahren und einer entsprechenden Infrastruktur, die diese Siedlungen mit Israel verbindet, stehen für die Absicht, die Vorherrschaft jüdischer Israelis aufrechtzuerhalten. Die Möglichkeit, dass ein künftiger israelischer Premierminister eines Tages ein Abkommen mit den Palästinensern schließen könnte, der diesem diskriminierenden System ein Ende setzt, ändert nichts an dieser Tatsache.
Die israelischen Behörden sollten alle Formen der Repression und Diskriminierung beenden, die jüdische Israelis zulasten von Palästinensern bevorteilen, unter anderem in Bezug auf die Bewegungsfreiheit, Zuteilung von Land und Ressourcen, den Zugang zu Wasser, Strom und anderen Diensten sowie die Erteilung von Baugenehmigungen.
Die Anklagebehörde des IStGH sollte jene strafrechtlich ermitteln und verfolgen, die nachweislich in die Verbrechen gegen die Menschlichkeit der Apartheid und der Verfolgung involviert sind. Andere Länder sollten dies im Rahmen ihrer eigenen nationalen Gesetzgebung nach dem Prinzip der universellen Gerichtsbarkeit ebenfalls tun und individuelle Sanktionen, einschließlich Reiseverboten und dem Einfrieren von Vermögen, gegen jene Offizielle verhängen, die für diese Verbrechen verantwortlich sind.
Die Feststellung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit sollte dazu führen, dass die internationale Gemeinschaft ihren Ansatz zum Umgang mit Israel und Palästina neu bewertet und eine Herangehensweise wählt, die auf Menschenrechten und Rechenschaftspflicht basiert, statt allein auf dem blockierten „Friedensprozess“. Staaten sollten eine UN-Untersuchungskommission mit der Aufgabe betrauen, die systematische Diskriminierung und Repression in Israel und Palästina zu untersuchen, und einen UN-Sondergesandten für die Verbrechen der Verfolgung und der Apartheid einsetzen, der mit einem Mandat ausgestattet ist, internationale Maßnahmen zur weltweiten Beendigung von Verfolgung und Apartheid einzuleiten.
Staaten sollten Waffenverkäufe sowie militärische und sicherheitsbezogene Unterstützung für Israel daran knüpfen, dass konkrete und nachprüfbare Schritte hin zur Beendigung dieser Verbrechen ergriffen werden. Staaten sollten alle Abkommen, Kooperationsvereinbarungen und jede Form des Handels und Umgangs mit Israel daraufhin prüfen, ob sie direkt zu diesen Verbrechen beitragen. Sie sollten die Beeinträchtigung der Menschenrechte einschränken und, wo dies nicht möglich ist, Maßnahmen und Finanzierungen einstellen, bei denen davon auszugehen ist, dass sie solche schwerwiegenden Verbrechen begünstigen.
„Während ein Großteil der Welt die seit einem halben Jahrhundert währende Besatzung durch Israel als temporäre Situation betrachtet, die ein jahrzehntelanger ‚Friedensprozess‘ bald überwinden wird, hat die Unterdrückung der Palästinenser eine Grenze überschritten und eine Dauerhaftigkeit erreicht, die den Definitionen der Verbrechen der Apartheid und der Verfolgung gerecht werden“, erklärte Roth. „Jene, die für einen israelisch-palästinensischen Frieden eintreten, ob in Form einer Ein- oder Zweistaatenlösung oder einer Konföderation, sollten bis dahin diese Realität als das anerkennen, was sie ist, und geeignete menschenrechtsbasierte Instrumente zur Anwendung bringen, die erforderlich sind, um sie zu beenden.“