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Demonstranten in Venezuela, die gegen die Regierung protestieren, gedenken derjenigen, die bei Zusammenstößen mit Sicherheitskräften getötet wurden. © 2017 Associated Press

(Berlin) – Den Menschenrechtsverletzungen von Autokraten wird zunehmend Widerstand entgegengesetzt, so Human Rights Watch heute anlässlich der Veröffentlichung des World Report 2019. Innerhalb der Europäischen Union, bei den Vereinten Nationen und in der ganzen Welt drängen neue Staatenbündnisse, häufig mit Unterstützung durch Bürgerrechtsgruppen und Protestbewegungen, menschenrechtsfeindliche Populisten zurück.

Der 674-seitige World Report 2019, der in diesem Jahr zum 29. Mal erscheint, fasst Menschenrechtsentwicklungen in über 100 Staaten zusammen. Im seinem einleitenden Essay schreibt Human Rights Watch-Direktor Kenneth Roth, die wichtigste Erkenntnis des zurückliegenden Jahres sei nicht, dass autoritäre Trends andauerten, sondern dass der Widerstand gegen sie wachse. Dieser Widerstand zeigt sich in vielfältigen Entwicklungen. Die Gegenwehr gegen die Angriffe auf die Demokratie in Europa wurde stärker. Es gab Versuche, ein neues Blutbad in Syrien zu verhindern, die Verantwortlichen für ethnische Säuberungen gegen Rohingya-Muslime in Myanmar zur Rechenschaft zu ziehen und die von Saudi-Arabien angeführten Bombardements und Blockaden gegen die Zivilbevölkerung im Jemen zu beenden. Das altbewährte Verbot von Chemiewaffen wurde verteidigt. Auf den kongolesischen Präsidenten Joseph Kabila wurde eingewirkt, damit er die verfassungsmäßige Einschränkungen seiner Herrschaft akzeptiert. Schließlich wurde gefordert, dass der Mord am saudischen Journalisten Jamal Khashoggi lückenlos untersucht wird.

„Indem Populisten Hass und Intoleranz verbreiten, rufen sie eine Widerstandsbewegung auf den Plan, die immer wieder Erfolge verbuchen kann“, so Roth. „Diese sind zwar niemals garantiert, aber man kann sagen: Die Auswüchse der Autokratie haben einen kraftvollen Widerstand hervorgerufen.“

In Europa nahm der Einsatz für die Menschenrechte verschiedene Formen an, sowohl auf der Straße als auch in den Institutionen. In Ungarn demonstrierten viele Menschen gegen die Bestrebungen von Viktor Orban, die Central European University, eine akademische Bastion des freien Forschens und Denkens, zu schließen. Auch stieß das sogenannte „Sklavengesetz“ auf Widerstand, das die Anzahl erlaubter Überstunden erhöhen und eine bis zu dreijährige Verzögerung der Bezahlung von Überstunden erlauben soll.

Im September gab es einen großen Moment für die EU, als das Europäische Parlament auf die zunehmend autokratische Regierungsführung Viktor Orbans mit der Einleitung eines Verfahrens nach Artikel 7 des EU-Vertrags reagierte, dem politische Sanktionen folgen können. Fast 70 Prozent der Abgeordneten aus verschiedensten Parteien stimmten für diesen beispiellosen Schritt.

Aktuell wird debattiert, ob der nächste Fünfjahreshaushalt der EU, der bis Ende 2020 verabschiedet werden soll, an die Achtung demokratischer Normen geknüpft werden soll. Damit signalisiert das EU-Parlament Ungarn, einem der größten Pro-Kopf-Empfänger von EU-Geldern, dass es sich nicht länger auf die Freigiebigkeit der EU verlassen kann, wenn es weiter die demokratischen Grundfreiheiten der EU untergräbt.

In Polen gingen wiederholt Zehntausende Menschen auf die Straße, um die Unabhängigkeit ihrer Gerichte zu verteidigen. Die polnischen Richter weigerten sich, ihr Amt niederzulegen, und trotzten damit den Bemühungen des PiS-Vorsitzenden Jarosław Kaczyński, sie aus dem Weg zu räumen. Der Europäische Gerichtshof erklärte ihre Weigerung später für rechtens. Daraufhin setzten die polnischen Behörden die Richter wieder ein.

Auch außerhalb der EU, zeigten einige europäische Staaten bemerkenswerte Führungsqualitäten in Menschenrechtsfragen. Die Niederlande, Belgien, Luxemburg und Irland setzten sich gemeinsam mit Kanada dafür ein, die plumpen Bemühungen Saudi-Arabiens abzuwehren, eine Untersuchung der mutmaßlichen Kriegsverbrechen im Jemen zu verhindern. Nach dem Mord an Jamal Khashoggi verhängte Deutschland gegen 18 saudische Funktionäre ein Einreiseverbot in den 26 Staaten umfassenden Schengenraum. Deutschland, Dänemark und Finnland stoppten ihre Waffenexporte nach Saudi-Arabien. (Die USA und Kanada verhängten gezielte Sanktionen gegen viele der in den Mord verwickelten Saudis.) Dieser internationale Druck trug offensichtlich dazu bei, dass die von Saudi-Arabien geführte Koalition im Jemen einem Waffenstillstand rund um den Hafen Hodeidah zustimmte, einem wichtigen Zugangspunkt zu der hungerleidenden Zivilbevölkerung. Dieser wurde von der UN ausgehandelt.

Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundesaußenminister Heiko Maas übten öffentlich Kritik an Russlands Präsident Wladimir Putin, Chinas Präsident Xi Jinping und dem türkischen Präsident Recep Tayyip Erdogan, weil diese die Menschenrechte untergruben und Oppositionelle, Aktivisten und Journalisten verhaften ließen. Deutschland wird für die nächsten zwei Jahre als nichtständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat sitzen. Dies bietet der Bundesregierung die Gelegenheit, eine Führungsrolle bei den Menschenrechten zu übernehmen.

In den USA versuchte Präsident Donald Trump, seine Anhänger zu mobilisieren, indem er die Ankunft von Asylsuchenden, die vor der Gewalt in Zentralamerika flohen, zur Krise erklärte. Unter anderem weil viele Wähler diese Panikmache ablehnten, gewann die Demokratische Partei bei den Wahlen die Kontrolle über das Repräsentantenhaus zurück.

Auch bei anderen Machtverschiebungen spielten die Menschenrechte eine Rolle. So entmachteten die Wähler in Malaysia und auf den Malediven ihre korrupten Premierminister. Armeniens Premier musste nach Massenprotesten gegen seine Korruption zurücktreten. Äthiopien ersetzte nach öffentlichem Druck seine für Missbrauch verantwortliche Regierung, deren neuer Premier Abiy Ahmed eine beeindruckende Reformagenda auf den Weg brachte. In Sri Lanka konnten Parlament, Justiz und Öffentlichkeit einen „verfassungsmäßigen Putsch“ durch den amtierenden Präsidenten und seinen Vorgänger abwehren.

Doch nicht alle Trends sind positiv. Die Autokraten unserer Zeit versuchen, die Demokratie zu untergraben: Sie dämonisieren schutzlose Minderheiten, verschaffen sich breiten Rückhalt und schwächen anschließend Kontrollmechanismen, welche die Befugnisse der Regierung einschränken. Dazu zählen unabhängige Gerichte, freie Medien und starke Bürgerrechtsgruppen. Der menschliche Preis dafür kann enorm hoch sein. Dies belegen die humanitäre Krise im einst reichen Venezuela, die willkürlichen Massenhinrichtungen im Zuge des Drogenkriegs auf den Philippinen oder die massenhafte Inhaftierung und Indoktrinierung von – glaubwürdigen Schätzungen zufolge – über einer Million Uiguren und anderen Muslimen in China.

In China wurde die staatliche Repression im vergangenen Jahr verschärft und erreichte die schlimmsten Ausmaße seit der blutigen Niederschlagung der Demokratiebewegung auf dem Tiananmen-Platz im Jahr 1989. Präsident Xi Jinping schaffte die Beschränkung seiner Amtszeit ab und weitete die Überwachung gewöhnlicher Bürger massiv aus. Die Behörden verstärkten ihre Angriffe auf die freie Meinungsäußerung. Sie verhafteten Journalisten, verfolgten Bürgerrechtler, unterwarfen Universitäten einer noch strengeren ideologischen Kontrolle und intensivierten ihre Zensur des Internets.

Dank der Zurückhaltung der Autokraten beim Schutz der Menschenrechte konnten Gewaltherrscher leichter mit Massengräueln davonkommen. Dies galt für Syriens Krieg gegen die Zivilbevölkerung in den Oppositionsgebieten oder für die willkürlichen Bombardements und Blockaden der von Saudi-Arabien geführten Koalition im Jemen. Aufgrund des weltweiten Widerstands mussten die Verantwortlichen jedoch einen immer höheren Preis für solche Taten bezahlen.

Der UN-Menschenrechtsrat stimmte mit überwältigender Mehrheit für eine wegweisende Resolution, die gemeinsam von der EU und der Organisation für Islamische Zusammenarbeit eingebracht worden war. Der Beschluss schafft einen Mechanismus, der Beweise für die schweren Völkerrechtsverletzungen in Myanmar seit 2011 sammeln, sichern und auswerten kann. So soll eine künftige Anklage gegen die Verantwortlichen vorbereitet werden.

In Syrien eroberten die Streitkräfte der Regierung mit Unterstützung Russlands, des Irans und der bewaffneten Gruppen der Hisbollah einen großen Teil des Staatsgebiets zurück. Europa konnte durch seinen Druck auf Russland eine uneingeschränkte Offensive gegen die nordwestsyrische Provinz Idlib verhindern. Dort drohte ein erneutes Blutbad, da mit weiteren willkürlichen Bombardements der etwa 3 Millionen dort lebenden Zivilisten durch die syrisch-russische Militärallianz gerechnet werden musste. Putin stimmte im September einem Waffenstillstand zu, der bislang zwar instabil ist, aber hält. Dies zeigt, dass internationaler Druck selbst in so komplexen Situationen wie in Syrien Menschenleben retten kann.

Der Druck einiger afrikanischer Staaten trug entscheidend dazu bei, dass der kongolesische Präsident Kabila endlich Wahlen um seine Nachfolge ansetzte, zwei Jahre nachdem seine Amtszeit abgelaufen war. Die von der regierungsnahen Wahlkommission bekannt gegebenen Wahlergebnisse bleiben jedoch umstritten. Die Gefahr eines massenhaften Rückzugs afrikanischer Staaten vom Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) nahm weiter ab, nachdem zahlreiche afrikanische Regierungen und Bürgerrechtsgruppen Widerstand gegen die Austrittspläne leisteten.

Ein großer Teil des Widerstands erfolgte bei den Vereinten Nationen, obwohl autokratische Staatschefs versuchten, den Multilateralismus und die durch ihn gesetzten internationalen Normen zu untergraben. Neben seinen wichtigen Maßnahmen zu Myanmar und dem Jemen, verabschiedete der UN-Menschenrechtsrat auch erstmals eine Resolution, welche die schwere Repression in Venezuela unter Präsident Nicolas Maduro verurteilte. Fünf lateinamerikanische Regierungen und Kanada forderten den Internationalen Strafgerichtshof auf, Ermittlungen wegen der Menschenrechtsverletzungen in Venezuela einzuleiten. Damit setzten sich zum ersten Mal Staaten für eine IStGH-Untersuchung von Verstößen ein, die vollständig außerhalb ihres Staatsgebietes stattgefunden haben.

„Die Schauplätze für die Verteidigung der Menschenrechte haben sich verschoben, viele langjährige Mitstreiter haben sich zurückgezogen oder die Seiten gewechselt“, so Roth. „Doch gleichzeitig sind wirksame Bündnisse entstanden, die Regierungen die Stirn bieten, wenn sie der Bevölkerung keine Rechenschaft ablegen und deren Rechte mit Füßen treten.“

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