(Genf) – Die Behörden des Iraks und der kurdischen Regionalregierung haben Hunderte Kinder wegen mutmaßlicher Verbindungen zum Islamischen Staat (auch bekannt als ISIS) des Terrorismus‘ angeklagt, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Die Strafverfolgung basiert häufig auf fragwürdigen Anschuldigungen und unter Folter erzwungenen Geständnissen.
Der 53-seitige Bericht „'Everyone Must Confess': Abuses against Children Suspected of ISIS Affiliation in Iraq“ zeigt, dass die irakischen Behörden und die der Regionalregierung häufig Kinder festnehmen und Verfahren gegen sie anstrengen, wenn auch nur lose Verbindungen zu ISIS angenommen werden. Sie werden dann mit Folter zu Geständnissen gezwungen und in schnellen, unfairen Verfahren zu Haftstrafen verurteilt. Unter dem Völkerrecht gelten Kinder, die von bewaffneten Streitkräften rekrutiert werden, primär als Opfer, die resozialisiert und in die Gesellschaft reintegriert werden sollten.
„Kinder, denen Verbindungen zu ISIS vorgeworfen werden, werden inhaftiert, oft gefoltert und verurteilt, ohne dass berücksichtigt wird, ob und wie stark sie tatsächlich an Aktivitäten dieser Gruppe beteiligt waren“, so Jo Becker, Advocacy Direktorin der Abteilung für Kinderrechte bei Human Rights Watch. „Dieser pauschale, auf Strafe basierende Ansatz hat nichts mit Gerechtigkeit zu tun und wird für viele der Kinder lebenslang negative Folgen haben.“
Irakische Kinder, die wegen mutmaßlicher Verbindungen zu ISIS verhaftet wurden, berichteten, dass sie nach ihrer Entlassung Angst davor haben, nach Hause zu gehen. Denn ihre Verhaftung brandmarke sie automatisch als ISIS-Mitglieder und setzt sie der Gefahr aus, Racheakten zum Opfer zu fallen. Kinder, die in der Autonomen Region Kurdistan festgenommen wurden, befürchten eine neuerliche Verhaftung, wenn sie in von Bagdad kontrollierte Gebiete zurückkehren. Wegen ihrer Stigmatisierung könnten sie dauerhaft von ihrer Familie und ihrer Gemeinschaft getrennt bleiben.
Die irakischen Behörden und die der Regionalregierung wenden zutiefst problematische Überprüfungsmethoden an, die häufig dazu führen, dass Kinder inhaftiert und verurteilt werden. Dabei spielt es keine Rolle, ob und in welchem Ausmaß sie überhaupt an Aktivitäten von ISIS beteiligt waren. Ein 17-jähriger Inhaftierter sagte beispielsweise, er habe in einem Restaurant in Mosul gearbeitet, in dem ISIS-Mitglieder bedient wurden. Er glaubt, dass sein Name auf einer Fahndungsliste steht, weil ISIS seine Daten aufgenommen hat, um ihn zu bezahlen.
Andere Minderjährige sind im Gefängnis, weil sie den gleichen Namen haben wie ein mutmaßliches ISIS-Mitglied. In vielen Fällen zeigen Nachbarn Personen wegen Verbindungen zu ISIS an, selbst wenn sie nur wenige oder gar keine Beweise vorlegen können, oder auf Grund von persönlichen Streitereien.
Human Rights Watch schätzt, dass die irakischen Behörden und die der Regionalregierung zum Jahresende 2018 etwa 1.500 Kinder wegen angeblicher Verbindungen zu ISIS festhielten. Angaben der irakischen Behörden zufolge wurden mindestens 185 ausländische Kinder des Terrorismus schuldig gesprochen und zu Haftstrafen verurteilt.
Im November 2018 befragte Human Rights Watch 29 Personen, die in der Autonomen Region Kurdistan als Minderjährige wegen des Vorwurfs inhaftiert wurden, sie unterhielten Verbindungen zu ISIS. Zudem wurden acht weitere Kinder befragt, die von den irakischen Behörden als mutmaßliche ISIS-Mitglieder verhaftet wurden, sowie Kinderschutzexperten, Anwälte vor Ort und andere Rechtsexperten. Im Jahr 2017 besuchte Human Rights Watch mehre Hafteinrichtungen in von Bagdad kontrollierten Gebieten, in den Kinder wegen mutmaßlicher Verbindungen zu ISIS inhaftiert waren.
Von den Kindern, die einräumten, Verbindungen zu ISIS unterhalten zu haben, sagten die meisten, sie hätten sich der Gruppe aus wirtschaftlicher Not angeschlossen, weil ihre Freunde oder ihre Familie sie unter Druck setzten oder weil sie vor familiären Problemen fliehen oder ihren sozialen Status verbessern wollten. Andere stritten ab, irgendetwas mit ISIS zu tun zu haben. Manche sagten, dass sie Familienangehörige hätten, die ISIS-Mitglieder seien. Die Frage, ob sie selbst für ISIS aktiv gewesen waren, ließ sich nicht unabhängig überprüfen.
Sobald ein Kind inhaftiert wird, foltern es die Sicherheitskräfte oft, bis es gesteht. 19 der 29 Jungen und jungen Männer, die in der Autonomen Region Kurdistan inhaftiert waren, gaben an, dass sie gefoltert wurden. Sie wurden unter anderem mit Plastikleitungen, Stromkabeln oder Stangen geschlagen, erhielten Stromschläge oder wurden in sogenannte Stress-Positionen gezwungen. Zu einem 17-jährigen Jungen sagten die Personen, die ihn befragten: „Du musst sagen, dass du zu ISIS gehörst. Auch wenn du das nicht tust, musst du es sagen.“
Ein anderer 17-Jähriger, der von irakischen Sicherheitskräften festgenommen wurde, sagt, dass er geschlagen und mehrfach zehn Minuten lang an seinen hinter dem Rücken gefesselten Händen aufgehängt wurde. Die Sicherheitskräfte sagten ihm, wenn er vor dem Richter abstreiten würde, dass er gestanden hätte, würde er weiter gefoltert werden.
Mehrere Kinder, die in der Autonomen Region Kurdistan in Haft sind, berichteten, dass sie dem Richter gegenüber sagten, dass ihre Geständnisse unter Folter erzwungen worden seien, aber das der Richter sie scheinbar ignorierte. Die Gesetze des Iraks und der Autonomen Region Kurdistan schreiben vor, dass die Behörden wegen Straftaten angeklagten Personen ermöglichen müssen, anwaltlichen Beistand einzuholen. Dennoch sagten die meisten befragten Jungen, dass sie nicht wissen, ob sie einen Anwalt hatten, und dass ihre Anhörungen und Prozesse nicht länger als fünf bis zehn Minuten dauerten.
Im föderalen Irak werden Kinder oft gemeinsam mit Erwachsenen in massiv überfüllten Gefängnissen und unter unhygienischen Bedingungen festgehalten, wo sie keinen Zugang zu Bildung und Resozialisierung und keinen Kontakt zu ihren Familien haben. Kinder, die in der Besserungsanstalt für Frauen und Kinder in Erbil inhaftiert sind, schildern bessere Bedingungen, etwa gutes Essen und eine von Erwachsenen getrennte Unterbringung. Dennoch erhalten Kinder, die wegen mutmaßlicher Verbindungen zu ISIS inhaftiert sind, keine Bildung, werden bis zu 48 Stunden am Stück in ihren Zellen verwahrt und dürfen während der Untersuchungshaft ihre Familien nicht anrufen. Einige berichteten davon, dass sie bei angeblichem Fehlverhalten vom Wachpersonal geschlagen werden.
Die irakische Regierung und die kurdische Regionalregierung sollen ihre Anti-Terror-Gesetze ändern, so dass Kinder nicht mehr länger nur auf Grund von einer ISIS-Mitgliedschaft inhaftiert und verurteilt werden dürfen. Damit würden sie anerkennen, dass das Völkerrecht es verbietet, Kinder für bewaffnete Gruppen zu rekrutieren. Sie sollen alle Kinder aus der Haft entlassen, die keine weiteren Verbrechen begangen haben, und ihre Resozialisierung und Reintegration gewährleisten. Kinder, die mutmaßlich andere Gewalttaten begangen haben, sollten in Einklang mit den internationalen Standards des Jugendstrafrechts behandelt werden. Zudem sollen die Behörden alle Formen von Folter beenden, die Verantwortliche ermitteln und zur Verantwortung ziehen.
„Dass der Irak und die kurdische Regionalregierung so hart mit Kindern umgehen, sieht eher nach blinder Rache als nach Gerechtigkeit für die Verbrechen von ISIS aus“, so Becker. „Kinder, die an bewaffneten Konflikten beteiligt waren, haben ein Recht auf Resozialisierung und Reintegration, nicht auf Folter und Gefängnis.“