(Brüssel) – Die Europäische Union und die Regierungen der Mitgliedstaaten waren im vergangenen Jahr kaum bereit, Menschenrechtsverletzungen innerhalb der EU entgegenzutreten. Gleichzeitig betonten sie jedoch die Bedeutung der Menschenrechte für den Arabischen Frühling, so Human Rights Watch im heute veröffentlichten World Report 2012.
Human Rights Watch weist darin auf besorgniserregende Trends bei den Menschenrechten innerhalb der EU hin und hebt die Ereignisse in neun Mitgliedstaaten sowie Entwicklungen auf den Gebieten Migration und Asyl, Diskriminierung und Intoleranz sowie Terrorismusbekämpfung hervor.
Ein Essay in dem Bericht analysiert langfristige Trends beim Menschenrechtsschutz in Europa. Demnach befinden sich die Menschenrechte in Europa in einer Krise: Sie werden immmer weniger geachtet, gegen ihre Verletzung wird nur ungenügend vorgegangen, extremistische Parteien haben immmer mehr Einfluss und die Menschenrechte verlieren zunehmend ihre universale Gültigkeit. Deshalb besteht dringend Handlungsbedarf.
„Wenn man sich die hochtrabende Rhetorik zum Arabischen Frühling anhört, sollte man denken, dass die Menschenrechte ein zentrales Anliegen der EU sind“, so Benjamin Ward, stellvertetender Direktor der Abteilung Europa und Zentralasien von Human Rights Watch. „Doch die traurige Wahrheit ist, dass EU-Regierungen die Menschenrechte, insbesondere die Rechte von schutzlosen Minderheiten und Migranten, häufig außer Acht lassen, wenn sie sich als lästig erweisen, und dass sie Kritik an Menschenrechtsverletzungen unter den Teppich kehren.“
In dem 676-seitigen Bericht beurteilt Human Rights Watch die Menschenrechtslage in über 90 Ländern weltweit, insbesondere auch bei den Volksaufständen in der arabischen Welt, die noch vor einem Jahr praktisch unvorstellbar waren.
Obwohl es weit hergeholt erscheinen mag, von einer Menschenrechtskrise in der EU zu sprechen, zeigt eine nähere Betrachtung zutiefst besorgniserregende Trends. Dabei stechen vier Entwicklungen ins Auge: Die Aushöhlung der Menschenrechte im Rahmen der Terrorismusbekämpfung, die wachsende Intoleranz und repressive Politik gegenüber Minderheiten und Migranten, der Aufstieg populistisch-extremistischer Parteien und ihr Einfluss auf die politische Mitte sowie die nachlassende Wirksamkeit der Instrumente und Institutionen zum Menschenrechtsschutz.
Beispielhaft dafür war, wie die Politik auf Migranten aus Nordafrika im Jahr 2011 reagiert hat. Es wurde gefordert, die Freizügigkeit innerhalb der EU-Grenzen einzuschränken; es gab Streitigkeiten darüber, wer für die Rettung von schiffbrüchigen Bootsflüchtlingen verantwortlich war; und die EU war kaum bereit, Flüchtlingen aus Libyen aufzunehmen.
Populistisch-extremistische Parteien erhielten auf dem gesamten EU-Gebiet weiter Unterstützung und übten einen negativen Einfluss auf die Politik der Mitte aus, besonders beim Umgang mit Roma, Muslimen und Migranten. Viele Regierungen griffen die Kritik der radikalen Parteien auf und setzten Methoden ein, die die Menschenrechte verletzten.
Die EU-Kommission wurde ihrer Pflicht nicht gerecht, entschlossen gegen Maßnahmen vorzugehen, welche die EU-Grundrechtecharta und anderes EU-Recht verletzen. Sie akzeptierte halbherzige Veränderungen eines äuβerst problematischen Mediengesetzes in Ungarn, verzichtete trotz fortdauernder Verstöße bei der Abschiebung von Roma aus Osteuropa auf ein Strafverfahren gegen Frankreich und stellte ein Verfahren gegen Griechenland ein, obwohl das Land sein mangelhaftes Asylverfahren nicht reformierte und die unmenschlichen und erniedrigenden Haftbedingungen für Migranten nicht beendete. Am 17. Januar kündigte die Kommission zwar Zwangsmaßnahmen gegen Ungarn wegen der Herabsetzung des Höchstalters für Richter an, es bleibt jedoch unklar, inwieweit dieser Schritt die Einmischung der Regierung in Justiz und Medien beeinflussen wird.
„Entgegen der angekündigten Null-Toleranz-Strategie zeigte die EU-Kommission nicht den nötigen Willen, um Mitgliedstaaten für Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft zu ziehen“, so Ward. „Wenn die Kommission nicht bald mutiger wird, wird sich der Abwärtstrend bei den Menschenrechten in der EU wohl fortsetzen.“
Wichtige Entwicklungen im Jahr 2011
Obwohl Hunderte Migranten bei der Flucht aus Libyen im Mittelmeer ertranken, ergriff die EU keine konzertierten Maßnahmen, um die Rettungskräfte besser zu koordinieren oder anerkannte Flüchtlinge aus Nordfrika in nennenswerter Anzahl umzusiedeln. Obwohl Italien und Malta zahlreiche Schiffbrüchige retteten, kamen Ende März und Anfang April 63 Flüchtlinge ums Leben, als mehrere Kriegsschiffe es angeblich versäumten, einem in Seenot geratenen Boot zu Hilfe zu kommen. In anderen Fällen wurden Flüchtlinge gefährdet, weil es Streitigkeiten über die Aufnahme geretteter Bootsflüchtlinge und Asylbewerber gab.
Die Entwicklung eines gemeinsamen Asylverfahrens kam im vergangenen Jahr nur schleppend voran. Die vorgeschlagenen neuen Richtlinien zu Aufnahme, Verfahren und Anforderungen standen zum Jahresende immer noch aus. Die EU konzentrierte sich einseitig darauf, die Zuwanderung zu kontrollieren, und vernachlässigte den Zugang zu Schutzmechanismen.
Im Januar 2011 erklärte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in einem richtungsweisenden Urteil, die Abschiebung von Asylbewerbern nach Griechenland verletze die Rechte der Betroffenen. Der EGMR ist eine Institution des Europarats, deren Entscheidungen für EU-Staaten bindend sind. Zur Begründung des Urteils verwiesen die Richter auf die unmenschlichen und erniedrigenden Haftbedingungen und den mangelhaften Zugang zum Asylverfahren für Flüchtlinge in Griechenland. Mit dieser Entscheidung und trotz der Angriffe aus Teilen der EU (etwa von britischen Ministern) bestätigte das Gericht seine Bedeutung für den Menschenrechtsschutz in der EU.
Das Urteil des EGMR und eine ähnliche Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs im Dezember verdeutlichten die Problematik der Dublin-II-Verordnung, die das Ankunftsland zur Prüfung des Asylantrags verpflichtet und damit den Staaten an den EU-Außengrenzen eine unangemessene Last aufbürdet. Während die meisten EU-Staaten nach dem EGMR-Urteil ihre Abschiebungen nach Griechenland aussetzten, traten die Bemühungen zur Reform der Verordnung auf der Stellen, weil sich die Mehrheit der EU-Staaten widersetzte.
In mehreren EU-Staaten, darunter Griechenland, Italien und Ungarn, kam es zu rassistischer und fremdenfeindlicher Gewalt gegen Migranten, Asylbewerber und Roma, der die betroffenen Regierungen nur halbherzig entgegentraten. Der schreckliche Terroranschlag eines ausländerfeindlichen Extremisten in Norwegen, bei dem im Juli 77 Menschen getötet wurden, unterstrich die Gefahren unkontrollierter Intoleranz. Dem setzte die norwegische Regierung durch ihre Entscheidung, den Terror mit „mehr Offenheit, mehr Demokratie und mehr Menschlichkeit“ zu beantworten, ein positives Beispiel entgegen. In Frankreich und Belgien traten neue Gesetze in Kraft, die das Tragen von vollständig gesichtsverdeckenden muslimischen Kopfbedeckungen verbieten. Gleichzeitig erklärten britische und französische Spitzenpolitiker den Multikulturalismus für gescheitert.
Auch im Rahmen von Antiterrormaßnahmen verletzten europäische Staaten die Menschenrechte. So ist es in Spanien erlaubt, Terrorverdächtige bis zu 13 Tage an einem geheimen Ort zu inhaftieren. In Frankreich sorgte eine Reform der Regelungen für die Behandlung von Personen in Polizeigewahrsam dafür, dass Terrorverdächtige ohne die Anwesenheit eines Rechtsbeistands verhört werden dürfen und ihr Zugang zu einem Anwalt bis zu 72 Stunden eingeschränkt werden kann. In Großbritannien wurden Gesetzentwürfe, die die Dauer der Untersuchungshaft und den Einsatz sogenannter Control Orders für Terrorverdächtige einschränken sollten, durch Regelungen untergraben, die in Notfällen eine Wiederherstellung der alten Befugnisse erlauben.
Auch bei der Aufklärung darüber, ob europäische Regierungen für Folter und den Betrieb von Geheimgefängnissen durch die USA Verantwortung trugen, gab es kaum Fortschritte. Litauen stellte eine entsprechende Untersuchung ein, in Polen kamen ähnliche Ermittlungen nur schleppend voran und in Rumänien wiesen die Behörden Beweismaterial zurück, das auf den Standort eines ehemaligen CIA-Geheimgefängnisses im Zentrum von Bukarest hindeutet. Ein deutsches Gericht wies eine Klage gegen die Bundesregierung ab, der vorgeworfen wurde, auf die Auslieferung von US-Bürgern verzichtet zu haben, die an der Überstellung eines deutschen Staatsbürgers nach Afghanistan im Jahr 2004 beteiligt gewesen sein sollen.
„Insgesamt ist die Entwicklung des Menschenrechtsschutzes in Europa Anlass zu großer Sorge“, so Ward. „Wenn die EU-Regierungen nicht gemeinsam umsteuern, könnte die nächste Generation von Europäern die Menschenrechte nicht mehr als zentralen Wert, sondern nur noch als optionales Extra betrachten.“