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Israelisch-palästinensischer Konflikt beeinträchtigt Rechte in Europa

Antisemitismus und Islamophobie bekämpfen; Recht auf Protest und freie Meinungsäußerung schützen

Eine Demonstration zur Unterstützung des palästinensischen Volkes in Straßburg, Frankreich, am 13. Oktober 2023. © 2023 Sipa via AP Images. (Oben rechts): Ein Demonstrant hält ein Schild während einer Mahnwache vor einem Gemeindezentrum und einer Synagoge in Berlin, Deutschland, am 20. Oktober 2023. © 2023 Sean Gallup/Getty Images. (Unten links) Ein pro-palästinensischer Demonstrant wird am 22. Oktober 2023 bei einer Demonstration in Berlin, Deutschland, von der Polizei festgenommen. © 2023 Sipa via AP Images. (Unten rechts): Eine Mahnwache vor einem Gemeindezentrum und einer Synagoge in Berlin, Deutschland, am 20. Oktober 2023. © 2023 Sean Gallup/Getty Images

(London) – Die Reaktionen der europäischen Regierungen auf die Feindseligkeiten zwischen Israel und bewaffneten palästinensischen Gruppen im Gazastreifen wirken sich negativ auf die Menschenrechte in Europa aus, erklärte Human Rights Watch heute. Grund zur Sorge geben hier die unzureichenden Reaktionen auf die zunehmenden Berichte über Antisemitismus und Islamophobie, die Einwanderungspolitik, die bisweilen eine Diskriminierung von Menschen riskiert, die als arabisch, palästinensisch oder muslimisch wahrgenommen werden, sowie Einschränkungen und Verbote von friedlichen pro-palästinensischen Protesten und Äußerungen.

„Die Behörden in den europäischen Ländern tragen die Verantwortung, für die Sicherheit aller Menschen zu sorgen und sie vor Gewalt und Diskriminierung zu schützen“, sagte Benjamin Ward, stellvertretender Direktor für Europa und Zentralasien bei Human Rights Watch. „Es ist zudem wichtig, dass die Behörden das Recht der Menschen auf friedliche Proteste und freie Meinungsäußerung schützen und sicherstellen, dass die Sicherheitsmaßnahmen der Regierungen keine Grundrechte verletzen.“

Mehrere Länder haben seit dem Beginn der Feindseligkeiten am 7. Oktober 2023 eine Zunahme antisemitischer Vorfälle gemeldet. Die Metropolitan Police in London, die größte britische Polizeibehörde, verzeichnete in den ersten 18 Tagen im Oktober 218 antisemitische Vorfälle, im gleichen Zeitraum im Jahr 2022 waren es 15. Bei den Community Monitors in Großbritannien gingen zwischen dem 7. und 23. Oktober landesweit 600 derartige Meldungen ein, im Vergleich zu 81 im gleichen Zeitraum 2022.

In Frankreich erklärte der Innenminister am 24. Oktober, dass es seit dem 7. Oktober 588 antisemitische Taten und 336 Festnahmen im Zusammenhang mit diesen gegeben habe. In Deutschland verzeichnete der Bundesverband RIAS, eine staatlich finanzierte Forschungsstelle für Antisemitismus, zwischen dem 7. und 15. Oktober 202 antisemitische Vorfälle. In der gleichen Woche im Vorjahr waren es 59.  

Diese Statistiken differenzieren nicht zwischen körperlichen Angriffen, Drohungen oder Hassreden gegen Personen und Taten, die sich gegen jüdische Einrichtungen oder Gebäude richten, wie z.B. ein Brandanschlag auf eine Synagoge oder das Schmieren eines Davidsterns an jüdische Häuser. Sie zeigen jedoch die wachsende Zahl von Vorfällen insgesamt seit dem 7. Oktober und geben Anlass zur Sorge in den jüdischen Gemeinden um die Sicherheit der Menschen.

Auch islamfeindliche Hassverbrechen haben an Orten, an denen solche Vorfälle registriert werden, stark zugenommen. Nach Angaben der Metropolitan Police kam es in London in den ersten 18 Tagen im Oktober zu 101 islamfeindliche Straftaten, gegenüber 42 im gleichen Zeitraum des Jahres 2022. Eine Gemeindeorganisation verzeichnete vom 7. bis 19. Oktober 291 islamfeindliche Vorfälle in Großbritannien. Das sind sechsmal mehr als im Vorjahreszeitraum.

Leider haben keine weiteren Länder Statistiken über gemeldete islamfeindliche Vorfälle seit dem 7. Oktober veröffentlicht, was darauf schließen lässt, dass sie keine Hassverbrechen gegen Menschen, die als muslimisch wahrgenommen werden, erfassen. Der Mangel an Daten behindert wirksame politische Reaktionen auf solche Hassverbrechen, so Human Rights Watch.

Die Behörden in verschiedenen europäischen Ländern haben seit dem 7. Oktober unverhältnismäßige Beschränkungen für pro-palästinensische Proteste und Reden verhängt.

Die französischen Behörden verhängten ein generelles Verbot pro-palästinensischer Proteste, das vom Staatsrat, Frankreichs höchstem Verwaltungsgericht, am 18. Oktober aufgehoben wurde. Vor dieser Entscheidung waren laut Medienberichten 64 Proteste verboten worden.    

Die Berliner Behörden haben mindestens sieben pro-palästinensische Proteste verboten, obwohl mehrere andere pro-palästinensische Proteste erlaubt wurden. Die Protestverbote lösten beim Antisemitismusbeauftragten des Landes Besorgnis aus, der darauf hinwies, dass „Demonstrieren ein Grundrecht ist“. Am 13. Oktober erteilte der Berliner Senat Schulen die Befugnis, Schüler*innen das Tragen des schwarz-weißen Palästinensertuchs Keffiyeh und das Anbringen von Aufklebern mit der Aufschrift „Free Palestine“ zu verbieten, was Bedenken hinsichtlich des Rechts auf freie Meinungsäußerung und möglicher Diskriminierung auslöste.

Verbote pro-palästinensischer Proteste wurden auch aus Wien, Ungarn und Teilen der Schweiz gemeldet.

Die Londoner Polizei hat seit dem 7. Oktober grundsätzlich eine differenzierte Haltung gegenüber pro-palästinensischen Protesten eingenommen, auch in Bezug auf die Verwendung von Slogans bei Protesten, die anderswo in Europa zur Rechtfertigung von Verboten angeführt wurden. Dies gilt trotz des politischen Drucks des britischen Innenministers auf die Polizei, bei pro-palästinensischen Protesten „die volle Härte des Gesetzes“ anzuwenden, und trotz einer Erklärung des britischen Außenministers, in der er pro-palästinensische Anhänger*innen aufforderte, zu Hause zu bleiben. Solche Äußerungen und die jüngsten Gesetze zur Einschränkung von Versammlungen bergen die Gefahr, dass das Recht auf Protest und freie Meinungsäußerung beeinträchtigt wird.

Am 13. Oktober wurde in Frankreich ein Lehrer in einer Schule erstochen. Die Behörden behaupten, dass der mutmaßliche Täter, ein ehemaliger Schüler, sich vor dem Angriff zum Islamischen Staat bekannt hatte. Der französische Innenminister hat angedeutet, dass er einen Zusammenhang zwischen dem Anschlag und den Ereignissen in Israel und im Gazastreifen vermutet, ohne diesen jedoch zu präzisieren. Ein Anschlag in Belgien am 16. Oktober, bei dem zwei schwedische Fußballfans starben, scheint nicht in Verbindung mit dem Konflikt zu stehen.

Frankreichs Innenminister berief sich auf den Messerangriff in der Schule, um die Verschärfung eines bereits umstrittenen Einwanderungsgesetzes zu rechtfertigen, das im vergangenen April verschoben wurde, um die Ausweisung von Ausländer*innen mit mutmaßlichen Verbindungen zu „radikalen Ideologien“ zu erleichtern. Die deutsche Innenministerin hat dazu aufgerufen, Personen auszuweisen, die ihre Unterstützung für die Hamas bekunden.

Der britische Einwanderungsminister forderte den Entzug der Visa von Personen, die „Hass und Spaltung“ verbreiten, „zu Antisemitismus anstiften“ oder verbotene Organisationen unterstützen, zu denen im Vereinigten Königreich und in der Europäischen Union auch die Hamas gehört. Diese politischen Ansätze und der Kontext ihrer Einführung bergen die Gefahr der Diskriminierung von muslimischen und arabischen Migrant*innen und Asylsuchenden, so Human Rights Watch.

Staaten sind gemäß der Menschenrechtsnormen verpflichtet, das Recht auf Leben und Sicherheit aller Menschen in ihrem Land ohne Diskriminierung zu schützen. Dazu gehört auch der Schutz der Menschen vor antisemitischer und islamfeindlicher Hassgewalt. Die Regierungen sollten nach ethnischer Zugehörigkeit aufgeschlüsselte Daten erheben, um effektiver auf strukturellen und andere Formen von Rassismus und Diskriminierung reagieren zu können, so Human Rights Watch.

Die Behörden sollten zudem sicherstellen, dass sie ihre Polizei- und Sicherheitsaufgaben ohne Diskriminierung wahrnehmen und die Rechte aller Menschen schützen. Die Notwendigkeit, Hassverbrechen zu bekämpfen und Menschen zu schützen, sollte jedoch niemals als Rechtfertigung für staatliche Diskriminierung oder eine menschenrechtsverletzende Einwanderungspolitik dienen.  

Um das Recht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit zu schützen, sollten die Behörden Einschränkungen von Protesten vermeiden, es sei denn, diese sind absolut notwendig. Sollten Einschränkungen verhängt werden, dann müssen diese verhältnismäßig sein und auf einer Einzelfallprüfung beruhen. Verbote von Protesten sollten das letzte Mittel sein. Die Kriminalisierung oder das Verbot allgemeiner palästinensischer Symbole ist eine diskriminierende und unverhältnismäßige Reaktion und stellt einen ungerechtfertigten Eingriff in die Meinungsfreiheit dar, so Human Rights Watch.

„Das Recht, zu protestieren und Kritik an Regierungen zu äußern, ist einer der Grundpfeiler jeder demokratischen Gesellschaft und eine wichtige Möglichkeit für die Menschen, ihre Regierung zur Rechenschaft zu ziehen, auch in Bezug auf die Außenpolitik“, sagte Ward. „Das Verbot friedlicher Proteste beraubt die Menschen ihrer grundlegenden demokratischen Rechte.“

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