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(Berlin) – Die deutschen Behörden sollen die Redefreiheit verteidigen, auch wenn Äußerungen von den Betroffenen als beledigend wahrgenommen werden. Staatsoberhäupter sollen nicht in besonderem Maß vor provokativen Äußerungen geschützt werden.

Jan Boehmermann, host of the late-night "Neo Magazin Royale" on the public ZDF channel is pictured during a TV show of Markus Lanz in Hamburg, Germany on March 17, 2012.  © 2012 Reuters

Nach der Aufforderung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan zum Handeln entschied Bundeskanzlerin Angela Merkel am 15. April 2016, dass die deutsche Staatsanwaltschaft ein Verfahren gegen einen Satiriker eröffnen darf, der ein äußerst beleidigendes Gedicht gegen Erdoğan verfasst hat. Merkel verwies den Fall unter Artikel 103 des Strafgesetzbuchs an die Staatsanwaltschaft, der verbietet, ausländische Staatsoberhäupter zu beleidigen, und für Verstöße eine bis zu fünfjährige Gefängnisstrafe vorsieht. Weiterhin sagte Merkel, dieser Artikel sei „überflüssig“. Ihre Regierung werde einen Vorschlag einbringen, ihn bis zum Jahr 2018 aus dem Strafgesetzbuch zu streichen.

„Einerseits stimmt die deutsche Regierung einer möglichen Strafverfolgung zu, andererseits erkennt sie an, dass deren Gesetzesgrundlage aufgehoben werden muss. Damit gibt sie ihre Verantwortung, die Redefreiheit zu schützen, an die Gerichte ab, statt ihren menschenrechtlichen Verpflichtungen gerecht zu werden“, sagt Hugh Williamson, Leiter der Abteilung Europa und Zentralasien bei Human Rights Watch. „Wenn ein Strafverfahren eingeleitet wird, stellt das eine Verletzung der Redefreiheit dar - und die Regierung hätte dazu beigetragen.“

Bei dem Fall geht es um Jan Böhmermann, ein Satiriker, der das Gedicht am 31. März im deutschen Fernsehen vortrug. Er räumte ein, dass es provokativ sei und dass er damit die Grenzen der Redefreiheit in Deutschland austesten wolle. Die türkische Regierung setzte mögliche rechtliche Schritte gegen Böhmermann unter Artikel 103 in Gang, indem sie am 10. April eine formale Anfrage an das Außenministerium stellte. Der bislang nur selten angewandte Artikel sieht vor, dass die Regierung nach einer solchen Anfrage entscheidet, ob die Staatsanwaltschaft den Fall verfolgen darf. Darüber hinaus hat Erdoğan Böhmermann in Deutschland als Privatperson wegen Verleumdung verklagt.

Die Meinungsfreiheit wird unter anderem durch Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützt, der sowohl Deutschland als auch die Türkei angehören. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat unterstrichen, dass der Schutz der Redefreiheit nicht nur ‚Informationen‘ und ‚Ideen‘ umfasse, die als unbedenklich gelten, sondern auch solche, die den Staat oder einen Teil der Bevölkerung beleidigen, schockieren oder beunruhigen.

Weiterhin betonte das Gericht, dass Kritik an Politikern Grenzen habe, diese Grenzen aber bei einem Politiker weiter gefasst seien als bei einer Privatpersonen, und dass Politiker und Personen des öffentlichen Lebens in dieser Hinsicht mehr Toleranz walten lassen müssten. Mit Blick auf Artikel 103 ist die Entscheidung des Gerichts besonders wichtig, dass bei dem  Tatbestand der Beleidigung eines ausländischen Staatsoberhaupts die Gefahr drohe, dass die Meinungsfreiheit eingeschränkt werde, ohne dass dafür eine ‚dringende soziale Notwendigkeit‘ bestehe, die dies rechtfertigen könne. Daher unterminiere ein solcher Tatbestand die Meinungsfreiheit.

Der Kontext einer bestimmte Äußerung ist ebenfalls bedeutsam, um zu bestimmen, welche Grenzen angemessen sind. Das Gedicht, das durchaus als vulgär bezeichnet werden kann, wurde im Rahmen einer vorsätzlich provokativen, satirischen Comedy-Sendung verfasst. Das Gericht bemerkte dazu: „Die Verwendung vulgärer Phrasen an sich bedeutet noch nicht, dass es sich eindeutig um eine beleidigende Meinungsäußerung handelt, weil jene auch primär stilistischen Zwecken dienen können“, und dass „Stil ein Teil von Kommunikation als Form der Meinungsäußerung [ist] und daher genau wie der Inhalt der Meinungsäußerung geschützt wird.“

Die Meinungsfreiheit zu achten, bedeutet, dass nur solche Reden kriminalisiert werden dürfen, die zu Gewalt aufrufen. Andere Einschränkungen sind nur dann zulässig, wenn dies dringend erforderlich und verhältnismäßig ist, um ein legitimes und rechtmäßiges Ziel zu erreichen. Unter der Rechtsprechung des EGMR verletzt die Kriminalisierung beleidigender Rede im Fall Böhmermann die Meinungsfreiheit, weil sie weder notwendig noch verhältnismäßig ist.

Merkel merkte an, dass ihre Entscheidung weder eine Vorverurteilung der betroffenen Person noch eine Entscheidung über die Grenzen der Kunst-, der Medien- und der Meinungsfreiheit bedeute. Die Oppositionsparteien kritisierten Merkel dafür, sich Erdoğans Druck zu beugen, nachdem die Europäische Union im März ein Flüchtlingsabkommen mit der Türkei geschlossen hat. Die SPD, Merkels Koalitionspartner, sagte, dass sie die Entscheidung der Kanzlerin ablehne, eine strafrechtliche Verfolgung zuzulassen.

„Das Gedicht ist zweifellos im höchsten Maß beleidigend, aber wir müssen gerade in Situationen wie dieser für den Schutz der Redefreiheit eintreten“, so Williamson. „Deutschland trägt die Verantwortung für ein dermaßen problematisches Gesetz, auch wenn es zumeist nur auf dem Papier besteht. Je schneller es aufgehoben wird, desto besser.“

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