Deutschland unterstützt wie auch die Europäische Union entschieden den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH). Die EU setzt sich für eine universelle IStGH-Mitgliedschaft ein, um dessen Zuständigkeitsbereich auszuweiten, für mehr Gerechtigkeit bei schweren Menschenrechtsverletzungen zu sorgen und einen Beitrag zu Frieden und internationaler Sicherheit zu leisten. Dennoch drängen einige EU-Mitgliedstaaten Palästina dazu, sich nicht dem IStGH anzuschließen.
Deutschland hat dem Strafgerichtshof mehr als 135 Millionen Euro bereitgestellt und auch großzügig Geld für den Treuhandfonds für Opfer gegeben. Deutsche Diplomaten arbeiten unermüdlich daran, dass mehr Staaten das Rom-Statut unterzeichnen und der Gerichtshof mehr internationale Unterstützung erhält. Dennoch lehnt Berlin offensichtlich eine Mitgliedschaft Palästinas ab. Diese Haltung widerspricht der von der deutschen Regierung verkündeten Politik, dass das Rom-Statut weltweit ratifiziert werden soll. Auch verletzt diese Position die Pflicht Deutschlands, als IStGH-Mitglied das Ziel des Gerichtshofes zu unterstützen, nämlich dass schwere internationale Verbrechen nicht ungestraft bleiben.
Die Bundesregierung behauptet anscheinend, dass die Zuständigkeit des IStGH für Palästina die Friedensverhandlungen mit Israel gefährdet. Doch warum? Der Grund hierfür ist offensichtlich Israels Drohung, die Friedensgespräche abzubrechen, sollte sich Palästina dem Internationalen Strafgerichtshof unterwerfen. Am 22. Juli hat der EU-Rat für Auswärtige Angelegenheiten auf ähnliche Wiese die palästinensische Führung dazu angehalten, „den UN-Status konstruktiv zu nutzen und keine Schritte zu unternehmen, die von einer Verhandlungslösung wegführen würden.”
Europäische Regierungen sind die „größten Geldgeber” des IStGH und ebenso der palästinensischen Autonomiebehörde. Zwischen 2002 und 2010 hat die EU mehr als 340 Demarchen auf den Weg gebracht, um zahlreiche Länder dazu zu bewegen, dem Rom-Statut beizutreten, darunter auch Israel, das erst das Statut unterzeichnete, diese Unterzeichnung jedoch später wieder zurückzog. Die EU soll Israel dazu bewegen, diese Entscheidung zu überdenken. Auf der anderen Seite soll die EU nicht länger direkt oder durch ihre Verbündeten wie die USA Druck auf Palästina ausüben, mit dem Ziel, dass sich Palästina dem IStGH nicht unterwirft.
Wenn den Forderungen nach Straffreiheit für Regierungen, die für schwere Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind, nachgegeben wird, sobald sie damit drohen, Friedensverhandlungen abzubrechen, so provoziert man weitere Menschenrechtsverletzungen. Israels Vorgehen in den besetzten Gebieten war durchweg rechtswidrig, egal ob in Zeiten von aktiven Verhandlungen oder nachdem Gespräche gescheitert waren. Kriegsverbrechen, die nicht untersucht werden, ob Raketen der Hamas, israelische Angriffe auf Gaza oder der Siedlungsbau, untergraben das Vertrauen, das für ein Friedensabkommen nötig ist.
Die dritte Eskalation im Konflikt zwischen Israel und der Hamas innerhalb von sechs Jahren war auch die verheerendste in der jüngsten Geschichte des Gazastreifens. Zu dieser Eskalation kam es, ohne dass Konsequenzen durch eine internationale Rechtsprechung drohten. Die Vergangenheit wiederum hat gezeigt, dass es extrem unwahrscheinlich ist, dass die betroffenen Parteien bei den von ihnen selbst begangenen Kriegsverbrechen angemessen ermitteln und die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen. Die Hamas hat das noch nie und Israel viel zu selten getan.
Bei anderen Konflikten haben die EU und ihre Mitgliedstaaten auf Gerechtigkeit gedrängt und bereitwillig anerkannt, dass eine fortwährende Straffreiheit ein wesentliches Hindernis für den Frieden darstellt. Der Konflikt zwischen Israel und Palästina sollte hier keine Ausnahme sein.
Bei ihren Handels- und Entwicklungsabkommen bemüht sich die EU, die größte Volkswirtschaft der Welt, eine Klausel zur Unterstützung des IStGH einzufügen. Das Cotonou-Abkommen der EU zur Bekämpfung von Armut und für nachhaltige Entwicklung verpflichtet etwa 75 Staaten dazu, Maßnahmen zur Ratifizierung und Durchführung des Röm-Statuts zu ergreifen. Als Sudan sich weigerte, dem Abkommen beizutreten, nachdem der Internationale Strafgerichtshof einen Haftbefehl gegen Präsident Omar Bashir erlassen hatte, fror die EU mehr als 300 Millionen Euro an Hilfsgeldern ein. Die EU verweigerte dem Südsudan Unterstützung, als auch dieser vom Rom-Statut Abstand nahm und dem IStGH somit nicht beitrat. Als Grund hierfür nannte der Südsudan, dass er Konflikte mit dem Sudan vermeiden wolle. Die Position, die die EU gegenüber Israel und Palästina einnimmt, widerspricht damit ihrer globalen Politik.
Seit 1994 hat die EU 5,6 Milliarden Euro an Hilfen für Palästina bereitgestellt. Palästinas blockierte Wirtschaft ist auf Unterstützung aus dem Ausland angewiesen, und Hunderte Millionen Euro werden jährlich dafür genutzt, um die Gehälter von Palästinensern im öffentlichen Dienst zu bezahlen. Die meisten Arbeitnehmer in Palästina sind im öffentlichen Dienst tätig. Die EU erklärt, dass die fortlaufende finanzielle Unterstützung für den palästinensischen Staatsaufbau erfordert, dass Aussicht auf einen funktionierenden palästinensischen Staat bestehe, der das Rechtsstaatsprinzip und die Menschenrechte achtet. Die Palästinenser dazu zu drängen, auf Gerechtigkeit durch den IStGH für Kriegsverbrechen wie den Siedlungsbau zu verzichten, hilft weder bei der Etablierung eines palästinensischen Staates noch bei der eines Rechtsstaates.
In derselben Stellungnahme vom Juli, in dem die EU Palästina anscheinend vor einer Mitgliedschaft im IStGH warnte, erkannte sie an, dass Israels fortlaufender Siedlungsausbau, die Gewaltakte der Siedler, Zwangsräumungen, Zwangsumsieldungen von Palästinensern und Zerstörungen (u.a. von EU-geförderten Projekte) den „endgültigen Verlust der Hoffnung auf eine Zweistaatenlösung“ bedeuten könnte. Sechs Wochen später kündigte Israel den umfangreichsten Landraub der letzten dreißig Jahre für Siedlungen im Westjordanland an.
Die palästinensische Führung hat sich allerdings auch selbst geschadet. Anstatt den IStGH als eine Instanz der internationalen Rechtsprechung anzuerkennen, an die sich alle Kriegsopfer wenden können, hat Präsident Mahmoud Abbas den Internationalen Strafgerichtshof als potentielles Druckmittel benutzt, sollte Israel in den Friedensverhandlungen keine Zugeständnisse machen. Selbst die Hamas, deren Mitglieder sich wahrscheinlich für die willkürlichen Raketenangriffe auf Israel vor dem IStGH verantworten müssten, befürwortet den IStGH-Beitritt. Abbas jedoch äußert sich hierzu nicht eindeutig.
Der IStGH ist kein Allheilmittel im Konflikt zwischen Israel und Palästina. Jedoch hat die fehlende Rechtsprechung Jahrzehnte des Leidens unter Kriegsverbrechen weiter angefacht und gleichzeitig das für einen Friedensprozess nötige Vertrauen geschwächt. Die Grundsätze Deutschlands und der EU, die umfangreichen Investitionen der EU in Palästina und in den Strafgerichtshof sowie rechtliche Verpflichtungen – all dies deutet in ein und dieselbe Richtung: die Rechtsprechung des IStGHs über Palästina muss unterstützt und nicht vereitelt werden.
Lotte Leicht ist EU-Direktorin von Human Rights Watch in Brüssel.
Eine leicht veränderte Form des Kommentars in englischer Sprache ist am 9. Oktober 2014 erschienen bei Open Democracy.