(Moskau) – Ein führender Menschenrechtsaktivist wurde am 1. Juli in Woronesch, im Süden Russlands, auf offener Straße angegriffen, so Human Rights Watch. Die Polizei soll umgehend gründliche Ermittlungen in diesem Fall einleiten. Dieser Angriff auf Andrei Jurow ist einer von mehreren Vorfällen, bei denen Aktivisten in verschiedenen Regionen Russlands kürzlich von unbekannten Tätern angegriffen oder eingeschüchtert wurden.
Jurow wurde von zwei ihm unbekannten Männern auf offener Straße angegriffen, als er gerade telefonierte. Jurow ist Mitglied des Menschenrechtsrats beim russischen Präsidenten. Zudem ist er Ehrenpräsident der ‚ Jugendbewegung für Menschenrechte’ in Woronesch. In den letzten sieben Monaten verfolgte er aktiv die Entwicklung in der Ukraine und ist Mitglied einer Gruppe, die die Menschenrechtslage auf der Krim beobachtet. Fünf Tage vor dem Angriff auf Jurow war ein großes Schild in Woronesch aufgetaucht, auf dem eine Gruppe lokaler Menschenrechtsaktivisten bedroht wurde.
„Die Polizei und die Staatsanwaltschaft sollen alle möglichen Hintergründe dieses Angriffs untersuchen. Somit muss auch in Betracht gezogen werden, dass Jurows Menschenrechtsaktivitäten in Russland und auf der Krim das Motiv für den Angriff auf ihn waren“, so Tanja Cooper, Russland-Expertin von Human Rights Watch. „Menschenrechtsaktivisten dürfen nicht zu Opfern von Racheangriffen aufgrund ihrer Arbeit werden. Wenn in solchen Fällen nicht gründlich ermittelt wird, ist das ein gefährliches Signal, das andere Aktivisten einem noch größeren Risiko aussetzt, ebenfalls zu Opfern von Angriffen zu werden.“
Jurow sagte Human Rights Watch gegenüber, er sei vor dem Menschenrechtshaus angegriffen worden, in dem mehrere Nichtregierungsorganisationen sitzen, darunter auch die „Jugendbewegung für Menschenrechte“. Er sagte, er hätte gerade ein Telefonat beendet, als er einen Schlag von hinten verspürte. Als er sich umdrehte, hätten ihm zwei Männer mit schwarzen Skimasken „Brillantgrün“ ins Gesicht gesprüht, ein aus der Sowjetära stammendes Antiseptikum, das Alkohol enthält und leuchtend grün ist.
Jurow sagte, er habe gehört, wie seine Angreifer ein paar Beleidigungen raunten. Er habe jedoch nicht genau verstehen können, was sie sagten. Die Angreifer seien sofort weggerannt, höchstwahrscheinlich aus Angst, von Passanten gesehen zu werden. Keiner von Jurows Kollegen wurde Zeuge des Angriffs.
Da seine Augen brannten, so Jurow, ging er in ein Krankenhaus, wo eine leichte chemische Verbrennung der Bindehaut im Inneren seines rechten Augenlids diagnostiziert wurde. Jurow gab Human Rights Watch gegenüber an, er habe noch am selben Tag Anzeige erstattet. Auch kam ein Polizist aus der Nachbarschaft in das Menschenrechtshaus, um Aussagen von Jurows Kollegen aufzunehmen.
Im März waren zwei ehemalige Mitglieder der Punkband Pussy Riot, Nadeschda Tolokonnikowa and Marija Aljochina, auf ähnliche Weise angegriffen und mit dem grünen Antiseptikum besprüht worden. Dieser Vorfall ereignete sich in Nischni Nowgorod, wo die beiden Frauen gerade angekommen waren, um Insassinnen eines Frauengefängnisses zu besuchen. Im Februar war in Syktywkar die Wohnungstür des Menschenrechtsaktivisten Igor Saschin angezündet worden. Bei den Tätern handelte es sich angeblich um Mitglieder einer ultranationalistischen Gruppierung.
Einige Tage vor dem Angriff auf Jurow hatte das Menschenrechtshaus gemeinsam mit anderen Partnern eine Menschenrechtsfestival organisiert, das viele Besucher angezogen hatte und über das laut den Aktivisten auch in den lokalen Medien berichtet wurde.
Aleksander Druk, Vorsitzender des Rats der „Jugendbewegung für Menschenrechte“ in Woronesch, sagte Human Rights Watch gegenüber, dass Personen, die bekannt dafür seien, Menschenrechtsaktivisten zu belästigen, mehrere Male versucht hätten, das Festival zu stören. Druk sagte, eine dieser Gruppen, die sogenannte ‚Gruppe für Veränderung', sei hierbei besonders aktiv gewesen. Die Website einer weiteren antiwestlich eingestellten Aktivistengruppe im sozialen Netzwerk Vkontakte hatte ein Statement der Gruppe für Veränderung gepostet. Eines ihrer Ziele sei demnach, „die antirussischen Aktivitäten von Menschenrechtsorganisationen aufzudecken und zu zeigen, dass es in Woronesch eine fünfte Kolonne gibt, die die staatliche Politik untergräbt.”
In Russland ist der Begriff „fünfte Kolonne” eine abwertende Bezeichnung für Aktivisten, politische Oppositionelle und andere unabhängige Stimmen, die sich regierungskritisch äußern. Hierbei sind vor allem jene gemeint, die finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhalten.
Am 25. Juni, so Druk, waren Plakate und Schilder von der Tür des Menschenrechtshauses zerrissen und beschädigt worden. Am selben Tag stellte die ‚Gruppe für Veränderung‘ ein großes Schild im Zentrum von Woronesch auf, auf dem zu lesen war: „Die fünfte Kolonne ist in Woronesch. Sie sind Verräter, Mistkerle, Freaks. Ihre Gesichter müsst ihr kennen.” Auf dem Schild waren Fotos von Aktivisten des Menschenrechtshauses zu sehen, ebenso wie Fotos anderer Aktivisten in Woronesch. Jurow war auf keinem der Fotos zu sehen.
„Die russischen Behörden sollen deutlich machen, dass sie weder Gewalt noch Einschüchterung gegenüber jenen dulden, die ihre Meinung frei äußern“, so Cooper. „Eine eingehende Untersuchung des Vorfalls würde ein starkes Signal senden und andere Aktivisten vor ähnlichen Angriffen schützen.“