- Israel hat am 13. Oktober 2023 im Süden Libanons zwei mutmaßlich gezielte Angriffe auf eine Gruppe libanesischer, US-amerikanischer und irakischer Journalist*innen verübt. Gezielte Angriffe auf Zivilist*innen stellen ein Kriegsverbrechen dar.
- Es liegen Belege vor, wonach das israelische Militär wusste oder hätte wissen müssen, dass die angegriffenen Personen Zivilist*innen sind.
- Die wichtigsten Bündnispartner Israels – die Vereinigten Staaten, Großbritannien, Kanada und Deutschland – sollten ihre Militärhilfe und Waffenlieferungen an Israel aussetzen, da die Gefahr besteht, dass diese für schwere Rechtsverletzungen eingesetzt werden.
(Beirut, 7. Dezember 2023) – Zwei israelische Angriffe im Libanon am 13. Oktober 2023, bei denen der Reuters-Mitarbeiter Issam Abdallah getötet und sechs weitere Journalist*innen verletzt wurden, erfolgten offenbar gezielt und stellen damit Kriegsverbrechen dar, so Human Rights Watch heute.
Von Human Rights Watch überprüfte Zeugenaussagen sowie Belege in Form von Fotos und Videos zeigen, dass sich die Journalist*innen weit weg von den bewaffneten Auseinandersetzungen befanden, sie klar als Medienschaffende gekennzeichnet waren und sie sich mindestens 75 Minuten vor den beiden direkt aufeinander folgenden Angriffen an derselben Stelle aufgehalten hatten. Human Rights Watch fand keine Hinweise auf ein mögliches militärisches Ziel in der Nähe.
„Das ist nicht das erste Mal, dass israelische Truppen mutmaßlich gezielt Journalisten angegriffen und dabei ihren Tod oder schwere Verletzungen in Kauf genommen haben“, sagte Ramzi Kaiss, Researcher zum Libanon bei Human Rights Watch. „Die Verantwortlichen müssen zur Rechenschaft gezogen werden, und es muss deutlich gemacht werden, dass Journalisten und andere Zivilisten keine rechtmäßigen Ziele sind.“
Human Rights Watch sprach mit sieben Zeug*innen des Vorfalls, darunter drei der verletzten Journalist*innen, und analysierte neben Satellitenbildern auch 49 Videos sowie Dutzende von Fotos. Zudem interviewte Human Rights Watch einen Vertreter der Interimstruppe der Vereinten Nationen im Libanon (UNIFIL) und sprach mit Militär-, Video- und Audioexpert*innen. Am 17. und 26. Oktober wandte sich Human Rights Watch schriftlich an die libanesische und die israelische Armee mit den Ergebnissen seiner Recherchen, erhielt jedoch von keiner Seite eine Antwort.
Beweise, die von Human Rights Watch geprüft wurden, weisen allerdings darauf hin, dass das israelische Militär wusste oder hätte wissen müssen, dass es auf eine Gruppe von Zivilist*innen feuerte.
Am 14. Oktober sagte Richard Hecht, ein israelischer Militärsprecher, dass „sie den Tod des Journalisten sehr bedauern“. Am 17. Oktober sagte Hecht gegenüber Reuters, dass die Armee dabei sei, „das Bildmaterial zu sichten und sich äußern [werde], wenn wir eine entsprechende Antwort haben“. Das ist jedoch noch nicht passiert.
Videomaterial, Analysen durch Audioexpert*innen sowie Zeugenaussagen legen nahe, dass sich die Gruppe im Sichtbereich der Kameras eines in der Nähe vorbeifliegenden und höchst wahrscheinlich israelischen unbemannten Fluggeräts befand. Sie befand sich außerdem in Sichtlinie von fünf israelischen Überwachungstürmen. Die Gruppe wurde schließlich mit mindestens einer Munition aus dem Hauptgeschütz eines Panzers von einer etwa 1,5 Kilometer entfernten israelischen Militärstellung aus beschossen. Human Rights Watch konnte nicht feststellen, welche Art von Munition beim zweiten Angriff auf die Journalistengruppe zum Einsatz kam.
Die Angriffe erfolgten am 13. Oktober gegen 18 Uhr. Laut Aussage der interviewten Personen hatte sich die Journalistengruppe bereits um 16:45 Uhr auf der Lichtung auf einem Hügel in Alma al-Shaab versammelt, um Aufnahmen der anhaltenden Kämpfe an der südlichen Grenze des Libanons zu Israel zu machen. Etwa eine Stunde vor den Angriffen kam es zum mutmaßlichen Versuch eines Grenzübertritts durch bewaffnete Kämpfer aus dem Libanon in Richtung der israelischen Stadt Hanita, die etwa 2,2 Kilometer entfernt liegt. Es folgte ein Feuergefecht an der Grenze zwischen israelischen Truppen und bewaffneten Gruppen.
Israelische Militärbeamte gaben gegenüber Reuters an, dass die Hisbollah verschiedene Grenzposten unter Beschuss nahm, darunter mit „einer Panzerabwehrrakete, die den israelischen Sicherheitszaun traf“. In einer Erklärung gab UNIFIL am selben Tag bekannt, dass es etwa gegen 17:20 Uhr „zu einem heftigen Feuergefecht zwischen dem Libanon und Israel nahe der Siedlungen Alma Shaab, Ayta Ash Shab, Al Dihaira, El Adeysse und Houlaat kam“. Vierzig Minuten später schlugen zwei Geschosse am Standort der Journalist*innen ein. Fünf Kameras der Journalist*innen filmten den Angriff und seine Folgen indirekt und zeigten damit, wie und von wo aus der Angriff ausgeführt wurde.
Die befragten Journalist*innen gaben an, dass das erste Geschoss Reuters-Journalist Issam Abdallah sowie eine Betonmauer traf. Abdallah starb auf der Stelle, während Christina Assi, Fotojournalistin für Agence France-Presse (AFP), schwer verletzt wurde. 37 Sekunden später zerstörte ein zweites Geschoss das Fahrzeug von Al Jazeera, setzte es in Flammen und verletzte sechs Journalist*innen, darunter Carmen Joukhadar und Elie Brakhya von Al Jazeera, Dylan Collins und Christina Assi von AFP sowie Thaer al-Sudani und Maher Nazeh von Reuters.
Collins, Joukhadar und Brakhya wiesen gegenüber Human Rights Watch darauf hin, dass alle sieben Journalist*innen Helme und blaue kugelsichere Westen trugen, die mit dem Wort „PRESS“ beschriftet waren, womit sie deutlich als Journalist*innen zu identifizieren waren. Videos, die Human Rights Watch auswertete, bestätigen diese Angaben.
In einem Video, das mindestens eine Stunde vor dem Angriff auf Assis Instagram-Konto gepostet wurde, sind fünf Journalist*innen zu sehen, darunter Abdallah, die blaue kugelsichere Westen und Helme mit deutlicher Beschriftung tragen. Weiteres Bildmaterial zeigt die Gruppe ebenfalls an diesem Standort mit klar beschrifteten Westen und Helmen, wie sie nahe eines Fahrzeugs stehen, auf dessen Motorhaube in großen Buchstaben „TV“ steht.
Laut eigenen Angaben und gestützt durch entsprechendes Videomaterial blieben die Journalist*innen mindestens 75 Minuten an Ort und Stelle, in Sichtweite der etwa 2,2 Kilometer entfernten israelischen Militärstellung. Journalist*innen von Al Jazeera strahlten vom selben Ort aus zwei Live-Reportagen aus, die erste um 16:55 Uhr, die zweite um 17:24 Uhr. In dieser Zeit übertrugen verschiedene TV-Sender Live-Bilder von Reuters und AFP.
Human Rights Watch bestätigte anhand von Videos, dass südlich des Standorts der Journalistengruppe zu verschiedenen Zeiten ein Hubschrauber umherflog, das erste Mal eine Stunde, dann 30 Minuten und nochmals 5 Minuten vor dem Angriff. Zeugenaussagen sowie die Erklärungen der Journalist*innen während ihrer Live-Übertragungen weisen darauf hin, dass in der Zeit vor dem ersten Angriff wiederholt ein Hubschrauber über ihren Standort kreiste, unter anderem in den letzten 15 Minuten sowie eine Minute vor dem Angriff.
Mithilfe von Zeugenaussagen und den Audioanalysen der Videos durch zwei Expertenteams, darunter die Nichtregierungsorganisation Earshot sowie ein Expertenteam aus den USA, konnte Human Rights Watch nachweisen, dass vor dem ersten Angriff ein unbemanntes Fluggerät mit Propellerantrieb umherflog. Der Untersuchung zufolge umkreiste dieses Gefährt die Journalist*innen in den letzten 25 Minuten vor den Angriffen 11 Mal. Eine dritte Analyse einer Gruppe britischer Audio-Experten kam zu dem Schluss, dass das Geräusch dem eines elektrischen Motors entspricht, der den Standort der Journalist*innen vor dem ersten Angriff umkreist, und damit auf ein unbemanntes Fluggerät mit Propellerantrieb hindeuten könnte.
Alle vorliegenden Beweismittel legen nahe, dass die Journalist*innen sich nicht in der Nähe laufender Gefechte aufhielten. Nach der Untersuchung und Geolokalisierung von 49 Videos kamen die HRW-Researcher*innen zu dem Schluss, dass die Journalist*innen zwischen einem und zwei Kilometer von jeglichen Gebieten entfernt waren, aus denen Gefechte gemeldet wurden. Alle Zeug*innen stimmten darin überein, dass die Raketenangriffe und die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen israelischen Truppen und der Hisbollah sowie bewaffneten palästinensischen Gruppen auf einen Bereich in der Nähe des Grenzzauns konzentriert waren. Entsprechend befanden sich die Journalist*innen ein bis zwei Kilometer vom Geschehen entfernt.
Es liegen keinerlei Belege dafür vor, dass es in der Nähe der Journalist*innen militärische Ziele gab. Der Angriff auf die Position der Journalist*innen, mit zwei Einschlägen im Abstand von 37 Sekunden, bedeutet daher, dass sie das konkrete Ziel waren.
Ein Zeuge aus Alma al-Shaab berichtete von zwei roten Streifen, die von einem Hügel nahe Jordeikh im Norden Israels aus auf den Standort der Journalist*innen in 1,5 Kilometern Entfernung niedergingen. Satellitenbilder einer Lichtung im etwa 1,5 Kilometer südöstlich des Standorts der Journalist*innen entfernten Jordeikh, die morgens am 12., 13. und 14. Oktober aufgenommen wurden, belegen die Präsenz israelischer Truppen an dieser Stelle.
Ein wesentlicher Grundsatz des humanitären Völkerrechts oder auch des Kriegsrechts ist die „Immunität von Zivilpersonen“. Diese verpflichtet die Parteien eines Konflikts ausschließlich Kombattant*innen und andere militärische Ziele anzugreifen. Im Umkehrschluss ist es unter allen Umständen verboten, Zivilist*innen direkt anzugreifen. Solange sie nicht an Kampfhandlungen beteiligt sind, gelten diese allgemeinen Regeln auch für Journalist*innen, die damit kein Ziel von Angriffen werden dürfen.
Die Konfliktparteien müssen alle erdenklichen Vorkehrungen treffen, damit Zivilpersonen nicht zu Schaden kommen. Sie müssen zudem jede mögliche Maßnahme ergreifen, um sicherzustellen, dass das anvisierte Ziel militärischer Natur ist.
Personen, die das Kriegsrecht mit krimineller Absicht – also vorsätzlich oder grob fahrlässig – und auf schwerwiegende Weise verletzen, können für Kriegsverbrechen belangt werden. Strafbar sind ebenfalls die Unterstützung, Ermöglichung, Beihilfe oder Anstiftung zu einem Kriegsverbrechen.
Die wichtigsten Bündnispartner Israels – die Vereinigten Staaten, Großbritannien, Kanada und Deutschland – sollten ihre Militärhilfe und Waffenlieferungen an Israel aussetzen, da die Gefahr besteht, dass diese für schwere Rechtsverletzungen eingesetzt werden. Nach US-amerikanischem Recht sind Waffenlieferungen an Staaten verboten, die „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ dazu verwendet werden, Verstöße gegen das Völkerrecht zu begehen. Die US-Regierung sollte den Angriff untersuchen, nicht zuletzt aus dem Grund, dass einer ihrer Bürger dabei zu Schaden kam.
„Die vorliegenden Beweise deuten stark darauf hin, dass die israelischen Truppen wussten oder hätten wissen müssen, dass sie Journalisten angreifen“, sagte Kaiss. „Das war ein rechtswidriger und mutmaßlich gezielter Angriff auf eine Gruppe Journalisten, die ganz deutlich als solche erkennbar waren.“