(Kiew, 30. Juni 2023) – Die ukrainische Regierung muss ihrer Selbstverpflichtung nachkommen, keine verbotenen Antipersonenminen zu verwenden, den Einsatz dieser Waffen durch das ukrainische Militär untersuchen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen, erklärte Human Rights Watch heute. Im Januar hatte Human Rights Watch einen Bericht zum Einsatz verbotener Minen veröffentlicht und seitdem weitere Beweise für den Einsatz solcher wahllos wirkenden Waffen durch die Ukraine im Jahr 2022 gesammelt. Am Tag der Veröffentlichung des Berichts verpflichtete sich die ukrainische Regierung, den Bericht „gebührend zu prüfen“.
Am 21. Juni 2023, fünf Monate nachdem ukrainische Beamte angekündigt hatten, Berichte von Human Rights Watch und anderen Gruppen zu prüfen, wonach die ukrainischen Streitkräfte Antipersonenminen bei Operationen zur Rückeroberung der von den russischen Truppen besetzten Gebiete eingesetzt hatten, gab die ukrainische Regierung auf einer Tagung in Genf zum Übereinkommen über das Verbot von Antipersonenminen in Genf eine entsprechende Erklärung ab.
„Die Zusage der ukrainischen Regierung, den mutmaßlichen Einsatz von verbotenen Antipersonenminen durch das ukrainische Militär zu untersuchen, ist ein wichtiges Bekenntnis zu ihrer Pflicht, die Zivilbevölkerung zu schützen“, sagte Steve Goose, Leiter der Waffenabteilung bei Human Rights Watch. „Eine umgehende, transparente und gründliche Untersuchung könnte der ukrainischen Bevölkerung in vieler Hinsicht zugutekommen – sowohl jetzt als auch für zukünftige Generationen“.
Seit Beginn der groß angelegten Invasion der Ukraine am 24. Februar 2022 haben russische Truppen mindestens 13 Arten von Antipersonenminen in verschiedenen Gebieten der Ukraine eingesetzt und dabei Zivilist*innen getötet und verletzt. Human Rights Watch hat vier Berichte veröffentlicht, die den Einsatz von Antipersonenminen durch russische Truppen in der Ukraine seit 2022 dokumentieren. Russland ist dem Übereinkommen über das Verbot von Antipersonenminen nicht beigetreten und verstößt mit dem Einsatz solcher Minen gegen das humanitäre Völkerrecht, da es sich dabei um unterschiedslos wirkende Waffen handelt.
Human Rights Watch berichtete am 31. Januar über zahlreiche Fälle, in denen ukrainische Streitkräfte zwischen April und September 2022 Raketen mit Tausenden von PFM-1S-Antipersonenminen, auch „Blattminen“- oder „Schmetterlingsminen“ genannt, auf die von Russland besetzten Gebiete in und um die ostukrainische Stadt Izium abfeuerten. Human Rights Watch konnte im Rahmen von Interviews mit Opfern und ihren Familienangehörigen 11 zivile Opfer verifizieren, darunter einen Todesfall und mehrere Menschen, denen Unterschenkel amputiert werden mussten.
Antipersonenminen explodieren durch die Anwesenheit, Nähe oder Berührung einer Person und können noch lange nach Beendigung bewaffneter Konflikte Menschen töten und verletzen. PFM-Minen sind kleine Sprengminen aus Plastik, die in ein Gebiet gefeuert werden, auf dem Boden landen und detonieren, wenn Druck auf den Minenkörper ausgeübt wird, z. B. wenn jemand darauf tritt, sie anfasst oder bewegt. Einige PFM-1-Minen sind mit einem Selbstzerstörungszünder ausgestattet, der die Detonation zu einem zufälligen Zeitpunkt bis zu 40 Stunden nach Aufprall auslösen soll.
Seit der Veröffentlichung des Berichts hat Human Rights Watch weitere Beweise für den Einsatz von Antipersonenminen durch die Ukraine im Jahr 2022 gesammelt und die ukrainische Regierung in einem Brief vom 28. Mai 2023 über die Ergebnisse informiert und Fragen gestellt. Der Brief blieb bislang unbeantwortet.
Im Mai 2023 stellte eine Person Fotos von Überresten von Artillerieraketen online. Die Person arbeitet in einem Gebiet in der Ostukraine, in dem die ukrainische Regierung nach dem Abzug der russischen Streitkräfte wieder die Kontrolle übernommen hat. Die Überreste seien bei Räumungsarbeiten auf Ackerland gefunden worden. Nach genauer Prüfung der Markierungen auf den Überresten identifizierte Human Rights Watch zwei 9N128K3-Sprengkopfteile von Minenraketen des Typs 9M27K3 Uragan im Kaliber 220 mm, die Kassetten mit jeweils 9N223-„Blöcken“ oder Stapeln von 9N212-PFM-1S-Antipersonenminen enthalten.
Minenraketen vom Typ 9M27K3 Uragan sind spezifisch für den Transport und das Abfeuern von 312 PFM-1S Antipersonenminen bestimmt. Die Kennzeichnungen auf allen Bildern der untersuchten Raketen zeigen, dass sie 1986 in einer Munitionsfabrik der ehemaligen UdSSR mit der Bezeichnung #912 hergestellt wurden (aus den Chargennummern 14 und 16). Zusätzlich zu den GRAU-Index-Nummern, die mit den Sprengköpfen übereinstimmen, die für den Transport von Blattminen verwendet werden, identifizierte Human Rights Watch auch eine handschriftliche Kennzeichnung auf der Seite eines Sprengkopfteils. Laut Analyse der Schrift ist das erste Wort „від” ukrainisch und bedeutet übersetzt „von“. Darunter wird in lateinischer Schrift auf eine Organisation in Kiew Bezug genommen.
Auf Grundlage öffentlich zugänglicher Informationen identifizierte Human Rights Watch eine Person, die nach eigenen Angaben die genannte Organisation leitet. Aus öffentlichen Beiträgen dieser Person auf einer Social-Media-Plattform ging hervor, dass diese Person 2022 über eine in Kiew ansässige Nichtregierungsorganisation (NGO), die die Kriegsanstrengungen der Ukraine unterstützt, Geld an das ukrainische Militär gespendet hatte. Eine andere in der Ukraine ansässige Gruppe postete Bilder, auf denen ähnliche Kennzeichnungen in ukrainischer Sprache auf einer Minenrakete 9M27K3 Uragan zu sehen waren.
Die Person, die nach eigenen Angaben die Organisation leitet, die die Spende getätigt hatte, postete im August 2022 ein Bild in den sozialen Medien mit demselben Sprengkopf einer Minenrakete vom Typ 9M27K3 Uragan wie auf dem oben beschriebenen Foto mit der Rakete, die auf dem Ackerland gefunden wurde. Das Bild trägt das Wasserzeichen besagter Nichtregierungsorganisation aus Kiew. Human Rights Watch stellte fest, dass die auf beiden Bildern angegebene Charge, Fabrik, das Jahr sowie die handschriftlichen Kennzeichnungen übereinstimmen. In dem Beitrag sind außerdem Sprengkopfteile von zwei anderen Raketen 9M27K3 Uragan mit entsprechenden Kennzeichnungen zu sehen.
Insgesamt wurden mindestens 15 Bilder mit mindestens 15 Minenraketen vom Typ 9M27K3 Uragan, die mit Spenden der NGO finanziert wurden, gepostet.
Der Minenverbotsvertrag von 1997 sieht ein umfassendes Verbot von Antipersonenminen vor und verpflichtet die Vertragsparteien zur Vernichtung der Bestände, zur Räumung verminter Gebiete und zur Unterstützung der Opfer. Die Ukraine unterzeichnete den Minenverbotsvertrag am 24. Februar 1999 und ratifizierte ihn am 27. Dezember 2005. Russland ist dem Vertrag nicht beigetreten, verstößt aber mit dem Einsatz von Antipersonenminen gegen das humanitäre Völkerrecht, da es sich um unterschiedslos wirkende Waffen handelt. Das Übereinkommen über das Verbot von Antipersonenminen trat am 1. März 1999 in Kraft. Zu den 164 Unterzeichnerstaaten gehören alle NATO-Mitgliedstaaten mit Ausnahme der USA und alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union.
Die Untersuchung des Einsatzes von PFM-Antipersonenminen durch die Ukraine sollte Antworten auf die von Human Rights Watch und anderen Organisationen vorgelegten Beweise liefern. Sie sollte darauf abzielen, die Verantwortlichen für den Einsatz der verbotenen Minen zur Rechenschaft zu ziehen. Zur Untersuchung sollten auch Empfehlungen gehören, wie die ukrainische Regierung Opfer identifizieren und unterstützen kann, etwa durch eine angemessene und rechtzeitige Entschädigung sowie medizinische und andere Hilfe, wie z. B. Prothesen und fortwährende Rehabilitationsmaßnahmen, so Human Rights Watch.
Human Rights Watch hat die Internationale Kampagne für ein Verbot von Landminen (ICBL), die 1997 auch mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, mitgegründet und sitzt in ihrem Vorstand.
„Die ukrainischen Behörden, die um den Schutz ihrer Zivilbevölkerung besorgt sind, haben ein Interesse daran, herauszufinden, wie, wann und wo diese Minen eingesetzt wurden“, sagte Goose. „Und alles zu tun, um zu verhindern, dass sie erneut eingesetzt werden.“