(Kiew, 4. Oktober 2022) – Russische Verbündete haben während der teilweisen Besetzung der ukrainischen Region Charkiw durch Russland mindestens drei Zivilisten unrechtmäßig festgenommen und dann offenbar getötet und ihre Leichen in einen Wald geworfen. Dieser Fall ist eines von vielen mutmaßlichen Kriegsverbrechen, die Human Rights Watch in der Region untersucht.
Die Männer, Ivan Shebelnik, 52, Oleksii Taran, 76, und Yurii Kavun, Ende 50, wurden Ende März 2022 festgenommen und in einem Keller in Kapytoliwka, einem Dorf in der Nähe von Isjum, festgehalten. Dies berichtete ein vierter Mann, der ebenfalls festgenommen wurde, aber überlebte, gegenüber Human Rights Watch. Die Leichen der drei Männer wurden Anfang August in einem Wald gefunden. Medizinischen Gutachten und Polizeiberichten zufolge erlitt eines der Opfer eine Brustkorbverletzung mit mehreren gebrochenen Rippen, der zweite starb an einem stumpfen Schädel-Hirn-Trauma und der dritte erlitt eine Kopfverletzung.
„Diese brutalen Tötungen zeigen, welche Misshandlungen die Bewohner, die sechs Monate lang unter russischer Besatzung gelebt haben, mit ansehen und erleben mussten“, so Belkis Wille, leitende Researcherin der Abteilung Krisen und Konflikte bei Human Rights Watch. „Die ukrainischen Behörden sollten mit Unterstützung ihrer Partner sämtliche Beweise für diese und ähnliche Tötungen sichern. Dazu zählen alle Hinweise auf die verantwortlichen Kräfte und Kommandeure. Nur so kann sichergestellt werden, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen und Gerechtigkeit geschaffen wird.“
Human Rights Watch befragte neun Einwohner*innen des Dorfes Kapytoliwka, das sich etwa fünf Kilometer südöstlich der Stadt Isjum befindet. Sie sagten, dass russische und mit Russland verbündete Truppen Ende Februar oder Anfang März das Dorf besetzten und es um den 9. September herum infolge der ukrainischen Gegenoffensive verließen. Zumindest im ersten Monat der Besatzung stammten die meisten Besatzungstruppen, so die Einschätzung der Bewohner*innen anhand des gesprochenen Akzents, aus der „Volksrepublik Luhansk“. Das ist ein Gebiet in der ukrainischen Oblast Luhansk, das von bewaffneten Gruppen kontrolliert wird, die mit Russland verbündet sind, und derzeit von Russland besetzt ist (es wird oft auch als LNR bezeichnet, wenn Bezug auf dieses Gebiet genommen wird, ohne dabei irgendwelche Souveränitätsansprüche anzuerkennen).
Sieben der befragten Personen gaben an, die Opfer oder die Umstände ihrer Festnahme zu kennen. Zwei nahe Verwandte des Metallfabrikarbeiters Shebelnik berichteten, dass seine Schwiegereltern Ende März zu Besuch kamen und dass Shebelnik und sein Schwiegervater Taran am Morgen des 23. März das Haus verließen, um Tannenzapfen als Feueranzünder zu sammeln, und nicht zurückkehrten.
Mehrere Verwandte machten sich auf die Suche nach den beiden, kontaktierten die in der Gegend stationierten Truppen, erstatteten Vermisstenanzeigen bei der von den Besatzungstruppen eingerichteten örtlichen Polizei und gingen auch zu einer Schule im benachbarten Isjum, von der sie gehört hatten, dass sie als Haftanstalt genutzt wurde. Zwei Bewohner*innen von Kapytoliwka sagten, dass sich in der Gegend, in der Taran und Shebelnik Tannenzapfen sammeln wollten, ein Stützpunkt des russischen Geheimdienstes befunden habe.
Anfang August teilte die Polizei den Angehörigen von Shebelnik mit, dass die Behörden drei Leichen geborgen und zur gerichtsmedizinischen Untersuchung ins Zentralkrankenhaus von Isjum gebracht hätten. Der Hinweis auf die Leichen sei von einem Bauern gekommen, dem im Wald der stechende Geruch aufgefallen war. Im Krankenhaus identifizierte die Cousine von Shebelnik die Leichen von Shebelnik und Taran anhand ihrer Kleidung und sah zusammen mit einem anderen Verwandten die Totenscheine für beide Männer, die am 11. August in der Pathologie des Krankenhauses ausgestellt worden waren.
Laut Shebelniks Totenschein, den auch Researcher*innen von Human Rights Watch prüften, ist er an einem Thoraxtrauma mit mehreren gebrochenen Rippen gestorben. Im Totenschein von Taran heißt es nach Angaben der Angehörigen, er sei an einem stumpfen Schädel-Hirn-Trauma gestorben. Die örtliche Polizei teilte der Familie mit, dass die dritte Person, die im Wald gefunden wurde, an einer Kopfverletzung starb und als Yurii Kavun identifiziert wurde, der auch in Kapytoliwka lebte.
Am 28. September befragten Researcher*innen einen weiteren Dorfbewohner, der zusammen mit den drei Opfern festgenommen wurde und um Anonymität bat. Er sagte, dass vier Männer, die er für LNR-Soldaten hielt, ihn am 24. März festnahmen. Sie hätten Häuser in seiner Straße durchsucht und ihn verdächtigt, einen Generator auf seinem Grundstück zu verstecken, den sie beschlagnahmen wollten. Er sagte, sie hätten ihn in einen Keller in einem der vier benachbarten Häuser gebracht, die von den Truppen besetzt waren. Dem Befragten zufolge war der Keller etwa 2,5 mal 2,5 Meter groß und hatte eine niedrige Decke. In dem Raum, der – so seine Vermutung – von den früheren Bewohner*innen vor ihrer Flucht als Zufluchtsort benutzt worden war, hätten sich zwei Matratzen befunden.
Er berichtete weiterhin, dass dort bereits zwei andere Männer festgehalten worden waren. Es sei dunkel gewesen, aber er hätte die Stimme von Shebelnik erkannt, den er von der Arbeit in einer nahen gelegenen Fabrik kannte. Der andere Mann sei sehr alt gewesen und habe wenig gesprochen, aber schließlich hätte er herausgefunden, dass es Taran gewesen sei.
Shebelnik hätte ihm erzählt, dass LNR-Kräfte sie auf dem Heimweg angehalten, einer Leibesvisitation unterzogen und dorthin gebracht hätten. Er habe nicht gesehen, wie die LNR-Kräfte Taran misshandelt hätten, aber sie hätten Shebelnik mehrmals nach oben gebracht: „Als sie ihn zurückbrachten, wollte er nie darüber sprechen, was sie ihm angetan hatten, aber ich hörte jedes Mal Schreie.“
Shebelnik hätte ihm weiterhin erzählt, dass zwei Tage nach seiner Festnahme sein Nachbar Yurii Kavun zu ihm gebracht wurde. Er und andere Nachbar*innen sagten, die Soldat*innen hätten Kavun verhaftet, weil er früher beim Militär war – obgleich er schon vor einigen Jahren aufgrund eines Bandscheibenvorfalls ausgeschieden war. Eine*r von Kavuns Nachbar*innen sagte, sie hätten ihn festgenommen, dann wieder freigelassen und ihn Ende März erneut festgenommen, was diese Person beide Male von zuhause mitverfolgt habe.
Der anonym bleibende ehemalige Gefangene sagte, dass Kavuns Gesicht blutverschmiert gewesen sei: „Er erzählte uns, dass ein Soldat mit seinem Gewehr schoss und die Kugel etwas neben Yuriis Gesicht traf, und sich viele Metallsplitter in sein Gesicht gruben. Wir hatten nur eine Decke und versuchten, ihn zu verbinden.“ Die Soldaten hätten Yuriis Gesicht schließlich gereinigt und verbunden, ihn dann aber in den nächsten Tagen mindestens drei oder vier Mal geschlagen. Der von uns befragte ehemalige Gefangene wurde dann schließlich freigelassen.
Seinem Bericht zufolge seien zwei oder drei andere Gefangene in den Keller gebracht worden, während er dort war, aber nur für ein oder zwei Tage. Er hätte sie nicht gekannt, da sie aus Isjum gewesen seien.
Am 28. September besichtigten HRW-Researcher*innen einen Keller im Garten hinter einem Haus, das nach Angaben der Nachbarschaft von März bis April von den LNR-Kräften besetzt war. Dieser Keller entsprach genau der Beschreibung des ehemaligen Gefangenen. Sogar die Matratzen waren noch da. Nachbar*innen zufolge hätten LNR-Kräfte drei weitere Häuser neben diesem Haus besetzt gehalten.
Ein Mann, der direkt gegenüber wohnt, sagte aus, er habe mindestens einmal Schreie aus einem der Häuser gehört. Die Researcher*innen fanden auch rote Flecken auf dem Kellerboden, die Blutspritzer sein könnten. Im Vorgarten fanden sich noch die Überreste eines verbrannten Militärfahrzeugs. Der Nachbarschaft zufolge seien die Häuser bei Angriffen Ende April beschädigt worden, woraufhin sich die prorussischen Truppen auf einen anderen Stützpunkt in der Gegend zurückgezogen hätten.
Dies waren höchstwahrscheinlich nicht die einzigen Morde an Zivilist*innen während der sechsmonatigen Besetzung. Einige weitere Leichen, die in dieser Zeit in einem Grab am Stadtrand von Isjum verscharrt wurden, deuten möglicherweise auf Folter und Hinrichtungen hin.
Human Rights Watch hat dokumentiert, dass die russischen Streitkräfte auch in anderen von ihnen besetzten Regionen Menschen willkürlich festgenommen, gefoltert und hingerichtet haben.
Alle am bewaffneten Konflikt in der Ukraine beteiligten Parteien sind zur Einhaltung des humanitären Völkerrechts und des Kriegsrechts verpflichtet, einschließlich der Genfer Konventionen von 1949, des ersten Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen und des Völkergewohnheitsrechts. Kriegsführende Streitkräfte, die ein Gebiet tatsächlich kontrollieren, unterliegen dem internationalen Besatzungsrecht, wie es insbesondere in der Vierten Genfer Konvention niedergelegt ist. Außerdem gelten die internationalen Menschenrechtsnormen, einschließlich des Verbots unmenschlicher und erniedrigender Behandlung und Folter, des Rechts auf Leben und des Verbots willkürlicher Inhaftierung, die jederzeit anwendbar sind.
Das Kriegsrecht verbietet vorsätzliche Tötungen, Vergewaltigungen und andere Akte sexueller Gewalt, Folter sowie unmenschlicher Behandlung von gefangen genommenen Kämpfer*innen und Zivilist*innen. Jede Person, die solche Handlungen anordnet oder vorsätzlich begeht oder sie unterstützt, macht sich eines Kriegsverbrechens schuldig. Befehlshaber*innen von Streitkräften, die von solchen Verbrechen wussten oder hätten wissen müssen und nicht versucht haben, sie zu verhindern oder die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, sind im Rahmen der Befehlsverantwortung für Kriegsverbrechen strafrechtlich verantwortlich.
Russland und die Ukraine sind nach den Genfer Konventionen verpflichtet, mutmaßliche Kriegsverbrechen, die von ihren Streitkräften oder in ihrem Hoheitsgebiet begangen wurden, zu untersuchen und die Verantwortlichen angemessen zu bestrafen. Die Opfer solcher Übergriffe und ihre Familien sollten umgehend und angemessen entschädigt werden.
„Diese Tötungen in der Region Isjum reihen sich ein in eine lange Liste von mutmaßlichen Kriegsverbrechen der russischen Streitkräfte in der Ukraine“, so Wille. „Da immer mehr Informationen über Verbrechen ans Licht kommen, ist die Sicherung dieser Beweise mit Blick auf eine erfolgreiche Strafverfolgung wichtiger denn je.“