(Istanbul) – Die Regierung von Recep Tayyip Erdoğan hat die türkische Menschenrechtsbilanz um Jahrzehnte zurückgeworfen und verstößt offenkundig gegen internationale Menschenrechtsnormen, so Human Rights Watch heute in seinem World Report 2022.
2021 war die Türkei das erste Land, das aus dem Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, auch bekannt als Istanbul-Konvention, austrat. Nachdem sich die türkische Regierung geweigert hatte, den Menschenrechtsverteidiger Osman Kavala freizulassen, leitete der Europarat im Dezember ein Sanktionsverfahren gegen das Land ein. Die Türkei setzt sich beharrlich über ein verbindliches Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hinweg, das seine Freilassung anordnet. Seit Gründung des Europarats ist die Türkei ist das zweite Land, gegen das ein solches Sanktionsverfahren eingeleitet wurde.
„Präsident Erdogan hat im vergangenen Jahr einen Kurs verfolgt, mit dem die Türkei das internationale Menschenrechtsgefüge verlässt“, sagte Hugh Williamson, Direktor für Europa und Zentralasien bei Human Rights Watch. „Der Ausstieg aus der Istanbul-Konvention ist ein Rückschlag für die Rechte der Frauen und die Bekämpfung der häuslichen Gewalt; und die Entscheidung, sich vom Europarat sanktionieren zu lassen, anstatt Osman Kavala aus willkürlicher und unrechtmäßiger Haft zu entlassen, zeigt die Missachtung für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.“
Im 752-seitigen World Report 2022, der 32. Ausgabe, untersucht Human Rights Watch die Menschenrechtslage in fast 100 Ländern. Executive Director Kenneth Roth stellt die gängige Meinung in Frage, dass Autokratie auf dem Vormarsch ist. In einem Land nach dem anderen sind zuletzt viele Menschen auf die Straßen gezogen, selbst auf die Gefahr hin, verhaftet oder erschossen zu werden. Das zeigt, dass Demokratie nicht an Reiz verloren hat. Gleichzeitig wird es für Autokraten immer schwieriger, Wahlen zu ihren Gunsten zu manipulieren. Dennoch, so Roth, müssen demokratische Führungsfiguren bessere Arbeit leisten, um die nationalen und globalen Herausforderungen zu bewältigen und sicherzustellen, dass die Demokratie einhält, was sie verspricht.
In der Türkei herrschen restriktive Bedingungen für Medien, Menschenrechtsaktivist*innen, die LGBT-Community, für kurdische politische Aktivist*innen und für andere als Regierungskritiker*innen ausgemachte Personen. Ehemalige Spitzenpolitiker*innen der oppositionellen Demokratischen Volkspartei (HDP) wurden für fünf Jahre inhaftiert, und vor dem Verfassungsgericht ist ein Verbotsverfahren gegen die Partei an sich anhängig. Die politische Kontrolle über die Gerichte ist einer der Pfeiler der fortschreitenden Aushöhlung der rechtstaatlichen Prinzipien in der Türkei. Straffreiheit für polizeiliche Übergriffe und Fälle von gewaltsamem Verschwindenlassen ist nach wie vor weit verbreitet.
Die Türkei beherbergt nach wie vor die höchste Zahl von Geflüchteten in der Welt, mit schätzungsweise 3,7 Millionen syrischen Geflüchteten im Land, zusätzlich zu den Asylbewerber*innen aus anderen Ländern. Die Türkei setzte 2021 den Bau einer Mauer entlang ihrer Ostgrenze zum Iran fort und führte Pushbacks gegen Afghanen*innen und andere Personen durch, die beim Versuch, die Grenze zu überqueren, aufgegriffen wurden.