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Autokraten in der Defensive – Chance für Demokraten?

Demonstrierende in Myanmar versammeln sich mit selbstgebastelten Schilden und Schutzausrüstung, um sich während der gewaltsamen Übergriffe nach dem Militärputsch am 1. Februar 2021 gegen die Sicherheitskräfte zu verteidigen.

© 2021 Private

Glaubt man der gängigen Meinung, ist die Autokratie heute auf dem Vormarsch, während die Demokratie an Boden verliert. Für diese Sichtweise sprechen die wachsende Unterdrückung oppositioneller Stimmen in China, Russland, Belarus, Myanmar, der Türkei, Thailand, Ägypten, Uganda, Sri Lanka, Bangladesch, Venezuela und Nicaragua, die Militärputsche in Myanmar, dem Sudan, Mali und Guinea sowie die undemokratischen Machtübergaben in Tunesien und im Tschad. Weiteren Rückhalt gewinnt die These durch das Hervortreten von Staatschefs mit autokratischen Tendenzen in ehemals bzw. immer noch etablierten Demokratien wie Ungarn, Polen, Brasilien, El Salvador, Indien, den Philippinen und – bis vor einem Jahr – den USA.

Obwohl bei oberflächlicher Betrachtung einiges für ein Erstarken der Autokratie spricht, erweist sich die Realität als komplexer und verheißt den Autokraten eine eher düstere Zukunft. Denn das Streben der Völker nach einer Demokratie, welche ihre Rechte achtet, ist ungebrochen. Es stützt sich auf die Erkenntnis, dass ein Herrscher, der niemandem Rechenschaft ablegen muss, seine Eigeninteressen stets vor das Allgemeinwohl stellen wird. So war in vielen Ländern zu beobachten, wie Menschen – trotz des Risikos, verhaftet oder erschossen zu werden – in großer Zahl auf die Straße gingen. Kundgebungen für mehr Autokratie suchte man hingegen meist vergeblich.

In einigen autokratisch regierten Staaten, die immer noch den Anschein demokratischer Wahlen wahren, begannen Oppositionsparteien, ihre politischen Differenzen auszublenden und Allianzen zu bilden, um ihr gemeinsames Interesse an einer Absetzung des Autokraten zu verfolgen. Wo Autokraten ihren Machterhalt nicht mehr durch subtile Wahlmanipulation gewährleisten konnten, gingen sie oft zu einem offenkundig inszenierten Wahltheater über, welches zwar das erwünschte Resultat garantierte, jedoch nicht die Legitimierung lieferte, die sich die Autokraten aus der Abhaltung von Wahlen erhofft hatten.

Die Tatsache, dass es vielen Autokraten dennoch prächtig geht, erklärt sich zumindest teilweise durch die Versäumnisse der demokratischen Entscheidungsträger. Die Demokratie mag zwar – wie schon Winston Churchill bemerkte – die am wenigsten schlechte Regierungsform sein, weil die Wählerschaft ihre Regierung abwählen kann. Die demokratischen Staatschefs der heutigen Zeit werden ihren Herausforderungen jedoch schlichtweg nicht gerecht. Ob in der Klimakrise, der Covid-19-Pandemie, beim Thema Armut und Ungleichheit, bei Rassendiskriminierung oder den Gefahren neuer Technologien – Demokraten verlieren sich zu häufig in parteipolitischen Grabenkämpfen und Tagespolitik, um diesen Problemen effektiv begegnen zu können. Zusätzlich erschwert wird die Suche nach echten Lösungen durch Ablenkungsmanöver der Populisten, die an rassistische, sexistische, fremdenfeindliche oder homophobe Vorurteile appellieren.

Damit die Demokratie im globalen Wettstreit mit der Autokratie die Oberhand behalten kann, müssen ihre Vorkämpfer mehr tun, als auf die unvermeidlichen Schwächen der Autokraten hinzuweisen. Sie müssen ein überzeugendes, positives Plädoyer für die Demokratie liefern. Dies bedeutet, bei der Bewältigung nationaler und globaler Herausforderungen bessere Ergebnisse zu liefern als die Autokraten und so dafür zu sorgen, dass die Demokratie ihre Versprechen einlöst und sich auszahlt. Es heißt auch, für demokratische Institutionen wie unabhängige Gerichte, freie Medien, robuste Gesetzgebungsorgane und eine lebendige Zivilgesellschaft einzutreten, selbst wenn man sich dadurch unerwünschter Kritik aussetzt. Wer wirksam für die Demokratie eintreten will, sollte: Öffentliche Debatten bereichern und würdigen, statt Ressentiments zu schüren; über demokratische Prinzipien nicht nur reden, sondern sie in die Tat umsetzen; Menschen im Angesicht einer Bedrohung zusammenbringen und nicht – für den Gewinn einer weiteren tatenlosen Amtszeit – gegeneinander ausspielen.

Große Teile der Welt richten ihre Hoffnungen bei der Bewältigung der großen Gegenwartsprobleme auf demokratische Führungspersönlichkeiten. Die Staatschefs von China und Russland ließen sich hingegen nicht dazu herab, persönlich beim Klimagipfel in Glasgow zu erscheinen. Sollten ihre demokratischen Amtskollegen jedoch weiterhin enttäuschen und sich als unfähig erweisen, jene visionäre Führung zu entwickeln, die in dieser schwierigen Zeit nötig wäre, dann riskieren sie, der Frustration und Verzweiflung Vorschub zu leisten, die den Nährboden der Autokratie bilden.

 

Gefahren nicht-rechenschaftspflichtiger Autokraten

Ein vorrangiges Ziel der meisten Autokraten ist es, Einschränkungen und Kontrollen ihrer Amtsbefugnisse allmählich auszuhöhlen. Eine glaubwürdige Demokratie braucht nicht nur regelmäßige Wahlen, sondern auch freie öffentliche Debatten, eine intakte Zivilgesellschaft, konkurrierende politische Parteien und eine unabhängige Justiz, welche die Rechte des Einzelnen schützt und Amtsträger zur Rechenschaft ziehen kann. Als folgten alle Autokraten demselben Drehbuch, gehen sie früher oder später dazu über, all diejenigen zu attackieren, die für ihre Macht ein Hinderniss darstellen – unabhängige Journalisten, Bürgerrechtler, Richter, Politiker und Menschenrechtler. In den USA wurde die Bedeutung der gegenseitigen Kontrolle der Verfassungsorgane deutlich, als sie Donald Trump daran hinderte, die Ergebnisse der Präsidentschaftswahl im Jahr 2020 zu seinen Gunsten zu manipulieren. In Brasilien wirken ähnliche Mechanismen schon heute darauf hin, Präsident Jair Bolsonaro an der – von ihm angedrohten – Manipulation der Präsidentschaftswahl 2022 zu hindern.

Wo demokratische Prozesse fehlen, sind autokratische Führer der Öffentlichkeit keine Rechenschaft schuldig. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihre eigenen politischen Interessen und jene ihrer Kumpanen und Förderer beim Militär verfolgen. Autokraten behaupten zwar, sie erzielten bessere Ergebnisse als ihre demokratischen Pendants, doch sie (be)dienen meist in erster Linie sich selbst.

Die Covid-19-Pandemie warf ein Schlaglicht auf diesen Hang zur Selbstbedienung. Viele Autokraten spielten die Pandemie herunter, ignorierten wissenschaftliche Beweise, verbreiteten Falschinformationen und unterließen grundlegende Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit und des Lebens ihrer Bevölkerung. Ihre Motive reichten dabei von populistischer Anbiederung bis zur Vermeidung von Kritik an ihren unzureichenden Maßnahmen zur Eindämmung  des Virus und zur Rettung der sozialen Sicherungssysteme. Während die Zahl der Infizierten und der Todesopfer in die Höhe schnellte, zogen manche Machthaber mit Drohungen, Einschüchterung und Inhaftierungen gegen Mediziner, Journalisten und andere Akteure ins Feld, die ihr gescheitertes Krisenmanagement publik machten, es kritisierten oder dagegen demonstrierten. Dies führte zu einer Einschränkung der öffentlichen Debatte, schürte Misstrauen und spitzte die Krise so weiter zu.

Zu beobachten war dieses Szenario in unterschiedlicher Ausprägung in Ägypten, Indien, Ungarn, Griechenland, Tadschikistan, Brasilien, Mexiko, Nicaragua und Venezuela, in Tansania unter dem mittlerweile verstorbenen Präsidenten John Magufuli und in den USA unter Donald Trump. Andernorts – etwa in Uganda, Russland, Thailand, Kambodscha und Kuba – nutzten Autokraten die Pandemie als Vorwand, um Demonstrationen gegen ihre Herrschaft zu unterbinden, während sie Kundgebungen ihrer Sympathisanten teilweise weiter duldeten.

Sogar in China, wo die weitreichenden Lockdowns der Regierung die Ausbreitung von Covid-19 in Grenzen hielten, trug die offizielle Vertuschung des Übertragungswegs von Mensch zu Mensch während der kritischen ersten drei Wochen im Januar 2020 dazu bei, dass das Virus sich weltweit ausbreiten konnte. In dieser Zeit waren Millionen Menschen aus Wuhan geflohen oder durch die Stadt gereist. Peking weigert sich bis heute, mit einer unabhängigen Untersuchung zu kooperieren, welche die Herkunft des Virus klären soll.

Häufig setzten Autokraten staatliche Mittel für eigennützige Projekte ein, statt sie den Bedürfnissen der Allgemeinheit zu widmen. So ließ der ungarische Premierminister Viktor Orban mithilfe von EU-Subventionen Fußballstadien bauen und damit enge Verbündete auszahlen, während er Krankenhäuser verfallen ließ. In Ägypten ließ Präsident Abdel Fattah al-Sisi zu, dass Gesundheitseinrichtungen vernachlässigt wurden, während die Armee und ihre weitreichenden Geschäftstätigkeiten florierten. Gleichzeitig verfolgte al-Sisi Prestigeprojekte wie den Bau einer neuen Verwaltungshauptstadt östlich von Kairo. In Russland erhöhte der Kreml die Etats für Militär und Polizei, während sich die Talfahrt der russischen Wirtschaft fortsetzte.

Die vermeintliche Tugend der Autokraten, durch das Fehlen demokratischer Kontrollorgane schnell handeln zu können, kann ihnen paradoxerweise zum Verderben werden. Eine freie demokratische Debatte kann Entscheidungsprozesse verlangsamen, doch sie sorgt auch dafür, dass vielfältige Standpunkte berücksichtigt werden. Autokraten neigen hingegen dazu, kontroverse Ansichten zu unterdrücken, was zu so irrsinnigen Entscheidungen führt, wie dem Entschluss des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, trotz einer schwindelerregenden Inflation den Leitzins zu senken. Sri Lankas ehemaliger Präsident Mahinda Rajapaksa ließ mithilfe chinesischer Kredite einen Hafen planen und im Eiltempo errichten, der derart hohe Verluste anhäufte, dass er schließlich für 99 Jahre der Kontrolle durch Peking unterstellt werden musste. Indiens Konjunktur hat sich bis heute nicht vollständig von der abrupten Entscheidung des Premierministers Narendra Modi erholt, die Geldscheine mit den höchsten Zahlenwerten abzuschaffen. Die Maßnahme, welche die Korruption eindämmen sollte, schadete vor allem marginalisierten Bevölkerungsteilen, die für ihren Lebensunterhalt vorrangig auf Bargeld angewiesen sind.

In China konsolidierte Präsident Xi Jinping seine Macht weiter, sah sich dabei aber einer Vielzahl von Problemen ausgesetzt. Dazu zählten eine konjunkturelle Abkühlung, eine Schuldenkrise, eine Immobilienblase, ein sinkendes Arbeitskräftepotenzial im Zuge der Alterung der Bevölkerung und ein besorgniserregendes Maß an sozialer Ungleichheit. Trotz dieser enormen Herausforderungen hatten die Bürger des Landes keine Möglichkeit, frei über mögliche Lösungen zu diskutieren. Eine ähnliche Ein-Mann-Herrschaft hatte schon die desaströse Kulturrevolution der Kommunistischen Partei Chinas und die Strategie des „Großen Sprung[s] nach Vorne“ ermöglicht, welche Millionen Menschen das Leben kostete. Statt jedoch eine öffentliche Diskussion über mögliche Lösungen der aktuellen Probleme anzuregen, ließ Xi in Xinjiang Verbrechen gegen die Menschlichkeit verüben, unterwarf die Justiz seinem Willen, räumte politische Verbündete aus dem Weg und ließ den Überwachungsstaat in die letzten Winkel des Landes vordringen. Derart unanfechtbare Entscheidungsstrukturen führen unweigerlich zu verheerenden Fehlentscheidungen.

 

Breiter Zuspruch für die Demokratie

Selbst dort, wo übergriffige Überwachungsmaßnahmen und schwere Repression den Demonstrationen letztlich ein Ende bereiteten, machten ihre enormen Teilnehmerzahlen die Sehnsucht der Bevölkerung nach Demokratie deutlich. Gewiss: Repression kann zur Resignation führen. Doch es wäre falsch, dies als Unterstützung zu werten. Nur die wenigsten Menschen wünschen sich die Unterdrückung, Korruption und Misswirtschaft einer autokratischen Regierung.

Viele Autokraten glaubten, sie hätten gelernt, die Wählerschaft durch gesteuerte Wahlen zu manipulieren. Sie erlaubten regelmäßige Urnengänge – jedoch erst nachdem sie das Spielfeld ausreichend zu ihren Gunsten geneigt hatten. Sie zensierten die Medien, schränkten Freiräume für zivilgesellschaftliche Organisationen ein, disqualifizierten Gegner und verteilten staatliche Leistungen selektiv. Einige Machthaber dämonisierten benachteiligte Gruppen wie Einwanderer, Asylsuchende, Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender (LGBT), ethnische und religiöse Minderheiten und Frauen, die für ihre Rechte eintraten. Auf diese Weise versuchten die Autokraten, von der eigenen Unfähigkeit bzw. Ihrem Unwillen abzulenken, tatsächlich etwas zu bewegen. Oft genug gelang ihnen dabei der Spagat, einerseits in ausreichendem Maße zu manipulieren, um einen „Wahlsieg“ ausrufen zu können, anderseits nicht so dreist zu agieren, dass sie das Spektakel seiner letzten Legitimität beraubten.

Je offenkundiger Korruption und Misswirtschaft der Autokraten jedoch waren, desto weniger empfänglich zeigte sich die Wählerschaft für ihre Methoden zur Wahlbeeinflussung. In einigen Ländern, in denen noch ein gewisses Maß an politischem Pluralismus geduldet wurde, bildeten sich breite Parteienbündnisse, die das gesamte politische Spektrum abdeckten. Diese Allianzen sind ein Beleg für die wachsende Erkenntnis, dass parteipolitische Differenzen angesichts eines gemeinsamen Interesses an der Absetzung korrupter oder autokratischer Herrscher vernachlässigbar sind.

In der Tschechischen Republik setzte sich eine solche Koalition an der Wahlurne gegen Premierminister Andrej Babis durch. In Israel beendete ein breites Parteienbündnis die langjährige Herrschaft von Premierminister Benjamin Netanjahu. Vergleichbare Koalitionen bildeten sich auch im Vorfeld der Wahlen in Ungarn und in der Türkei, wo sie gegen Viktor Orban bzw. Recep Tayyip Erdogan antraten. In den USA trugen ähnliche Tendenzen innerhalb der Demokratischen Partei dazu bei, dass Joe Biden bei den Präsidentschaftswahlen 2020 als Gegenkandidat zu Donald Trump aufgestellt wurde.

 

Wahltheater

Gesteuerte Wahlen haben als Mittel zum Machterhalt an Effizienz verloren. Dies zwang viele Autokraten, zu immer drastischeren Formen der Wahlmanipulation zu greifen. Bei den Parlamentswahlen in Russland disqualifizierten die Behörden praktisch alle wählbaren Kandidaten der Opposition, untersagten Demonstrationen und brachten kritische Journalisten und Aktivisten zum Schweigen. Sie inhaftierten den Oppositionsführer Alexej Nawalny (nachdem sie ihn zuvor mithilfe eines Nervengiftes beinahe getötet hätten), brandmarkten seine Organisationen als „extremistisch“ und behinderten die Bemühungen seines Teams, eine Strategie zum „intelligenten Wählen“ umzusetzen. Ziel dieser Strategie war es, von den verbleibenden Oppositionskandidaten immer denjenigen auszuwählen, gegen den am wenigsten Einwände bestanden.

In Hongkong zeichnete sich während des informellen Vorwahlverfahrens innerhalb der demokratischen Opposition eine peinliche Niederlage für den Peking-treuen Kandidaten ab. Die chinesische Regierung  kippte daraufhin das „ein Land, zwei Systeme“-Prinzip und verhängte ein drakonisches Gesetz zur „nationalen Sicherheit“, welches die politischen Freiheiten des Territoriums faktisch aufhob und nur noch „Patrioten“ (also Peking-freundliche Politiker) eine Kandidatur für politische Ämter erlaubte. In Bangladesch ließ die Regierung von Premierminister Sheikh Hasina Mitglieder der politischen Opposition inhaftieren, verschleppen und exekutieren, während sie die Sicherheitskräfte zur Einschüchterung von Wählern und Kandidaten einsetzte.

In Nicaragua ließ Präsident Daniel Ortega alle führenden Oppositionellen sowie dutzende Regierungskritiker inhaftieren und entzog den großen Oppositionsparteien ihre gesetzliche Anerkennung. In Belarus ging Alexander Lukaschenko in ähnlicher Weise gegen seine wichtigsten politischen Gegner vor, unterschätzte dabei jedoch die enormen Sympathien der Wählerschaft für Sviatlana Tsikhanouskaya, die als Kandidatin an die Stelle ihres Ehemannes getreten war und die manipulierten Wahlen vermutlich gewonnen hätte, wäre sie nicht zur Flucht aus dem Land gezwungen worden.

In Uganda stand Präsident Yoweri Museveni einem jungen, charismatischen und populären Gegenkandidaten gegenüber. Daraufhin ließ er dessen Kundgebungen verbieten und seine Sicherheitskräfte auf Sympathisanten des Widersachers schießen. Die religiösen Führer im Iran schlossen bis auf einige Hardliner alle Kandidaten von den Präsidentschaftswahlen aus. In Usbekistan verweigerte die Staatsführung allen Oppositionsparteien die Registrierung und sorgte so dafür, dass Präsident Shavkat Mirziyovev seine Herrschaft ohne ernstzunehmenden Widerstand fortsetzen konnte. Die Regierungen Kambodschas und Thailands ließen populäre Oppositionsparteien auflösen und zwangen Oppositionspolitiker zur Ausreise oder ließen sie inhaftieren.

Wenn Wahlen derart schamlos unterminiert werden, bleibt anschließend keine „gesteuerte“ Demokratie zurück, sondern eine Zombie-Demokratie – eine Farce, die noch nicht einmal mehr vorgibt, ein freier und fairer Wettbewerb zu sein. Die Autokraten in diesen Systemen gehen von der Manipulation und Zweckentfremdung des demokratischen Prozesses zu einer Herrschaft durch Repression und Angst über. Viele Beobachter werten diese entfesselte Unterdrückung als Beleg für den Siegeszug der Autokratie. Tatsächlich steht sie jedoch für das genaue Gegenteil: Sie ist ein Akt der Verzweiflung durch diktatorische Führer, die wissen, dass sie jede Hoffnung auf breiten Rückhalt verloren haben. In der Hoffnung, ihre Heuchelei wirke weniger provokant als eine offene Ablehnung der Demokratie, verspielen sie den letzten Rest eben jener Legitimität, die das Wahltheater eigentlich herstellen soll.

 

Pekings Streben nach internationaler Anerkennung

Eine Variation dieses Motivs ist bei der chinesischen Regierung zu beobachten, die auf dem Festland noch nie freie Wahlen zugelassen hat. Die chinesische Verfassung schreibt dort eine Diktatur der Kommunistischen Partei vor. In den vergangenen Jahren betonte die chinesische Regierung zunehmend die vermeintliche Überlegenheit ihres Systems gegenüber der Unordnung einer Demokratie. Gleichzeitig unternahm sie große Anstrengungen, um zu verhindern, dass diese Behauptung auf die Probe gestellt wurde.

In internationalen Foren wie dem UN-Menschenrechtsrat präsentierten Chinas Vertreter das Wachstum des chinesischen Bruttoinlandsproduktes als hinreichende Maßnahme zur Förderung der Menschenrechte. Vorhersehbarerweise blockierten sie jede Bemühung, Chinas Bilanz auf dem Gebiet der Bürgerrechte und der politischen Rechte unter die Lupe zu nehmen, etwa die Inhaftierung von einer Million Uiguren und anderer türkischstämmiger Muslime in Xinjiang, mit der Peking diese zur Aufgabe ihrer Kultur, Identität und Sprache zwingen will. China wies auch jede Kritik an seiner Wirtschafts- und Sozialpolitik zurück, sofern auf Diskriminierung oder ungleiche Rechte hinwies.

Um einer kritischen Überprüfung zu entgehen, nutzte Peking in seiner Außenpolitik eine Reihe von Anreizen und Strafen („Zuckerbrote und Peitschen“). Zu den Anreizen gehört die eine Billion US-Dollar schwere Initiative Neue Seidenstraße. Diese wurde als Infrastrukturprogramm präsentiert, das eine von Peking vorgegebene „gemeinsame Bestimmung“ verfolgt. Diese vage Formulierung erlaubt es korrupten Staatschefs, Gelder zu veruntreuen und ihrer Bevölkerung gleichzeitig untragbare Schuldenlasten aufzubürden. Chinas Strafinstrumente wurden erkennbar, als Peking mit Wirtschaftssanktionen gegen Australien vorging, das die Kühnheit besessen hatte, eine unabhängige Untersuchung der Ursprünge von Covid-19 zu fordern. Ein weiteres Beispiel war Chinas Drohung, der Ukraine Covid-Impfstoff vorzuenthalten, falls das Land nicht von seiner Unterstützung für eine kritische Stellungnahme des UN-Menschenrechtsrats zur Menschenrechtslage in Xinjiang zurücktreten sollte. Sei es durch den Ausschluss ganzer Länder oder Unternehmen vom Zugang zum chinesischen Markt oder die Bedrohung von Mitgliedern der chinesischen Diaspora und ihrer Familien – Peking richtet seine Zensurbemühungen heute routinemäßig auch gegen Kritiker im Ausland.

Die chinesische Regierung legt besonderen Wert darauf, sich keiner ungehinderten Kritik aus dem Inland stellen zu müssen. Deshalb zensiert oder inhaftiert sie einheimische Kritiker. Als Hongkong – das einzige Territorium unter chinesischer Kontrolle, das sich noch frei äußern durfte – durch Massenproteste seine Opposition zur Herrschaft der Kommunistischen Partei bekundete, ließ Peking diese Freiheiten niederschlagen. Eine ähnliche Angst vor Kritik aus dem Inland zeigten auch andere diktatorische und monarchistische Regierungen, die selbst die moderaten Risiken von „gesteuerten“ Wahlen bisher noch nie eingegangen sind. Dazu gehörten Kuba, Vietnam, Nordkorea, Turkmenistan, Eswatini, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate.

 

Macht um jeden Preis

Der endgültigen Logik der Autokratie folgend klammerten manche Autokraten derart unbeirrt an der Macht, dass sie sogar humanitäre Katastrophen in Kauf nahmen. Syriens Präsident Baschar al-Assad war beispielhaft für dieses verhängnisvolle Kalkül. Er ging so weit, Krankenhäuser, Schulen, Märkte und Wohngebäude in oppositionell kontrollierten Gebieten (mit russischer Hilfe) zu bombardieren und dadurch ganze Landstriche zu verwüsten und zu entvölkern. In Venezuela richtete Nicolas Maduro sein Land in ähnlicher Weise zu Grunde – dort sind angesichts von Hyperinflation und wirtschaftlichem Ruin bereits Millionen Menschen geflohen.

Eine ähnliche Geringschätzung des Allgemeinwohls legten Myanmars Militärjunta und die afghanischen Taliban an den Tag, wie auch die äthiopische Regierung, die einen in Tigray ausgebrochenen Konflikt fortsetzte. Das sudanesische Militär gab vor, die Macht künftig mit demokratischen Kräften teilen zu wollen. Selbst die stets willkommenen Rettungspakete der Gegner der Demokratie – China, Russland, Saudi-Arabien oder die Vereinigten Arabischen Emirate – reichten meist nicht aus, um die Autokraten vor den Folgen ihrer Selbstsucht und Zerstörung zu bewahren.

Der angebliche Siegeszug der Autokraten ist also weniger allumfassend, als oft angenommen wird. Viele Autokraten haben Angst: Wenn sie mit pro-demokratischen Protesten konfrontiert sind; wenn sie politischen Bündnissen gegenüberstehen, die Widerstand gegen ihre Attacken auf die Demokratie leisten; oder wenn sie bei der Beeinflussung von Wahlen auf Schwierigkeiten stoßen, weil die Bevölkerung ihre selbstsüchtige Herrschaft durchschaut. Lässt man das große Tamtam um den „Aufstieg der Autokraten“ einmal außer acht, ist ihre Lage alles andere als beneidenswert.

 

Versäumnisse der Demokratien

Demokratien liefern heutzutage nicht immer Glanzleistungen bei der Bekämpfung gesellschaftlicher Missstände. Es wird gemeinhin anerkannt, dass der Erfolg oder Misserfolg einer Demokratie davon abhängt, inwieweit sie ein gutes Beispiel abgibt. Allzu häufig fiel dieses Beispiel jedoch enttäuschend aus. Die demokratischen Entscheidungsträger wurden den Herausforderungen, vor denen die Welt heute steht, nicht gerecht.

Demokratien sind von Natur aus chaotisch. Die Gewaltenteilung verlangsamt zwangsläufig viele Abläufe, doch dies ist der Preis für den Schutz vor Tyrannei. Insbesondere im Regierungssystem der USA ist diese Sorge tief verankert. Die Versäumnisse vieler Demokratien gehen heute jedoch über die inhärenten Beschränkungen des demokratischen Systems der Gewaltenteilung hinaus. Demokratien enttäuschen oft, obwohl ihr Pluralismus es den verschiedenen Akteuren erlaubt, Druck zur Lösung schwerwiegender Probleme auf ihre Regierung aufzubauen. Zu diesen Akteuren zählen freie Medien, dynamische Zivilgesellschaften sowie unabhängige Gesetzgeber und Gerichte.

Die Klimakrise ist eine finstere Bedrohung, welcher demokratische Entscheidungsträger nur zögerlich entgegentreten. Sie scheinen nicht in der Lage, über den nationalen Blickwinkel und ihre Eigeninteressen hinaus zu blicken und die benötigten weitreichenden Maßnahmen zu ergreifen. Auf die Covid-19-Pandemie reagierten mehrere Demokratien mit der bemerkenswert schnellen Entwicklung hocheffizienter mRNA-Impfstoffe. Es gelang ihnen jedoch nicht, auch Menschen in Staaten mit geringen Einkommen an dieser Erfindung teilhaben zu lassen. Die Folge waren zahllose unnötige Todesfälle und eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, dass neue Virusvarianten den Impfschutz umgehen können.

Demokratische Regierungen ergriffen zwar Maßnahmen, um die wirtschaftlichen Folgen der zum Gesundheitsschutz und zur Eindämmung von Covid-19 verhängten Lockdowns abzumildern, es gelang ihnen jedoch nicht, dem übergeordneten und fortbestehenden Problem der weitverbreiteten Armut und Ungleichheit gerecht zu werden. Nachholbedarf herrschte auch beim Aufbau angemessener sozialer Sicherungssysteme für die unvermeidliche nächste Wirtschaftskrise. Demokratische Regierungen debattierten regelmäßig über die Gefahren neuer Technologien, doch sie machten nur winzige Schritte, um diesen entgegenzutreten. Zu den Bedrohungen gehörten die Verbreitung von Hass und Falschinformationen in den Sozialen Medien; Geschäftsmodelle, die auf weitreichenden Eingriffen in die Privatsphäre beruhen; die Zudringlichkeit neuer Überwachungsinstrumente; und die Reproduktion von Vorurteilen durch Systeme der künstlichen Intelligenz.

Die Herausforderungen sind zweifellos gewaltig. Wie die Klimadebatte jedoch gezeigt hat, wächst mit dem Ausmaß des Problems auch die Einsicht, dass jede Regierung eine Mitverantwortung für dessen Lösung trägt. Diese Erkenntnis liefert eine  Chance für mehr Verantwortlichkeit. Dennoch versuchten viele demokratische Entscheidungsträger noch immer, mit schwammigen Selbstverpflichtungen davonzukommen, deren Umsetzung niemand einfordern kann. Diese Zurückhaltung kann kaum als Rezept für wirksame Maßnahmen gelten.

Auch außenpolitisch schnitten viele Demokratien nicht besser ab. Statt konsequent Demokraten gegenüber Autokraten den Rücken zu stärken, ließen sie sich immer wieder auf realpolitische Kompromissen ein und gaben der Förderung autokratischer  „Freunde“ den Vorrang vor einer prinzipientreuen Verteidigung der Demokratie – etwa bei der Eindämmung der Migration, der Bekämpfung des Terrorismus oder der vermeintlichen Herstellung von Stabilität. Ägyptens Präsident al-Sisi und Ugandas Präsident Museveni waren prominente Nutznießer dieser fehlgeleiteten Logik.

Ähnliche Überlegungen – in diesem Fall die Eindämmung des chinesischen Einflusses – stand hinter dem allgemeinen Schweigen demokratischer Staatschefs gegenüber der zunehmend autokratischen Regierungsführung von Präsident Modi in Indien. Die USA, die EU, Großbritannien, Kanada und Australien versuchten, ihre Beziehungen zu Indien auf den Gebieten Sicherheit, Technologie und Handel zu stärken, während sie vage von  „geteilten demokratischen Werten“ sprachen und keine Bereitschaft zeigten, die Modi-Regierung wegen der Unterdrückung der Zivilgesellschaft und dem mangelhaften Schutz religiöser Minderheiten zur Verantwortung zu ziehen.

 

Gemischte Signale von Biden

US-Präsident Biden brach mit der Nähe seines Vorgängers zu vermeintlich wohlgesinnten Autokraten und versprach, seine Außenpolitik an den Menschenrechten zu orientieren. Ungeachtet dessen setzte er Waffenexporte an Ägypten, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Israel fort – trotz der dort andauernden Repression. In Zentralamerika waren vielerorts autokratische Tendenzen zu beobachten. Biden thematisierte diese jedoch nur im Falle Nicaraguas, einem traditionellen Rivalen der USA. Ansonsten schien er Maßnahmen zur Eindämmung der Migration Vorrang zu geben. Die Sorge über das Thema Migration veranlasste Biden auch zu einem zurückhaltenden Umgang mit Mexikos Präsident Andrés Manuel López Obrador, obwohl dieser Medien und Justiz angriff und die Covid-Pandemie leugnete.

Biden schwieg auf wichtigen Gipfeltreffen, als es um die öffentliche Verurteilung schwerer Menschenrechtsverbrechen ging. Das US-Außenministerium veröffentlichte gelegentlich Protestnoten gegen die Repression in bestimmten Ländern. In extremen Fällen verhängte die Biden-Regierung gezielte Sanktionen gegen Amtsträger, die für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich waren. Allzu häufig blieb die einflussreiche Stimme des Präsidenten jedoch stumm. Nach seinen Treffen mit Chinas Präsident Xi, Russlands Präsident Putin und dem türkischen Präsidenten Erdogan bemerkte Biden, man habe über „Menschenrechte“ gesprochen, doch er lieferte wenig Spezifisches über das Gesagte oder über mögliche Konsequenzen, falls die Unterdrückung andauern sollte. Die Bevölkerungen dieser Länder – die wichtigsten Triebkräfte des Wandels, die in diesen schwierigen Zeiten neuen Schub gebraucht hätten – blieben im Ungewissen darüber, ob sie Bidens Äußerungen als Unterstützung werten konnten.

Bidens Offenheit gegenüber internationalen Institutionen fiel ebenfalls selektiv aus, wenngleich sie eine erhebliche Verbesserung zu Trumps Konfrontationskurs darstellte. Unter Biden kandidierten die USA erfolgreich für einen Sitz im UN-Menschenrechtsrat, dem Trump den Rücken gekehrt hatte. Sie traten der Weltgesundheitsorganisation wieder bei und kehrten zu dem – von Trump aufgegebenen – weltweiten Kampf gegen den Klimawandel zurück.

Biden hob Trumps Sanktionen gegen den Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs auf. Er beharrte allerdings auf der ablehnenden Position der US-Regierung im Hinblick auf Ermittlungen des Chefanklägers zur US-Folter in Afghanistan oder zu israelischen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in den besetzten Palästinensergebieten, obwohl sowohl Afghanistan als auch Palästina die Rechtsprechung für Verbrechen auf ihrem Territorium an das Tribunal übertragen hatten und obwohl weder die USA noch Israel diese Vergehen gewissenhaft verfolgt haben.

 

Europäische Selektivität

Auch andere westliche Staatschefs zeigten Schwächen bei der Verteidigung der Demokratie. Die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel wirkte an der weltweiten Verurteilung der Verbrechen der chinesischen Regierung in Xinjiang bei. Im Rahmen der EU-Präsidentschaft befürwortete die Bundesregierung jedoch – obwohl weiterhin Uiguren als Zwangsarbeiter eingesetzt wurden – ein Investitionsabkommen mit China, ohne ihre Unterstützung von der Beendigung der Zwangsarbeit oder zumindest einer Ratifizierung des ILO-Abkommens gegen Zwangsarbeit abhängig zu machen. Merkel gab sich mit der Zusicherung Pekings zufrieden, man werde darüber nachdenken, dem Abkommen möglicherweise eines Tages beizutreten. Erst das Europäische Parlament bot dieser Prinzipienlosigkeit Einhalt.

Die Regierung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron trug ebenfalls zur Koordinierung einer breiten Verurteilung von Pekings Vorgehen in Xinjiang bei. Vor der miserablen Menschenrechtslage in Ägypten verschloss sie jedoch die Augen. Dort erlebt die Bevölkerung unter der Führung von Präsident al-Sisi die schwerste Unterdrückung in der modernen Geschichte des Landes. Frankreich lieferte dennoch Waffen, und Macron zeichnete al-Sisi sogar mit Frankreichs höchste Ehrung, dem Orden der Ehrenlegion, aus. Macron kündigte ein riesiges Waffengeschäft mit den Vereinigten Arabischen Emiraten an, obwohl dessen Militär an zahllosen unrechtmäßigen Angriffen auf Zivilisten im Jemen beteiligt war. Macron traf – als erster westlicher Staatschef seit der Ermordung des unabhängigen Journalisten Jamal Khashoggi im Jahr 2018 – den saudischen Kronprinz Mohammed bin Salman. Die französische Regierung versäumte es, sich mit den Geschäften des französischen Energieriesen Total in Myanmar zu befassen, obwohl die Einkünfte aus diesen Aktivitäten zur Finanzierung der Menschenrechtsverbrechen der Militärjunta beitrugen.

Die Europäische Union hat bisher noch nicht von ihrer neuen Befugnis Gebrauch gemacht, ihre umfangreichen Subventionen an Ungarn und Polen von der Achtung demokratischer Prinzipien, der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit durch ihre autoritären Staatschefs abhängig zu machen. Nachdem die EU aufgrund der Angriffe auf die demokratische Ordnung in beiden Ländern eine Prüfung nach Artikel 7 des EU-Vertrags initiiert hatte, konnte sie sich noch nicht dazu durchringen, eine „schwere Verletzung“ der Grundwerte des EU-Vertrags festzustellen. Als die Polen beschloss, seine Grenzen für Asylsuchende, die über Belarus einreisen wollten, zu schließen, gab es Befürchtungen, die EU werde diesen Schritt einmal mehr zum Anlass nehmen, um über die Untergrabung der unabhängigen Justiz und die Angriffe auf Frauen- und LGBT-Rechte durch die polnische Regierung hinwegzusehen. Sollte eine Kurskorrektur ausbleiben, läuft die EU Gefahr, sich von einer Gemeinschaft der Demokratien in einen reinen Handelsblock zu verwandeln.

Eine kleine Zahl von Mitgliedstaaten missbrauchte in zunehmendem Maße die Verpflichtung zur Einstimmigkeit in Fragen der europäischen Außenpolitik, um eine rasche, prinzipientreue und robuste Reaktion der EU auf Angriffe auf Demokratie und Menschenrechte zu verhindern. Eine positive Entwicklung war es, dass eine Mehrheit von EU-Mitgliedstaaten beschloss, im Rahmen der Like-Minded-Initiative enger zusammenzuarbeiten. Josep Borrell, der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, zeigte sich bereit, etablierte EU-Positionen eigenverantwortlich, auch ohne Freigabe durch alle Mitgliedstaaten zu vertreten.

 

Globale Inkonsequenz

Auch außerhalb der westlichen Welt traten Regierungen – zumindest in gewissem Umfang – für die Demokratie und gegen offenkundige Militärputsche ein. Der Verband Südostasiatischer Staaten (ASEAN) tat dies im Falle Myanmars, die Afrikanische Union gegenüber dem Sudan, Guinea und Mali.

Sie zeigten jedoch kein vergleichbares Interesse daran, den endemischen Menschenrechtsverletzungen der seit langem herrschenden Autokraten entgegenzutreten, etwa in Vietnam, Kambodscha und Thailand oder in Ruanda, Uganda und Ägypten. Die Organisation Amerikanischer Staaten bot den Diktaturen von Präsident Maduro in Venezuela und Präsident Ortega Nicaragua zwar die Stirn, gegenüber den autokratischen Tendenzen von Präsident Bolsonaro in Brasilien und Präsident Nayib Bukele in El Salvador zeigte sich der Staatenbund jedoch weiterhin nachgiebig. Sri Lanka sah sich nur geringem Druck zur Einhaltung der Menschenrechte ausgesetzt, während die Rajapaksa-Brüder trotz ihrer Verantwortlichkeit für Kriegsverbrechen ins Amt zurückkehren konnten.

Im Nahen Osten unterstützten autoritäre Regierungen, insbesondere jene Saudi-Arabiens und der Vereinigten Arabischen Emirate, die repressive Herrschaft des ägyptischen Präsidenten al-Sisi mit Finanzhilfen und anderen Mitteln. Sie begrüßten die Machtübernahme durch Präsident Kais Saied in Tunesien und deckten Bahrains Null-Toleranz Politik gegenüber abweichenden Meinungen. Ungeachtet der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Syriens Präsident Assad bei der Niederschlagung des Aufstands gegen seine Herrschaft verüben ließ, hielt der Iran an seiner Unterstützung für das Regime fest. Die Vereinigten Arabischen Emirate, die Türkei, Russland und Ägypten lieferten allesamt Waffen an kriminelle Akteure in Libyen.

Die russische Regierung förderte rechtsextreme Politiker in westlichen Demokratien in der Hoffnung, diese zu diskreditieren und dadurch den Druck auf den Kreml zu senken, wenn es um die Achtung des Wunsches der russischen Bevölkerung nach mehr Demokratie ging.

 

Enttäuschung bei der UN

UN-Generalsekretär Antonio Guterres zeigte im vergangenen Jahr eine geringfügig größere Bereitschaft, einzelne Regierungen wegen Menschenrechtsverletzungen zu kritisieren, statt nur allgemeine Ermahnungen zur Achtung der Menschenrechte zu äußern, die keine bestimmte Regierung in Zugzwang brachten. Guterres sprach dabei hauptsächlich schwache Regierungen an, die ohnehin bereits international geächtet wurden, etwa die myanmarische Junta nach dem Militärputsch. Selbst nachdem er eine zweite Amtszeit gewonnen hatte und das chinesische Veto gegen seine Ambitionen nicht länger fürchten musste, weigerte sich Guterres, die chinesische Regierung wegen ihrer Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Xinjiang öffentlich zu verurteilen.

Die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte Michelle Bachelet ließ zu, dass sich die Veröffentlichung eines Berichts über Xinjiang um mehr als drei Jahre verzögerte, weil sie nicht in der Lage war, sich uneingeschränkten Zugang nach Xinjiang zu verschaffen. Der Bericht nutzt Methoden, Informationen von auβerhalb des Landes zu gewinnen, wie sie auch von Human Rights Watch und vielen anderen Organisationen genutzt werden. Peking weigerte sich auch nach jahrelangen Verhandlungen, unabhängigen Beobachtern Zugang nach Xinjiang zu gewähren - und wird dies höchstwahrscheinlich niemals tun. Anfang Dezember erklärte Bachelets Sprecher, er hoffe, der Bericht werde in den kommenden Wochen erscheinen. Sobald dies geschieht, wird der Druck auf die Mitglieder des UN-Menschenrechtsrats wachsen, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch die chinesische Regierung zu thematisieren.

 

Die Notwendigkeit zu handeln

Es bleibt ungewiss, welchen Ausgang der brisante Wettstreit zwischen Autokratie und Demokratie nehmen wird. Regierungen, die niemandem Rechenschaft schuldig sind, tendieren dazu, schlechte Resultate für ihre Bevölkerungen abzuliefern. Dies brachte die Autokraten in die Defensive: Immer mehr Menschen schlossen sich Demonstrationen an, breite pro-demokratische Koalitionen traten auf den Plan und gelenkte Wahlen erweisen sich, im Gegensatz zu vollständig inszeniertem Wahltheater, als immer unzuverlässiger.

Die Demokratie besitzt eine enorme Anziehungskraft, doch ihr Schicksal steigt und fällt mit dem Verhalten ihrer Entscheidungsträger. Wird es ihnen gelingen, die gewaltigen Herausforderungen, die vor uns liegen, zu meistern? Werden sie öffentliche Debatten bereichern, statt ihnen die Grundlage zu entziehen? Werden sie außenpolitisch wie innenpolitisch konsequent handeln und die Prinzipien von Demokratie und Menschenrechten achten, die sie angeblich verteidigen? Die Öffentlichkeit droht am Scheitern der demokratischen Entscheidungsträger bei der Bewältigung der Gegenwartsprobleme zu verzweifeln und gegenüber der Demokratie in Gleichgültigkeit zu verfallen. Sollte dies geschehen, wird es nur noch ein schwacher Trost sein, dass die Demokratie vermeintlich die am wenigsten schlechte Staatsform ist. Wer die Menschenrechte wirksam schützen will, muss nicht nur der Unterdrückung der Autokraten die Stirn bieten, sondern auch die Vorreiterrolle der Demokratie wiederbeleben.