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Gaza: Mutmaßliche Kriegsverbrechen während der Kämpfe im Mai

Israelische und palästinensische Rechtsverletzungen erfordern Untersuchung durch Internationalen Strafgerichtshof


(Jerusalem, 27. Juli 2021) - Israelische Streitkräfte und bewaffnete palästinensische Gruppen haben während der Kämpfe im Mai 2021 im Gazastreifen und in Israel Angriffe verübt, die gegen Kriegsrecht verstoßen und mutmaßlich Kriegsverbrechen darstellen, so Human Rights Watch heute. Das israelische Militär und die palästinensischen Behörden haben es seit langem versäumt, Verstöße gegen das Kriegsrecht zu untersuchen, die in oder von Gaza aus begangen wurden.

Human Rights Watch untersuchte drei israelische Angriffe, bei denen 62 palästinensische Zivilist*innen getötet wurden, obwohl sich keine offenkundigen militärischen Ziele in der Nähe befanden. Bewaffnete palästinensische Gruppen verübten ebenfalls unrechtmäßige Angriffe, indem sie mehr als 4.360 ungelenkte Raketen und Mörser auf israelische Ballungszentren abfeuerten und damit gegen das Verbot von vorsätzlichen oder wahllosen Angriffen auf Zivilist*innen verstießen. Human Rights Watch wird die Rechercheergebnisse zu den Raketenangriffen durch bewaffnete palästinensische Gruppen separat veröffentlichen.

„Israelische Streitkräfte haben im Mai Angriffe im Gazastreifen verübt, die ganze Familien zerstört haben, ohne dass ein offensichtliches militärisches Ziel in der Nähe war“, sagte Gerry Simpson, stellvertretender Direktor für Krisen und Konflikte bei Human Rights Watch. „Der anhaltende Widerwille israelischen Behörden, mutmaßliche Kriegsverbrechen ernsthaft zu untersuchen, sowie die Raketenangriffe der palästinensischen Streitkräfte auf israelische Ballungszentren unterstreichen die Bedeutung einer Untersuchung durch den Internationalen Strafgerichtshof.“

Laut Vereinten Nationen sind während der Kämpfe im Mai bei Angriffen des israelischen Militärs 260 Palästinenser*innen getötet worden, darunter mindestens 129 Zivilist*innen, 66 davon Kinder. Laut Gesundheitsministerium in Gaza haben die israelischen Streitkräfte 1.948 Palästinenser*innen verletzt, darunter 610 Kinder. Israelische Behörden sagten, dass Raketen- und Mörserangriffe von bewaffneten palästinensischen Gruppen zum Tod von 12 Zivilist*innen, darunter zwei Kindern, und einem Soldaten geführt und „mehrere hundert“ Menschen verletzt haben. Mehrere Palästinenser*innen starben auch im Gazastreifen, als Raketen, die von bewaffneten Gruppen abgefeuert wurden, abstürzten und im Gazastreifen landeten.

Seit Ende Mai hat Human Rights Watch 30 Palästinenser*innen persönlich interviewt, darunter Zeug*innen der israelischen Angriffe, Angehörige von getöteten Zivilist*innen und Bewohner*innen der betroffenen Gebiete. Human Rights Watch besuchte zudem einen Ort, an dem es zu vier Luftangriffen kam, untersuchte Munitionsreste und analysierte Satellitenbilder, Videomaterial und Fotos, die nach den Angriffen aufgenommen wurden.

Human Rights Watch konzentrierte sich bei der Untersuchung auf drei israelische Angriffe, die eine hohe Zahl ziviler Opfer zur Folge hatten und bei denen es kein offensichtliches militärisches Ziel in der Nähe gab. Andere israelische Angriffe während des Konflikts waren wahrscheinlich ebenfalls unrechtmäßig.

Am 10. Mai schlug eine israelische Lenkrakete in der Nähe der Stadt Beit Hanoun in vier Häusern der Familie al-Masri ein und tötete acht Zivilist*innen, darunter sechs Kinder. Am 15. Mai zerstörte eine Lenkbombe ein dreistöckiges Gebäude im Flüchtlingslager al-Shati und tötete 10 Zivilist*innen, 2 Frauen und 8 Kinder aus zwei verwandten Familien. Und am 16. Mai traf eine Serie von israelischen Luftangriffen, die vier Minuten dauerte, die al-Wahda-Straße in Gaza-Stadt, wodurch drei mehrstöckige Gebäude einstürzten und 44 Zivilist*innen getötet wurden. Das israelische Militär gab an, auf Tunnel und eine unterirdische Kommandozentrale gezielt zu haben, die von bewaffneten Gruppen benutzt wurden, präsentierte aber keine Details, um diese Behauptung zu belegen.

Am 13. Juli antwortete der Sprecher der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte auf einen Brief von Human Rights Watch vom 4. Juni, in dem wir unsere Erkenntnisse zu den oben genannten Fällen zusammengefasst und um spezifische Informationen gebeten hatten. Das israelische Militär sagte unter anderem, dass es „ausschließlich militärische Ziele angreift, nachdem es zu der Einschätzung gelangt, dass mögliche Kollateralschäden des Angriffs im Verhältnis zum erwarteten militärischen Vorteil nicht übermäßig groß sind, ... koordinierte Anstrengungen unternimmt, um den Schaden für unbeteiligte Personen zu reduzieren [und] bei vielen der Angriffe [im Mai] ... wenn möglich ... Zivilisten, die sich innerhalb militärischer Ziele befanden, vorab gewarnt hat.“ Das Militär sagte auch, dass es eine Reihe von Angriffen, die während der Mai-Kämpfe stattfanden, untersuche, um festzustellen, ob hierbei die eigenen „Regeln verletzt wurden“.

Human Rights Watch beantragte am 30. Mai die Erlaubnis für leitende Human Rights Watch-Forscher*innen, in den Gazastreifen einzureisen, um weitere Untersuchungen der Kampfhandlungen durchzuführen. Die israelischen Behörden lehnten den Antrag am 26. Juli ab. Seit 2008 wird internationalen Mitarbeiter*innen von Human Rights Watch der Zugang zum Gazastreifen verwehrt, mit Ausnahme eines einzigen Besuchs im Jahr 2016. Israels Verbündete sollten darauf drängen, dass Menschenrechtsorganisationen Zugang zum Gazastreifen erhalten, um die Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen und zu dokumentieren.

Israels Partner, insbesondere die Vereinigten Staaten, die beträchtliche Militärhilfe leisten und deren in den USA hergestellte Waffen in mindestens zwei der von Human Rights Watch untersuchten Angriffe eingesetzt wurden, sollten künftige Sicherheitshilfen für Israel davon abhängig machen, ob es konkrete und überprüfbare Maßnahmen ergreift, um die Einhaltung des Kriegsrechts und der internationalen Menschenrechte zu verbessern und frühere Verstöße zu untersuchen.

Human Rights Watch recherchiert ebenfalls zu Raketenangriffen bewaffneter palästinensischer Gruppen, die zwischen dem 10. und 21. Mai unrechtmäßig Zivilist*innen in Israel und Gaza getötet haben und wird darüber gesondert berichten. In diesem Zeitraum schlugen nach Angaben des israelischen Militärs mehr als 3.680 Raketen in Israel ein. Da diese Raketen keine Leitsysteme haben, sind Angriffe von Natur aus willkürlich, wenn die Raketen auf Gebiete mit Zivilist*innen gerichtet sind.

Das israelische Militär sagte, unter den Opfern palästinensischer Raketen- und Mörserangriffe sei auch der fünfjährige Ido Abigail gewesen, der bei einem Angriff in Sderot am 12. Mai getötet wurde, ebenso wie Khalia Awad, 52, und seine Tochter Nadine, 16, beides palästinensische Staatsbürger*innen Israels, die am 12. Mai im Dorf Dahmash getötet wurden. Gershon Franco, 55, sei am 15. Mai in Ramat Gan von einer Rakete getötet worden, als er aus gesundheitlichen Gründen keinen Luftschutzkeller erreichen konnte, nachdem Sirenen erklangen.

Nach humanitärem Völkerrecht oder Kriegsrecht dürfen Kriegsparteien ausschließlich militärische Ziele angreifen. Sie müssen alle möglichen Vorkehrungen treffen, um den Schaden für die Zivilbevölkerung so gering wie möglich zu halten, unter anderem durch effektive Warnungen vor entsprechenden Angriffen. Vorsätzliche Angriffe auf Zivilist*innen und zivile Objekte sind verboten. Das Kriegsrecht verbietet zudem wahllose Angriffe, wie etwa solche, bei denen nicht zwischen zivilen und militärischen Zielen unterschieden wird oder die nicht auf ein militärisches Ziel abzielen. Verboten sind auch Angriffe, bei denen der zu erwartende Schaden für Zivilist*innen und ziviles Eigentum unverhältnismäßig zum erwarteten militärischen Vorteil sind. Personen, die schwere Verstöße gegen das Kriegsrecht mit krimineller Absicht - also vorsätzlich oder fahrlässig - begehen, machen sich Kriegsverbrechen schuldig.

Am 12. Mai teilte die Anklagebehörde des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) mit, dass sie die Situation in Gaza beobachtet. Das Büro des Chefanklägers sollte israelische Angriffe in Gaza in seine Untersuchung zu Palästina einbeziehen, die offensichtlich unrechtmäßig zu zivilen Opfern führten, ebenso wie palästinensische Raketenangriffe, die Ballungszentren in Israel trafen.

Die Angriffe im Mai, wie auch die in den Jahren 2008, 2012, 2014, 2018 und 2019, fanden inmitten der umfassenden Abriegelung des Gazastreifens durch Israel statt, die 2007 begann. Human Rights Watch hat zudem die diskriminierenden Bemühungen dokumentiert, Palästinenser*innen aus ihren Häusern im besetzten Ost-Jerusalem zu vertreiben – eine Politik und Praxis, bei der die israelische Regierung die Verbrechen gegen die Menschlichkeit der Apartheid und Verfolgung begeht.

Am 27. Mai setzte der UN-Menschenrechtsrat eine Untersuchungskommission ein, die sich mit den Übergriffen und Menschenrechtsverletzungen in den besetzten palästinensischen Gebieten und in Israel befassen soll, unter anderem durch die Förderung der Rechenschaftspflicht für die Verantwortlichen und der Gerechtigkeit für die Opfer. Die Kommission sollte unrechtmäßige Angriffe untersuchen, die von israelischen Streitkräften und bewaffneten palästinensischen Gruppen während der Kämpfe im Mai begangen wurden. Sie sollte auch den größeren Kontext analysieren, einschließlich der diskriminierenden Behandlung von Palästinenser*innen durch die israelische Regierung. Die Ergebnisse der Kommission sollten mit dem Chefankläger des ICC und anderen glaubwürdigen Justizbehörden, die die Situation untersuchen, geteilt werden, sagte Human Rights Watch.

Justizbehörden in anderen Ländern sollten auch gegen diejenigen, die glaubhaft in schwere Verbrechen in den besetzten palästinensischen Gebieten und in Israel verwickelt sind, nach dem Prinzip der universellen Gerichtsbarkeit ermitteln und sie gemäß der jeweiligen nationalen Gesetzen strafrechtlich verfolgen. Ferner sollten die Regierungen eine entschiedene politische Erklärung unterstützen, die den Schaden thematisiert, den Explosivwaffen bei Zivilist*innen verursachen, und welche die Staaten dazu verpflichtet, den Einsatz von Waffen mit großflächiger Wirkung in bewohnten Gebieten zu vermeiden.

„Israel und die palästinensischen Behörden haben bislang wenig bis gar kein Interesse daran gezeigt, sich mit den Menschenrechtsverletzungen durch ihre Streitkräfte zu befassen, daher sollten globale und nationale Rechtsinstitutionen aktiv werden, um den Teufelskreis von unrechtmäßigen Angriffen und Straflosigkeit bei Kriegsverbrechen zu durchbrechen“, sagte Simpson. „Diese Untersuchungen sollten auch den größeren Kontext einbeziehen, einschließlich der erdrückenden Abriegelung des Gazastreifens durch die israelische Regierung und ihrer Verbrechen der Apartheid und Verfolgung von Millionen Palästinenser*innen.“

 

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