(Almaty) – Nach ungelösten Arbeitskämpfen im Jahr 2011 hat Kasachstan ein neues Gewerkschaftsgesetz eingeführt, das die Bildung unabhängiger Gewerkschaften deutlich erschwert, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Änderungen im Arbeitsrecht und im Strafgesetzbuch tragen ebenfalls zu einem feindlichen Klima für engagierte Arbeitnehmer bei.
Der 69-seitige Bericht „‘We Are Not The Enemy’: Violations of Workers’ Rights in Kazakhstan“ zeigt die massiven rechtlichen und praktischen Hürden auf, die kasachische Arbeitnehmer überwinden müssen, um sich zu organisieren und ihre Interessen am Arbeitsplatz zu verteidigen. Human Rights Watch befragte mehr als 50 Gewerkschaftsführer, Arbeiteraktivisten und Arbeitnehmer aus den wichtigsten Branchen. Der Bericht dokumentiert Belästigungen, Überwachungsmaßnahmen und einige fadenscheinige Ermittlungsverfahren und Entlassungen, mit denen die Betroffenen augenscheinlich für ihr Engagement bestraft werden sollen. Die kasachische Regierung soll die Einschränkungen der Arbeitnehmerrechte und der Möglichkeiten für Arbeiter, sich zu organisieren, unverzüglich aufheben.
„Handlungsfähige Gewerkschaften sind ein wichtiger Teil demokratischer Gesellschaften, die auf der Achtung der Menschenrechte basieren. Und sie sind wesentlich dafür, dass die Rechte von Arbeitnehmern und ihre Interessen am Arbeitsplatz verteidigt werden können“, so Mihra Rittmann, Expertin für Europa und Zentralasien von Human Rights Watch. „Das Gewerkschaftsgesetz aus dem Jahr 2014 ist ein bewusster Versuch, die Handlungsspielräume unabhängiger Gewerkschaften und das Recht von Arbeitnehmern, sich zu organisieren, einzuschränken.“
Kasachstan stellt sich als Regionalmacht dar und sucht nach Möglichkeiten, internationale Aufmerksamkeit zu erhalten. Im Juni 2016 erhielt das Land einen nicht-ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat, den es ab dem 1. Januar 2017 innehaben wird. Es ist außerdem eine wichtige, regionale Drehscheibe für ausländische Investitionen in die Öl-Industrie und andere Sektoren.
Kasachstan sollte es zu einer Priorität machen, internationale Standards im Bereich Arbeitsrecht zu gewährleisten, insbesondere die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit von Arbeitnehmern.
Nach ungelösten Arbeitskämpfen im Westen des Landes, die im Dezember 2011 mit Ausschreitungen endeten, bei denen mindestens ein Dutzend Menschen in der Öl-Stadt Zhanaozen starben, kündigte die Regierung an, sie wolle die Beziehungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern verbessern und „Gewerkschaftsinstitutionen modernisieren“.
Aber statt die Arbeitsbeziehungen zu verbessen, führte das neue Gewerkschaftsgesetz schwer erfüllbare Registrierungsanforderungen für Gewerkschaften ein und schreibt neuen Gewerkschaften vor, sich an bestehende, übergeordnete Organisationen anzugliedern. Diese Vorschriften stehen im scharfen Widerspruch zum international garantierten Recht von Arbeitnehmern, sich frei zu organisieren. Außerdem führte die Regierung im Jahr 2015 ein neues Arbeitsgesetzbuch ein, das das Recht von Arbeitnehmern auf Tarifverhandlungen einschränkt, genau wie ihr Recht zu streiken.
Erlan Baltabai, ein führender Gewerkschafter in der Ölindustrie aus Shymkent im Süden Kasachstans, berichtete, dass an seinem Arbeitsplatz seit Januar 2012 Druck auf Gewerkschafter ausgeübt wird, kurz nachdem er zum Vorsitzenden gewählt wurde: „Vorarbeiter fingen an, Arbeiter einzuschüchtern und Druck auf sie auszuüben: ‚Tritt nicht der Gewerkschaft bei, sonst bekommst du Probleme. Wir können dich entlassen oder etwas anderes finden, was gegen dich spricht‘.“
Zahlreiche Aktivisten und Arbeiter schilderten, dass sie bei normalen Gewerkschaftsaktivitäten von Sicherheitsdiensten überwacht wurden.
Larisa Kharkova, Präsidentin des Bundes der Unabhängigen Gewerkschaften in der Republik Kasachstan (KNPRK), berichtete, dass auch sie von den Behörden überwacht wurde, etwa bei einer Reise nach West-Kasachstan im März 2016. „In Aktau war ich Tag und Nacht [von Sicherheitsdiensten] umgeben“, sagte sie. „Ich ging zu einem Treffen mit den [Gewerkschafts-] Leuten - wir saßen zusammen, redeten, und wir sahen, wie [Sicherheitsagenten] ankamen und uns fotografierten.“
Ein Human Rights Watch-Mitarbeiter wurde in ähnlicher Weise überwacht, als er für den Bericht recherchierte.
„Dosym D.“, ein Arbeiteraktivist aus Zentralkasachstan, dessen richtiger Name zum Schutz vor Vergeltungsmaßnahmen nicht veröffentlicht gemacht wird, berichtete, dass er zur Polizeistation bestellt wurde und Polizisten ihn einzuschüchtern versuchten, indem sie eine offene Akte über ihn zeigten. „Was mich überrascht hat, das ist, dass das Polizisten aus der [Abteilung zur] Extremismusbekämpfung waren“, sagt er. „Ich wüsste gerne, welche meiner Handlungen extremistisch sein sollen!“
Kasachstan hat den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte ratifiziert, der das Streikrecht und das Recht schützt, Gewerkschaften sowie nationale und internationale Gewerkschaftsbünde zu gründen und ihnen beizutreten.
Außerdem ist Kasachstan ein Mitglied der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und hat alle ihrer acht Grundsatz-Konventionen ratifiziert, auch Konvention 87 aus dem Jahr 1948 über die Vereinigungsfreiheit und Konvention 98 aus dem Jahr 1949 über die Koalitionsfreiheit. Konvention 87 besagt, dass alle Arbeitnehmer das Recht haben, ohne vorherige Genehmigung Organisationen ihrer Wahl zu gründen und ihnen - entsprechend der Regeln dieser Organisation - beizutreten.
In den Jahren 2015 und 2016 kritisierte die Internationale Arbeitskonferenz, das höchste Entscheidungsgremium der ILO, Kasachstan massiv für die Einschränkungen, die das Gewerkschaftsgesetz etabliert hat. Im Juni 2015 rief das ILO-Komitee über die Umsetzung von Standards die Regierung dazu auf, die Vorschriften des Gewerkschaftsgesetzes aus dem Jahr 2014 so zu überarbeiten, dass sie der Konvention entsprechen. Kasachstan hat das Gesetz nicht überarbeitet.
Die Regierung von Kasachstan soll das Gewerkschaftsgesetz unverzüglich reformieren, genauso das Arbeitsrecht und das Strafgesetzbuch, so dass diese im Einklang mit den ILO-Konventionen und internationalen Menschenrechtsstandards stehen. In Kasachstan tätige Unternehmen und die Behörden des Landes sollen gewährleisten, dass Arbeitnehmer nicht bestraft und belästigt werden, weil sie sich für Gewerkschaften engagieren.
Die wichtigsten Wirtschaftspartner von Kasachstan, insbesondere die Europäische Union, ihre Mitgliedstaaten und die USA, sollen die Regierung im Rahmen ihrer Dialog-Gespräche dazu auffordern, das Arbeitsrecht zu reformieren.
„Kasachische Arbeitnehmer haben das Recht, sich zu organisieren und ihre Interessen zu vertreten, ohne Belästigungen und Racheakte fürchten zu müssen“, so Rittmann. „Wenn Kasachstan einen wichtigen Platz in der Weltpolitik einnehmen möchte, soll es den Schlussfolgerungen der ILO folgen, seine internationalen, menschenrechtlichen Verpflichtungen erfüllen und Gesetze und Maßnahmen sofort revidieren, die Rechte verletzen.“