- Auf welcher Grundlage verhandeln europäische Gerichte schwere Verbrechen, die in Syrien und im Irak begangen wurden? Was ist das Weltrechtsprinzip?
- Bedeutet das Weltrechtsprinzip, dass jedes Land alle schweren Völkerrechtsverbrechen untersuchen kann, die in Syrien und im Irak begangen wurden?
- Was für Verfahren wegen schwerer Verbrechen in Syrien und im Irak wurden in Europa eröffnet?
- Welche Probleme bestehen bei den europäischen Prozessen zu Verbrechen in Syrien und im Irak und wie können sie verbessert werden?
- Was hat das mit den Terrorismus-Fällen vor europäischen Gerichten zu tun?
- Welche Bedeutung haben die Verfahren gegen Kriegsverbrecher aus Syrien und dem Irak, bei denen das Weltrechtsprinzip angewandt wird?
- Warum werden seit kurzem mehr Kriegsverbrecher aus Syrien und dem Irak in Europa vor Gericht gestellt?
- Heißt das, dass sich unter den Asylsuchenden zahlreiche Kriegsverbrecher verbergen? Gibt es Grund zur Sorge?
- Was sagt das Asylrecht zu Asylsuchenden, die schwerer Völkerrechtsverbrechen verdächtig sind?
- Wie können Personen identifiziert werden, die schwerer Verbrechen verdächtig sind?
- Welche Rolle spielt die syrische und die irakische Diaspora, die nun in Europa existiert?
- Müssen europäische Länder Personen ermitteln und verfolgen, die schwerer Verbrechen in Syrien und im Irak verdächtig sind?
- Vor welchen Herausforderungen stehen europäische Gerichte, die in schweren Verbrechen ermitteln, die in Syrien oder im Irak verübt wurden?
- Wie versuchen europäische Staaten, mit diesen Herausforderungen umzugehen?
- Welche Rolle spielen die verschiedenen Stellen, die schwere Verbrechen in Syrien und im Irak dokumentieren?
- Könnte Baschar al-Assad unter dem Weltrechtsprinzip strafrechtlich verfolgt werden?
- Wie kann auf lange Sicht in Syrien und im Irak Gerechtigkeit hergestellt werden?
- Wie ist die Situation in Syrien und im Irak?
- Sind Verbrechen in Syrien und im Irak die einzigen, die unter dem Weltrechtsprinzip verhandelt werden?
In einigen europäischen Ländern finden derzeit wegweisende Ermittlungen und Strafverfahren gegen Personen statt, denen Folter, Gewalt und Entführungen in Syrien und im Irak vorgeworfen werden. Möglich werden diese Verfahren, weil sowohl Opfer als auch Verdächtige als Asylsuchende nach Europa gekommen sind.
Die Verfahren sind die ersten Schritte dahin, dass Verbrechen in den betreffenden Ländern nicht länger straffrei bleiben. Sie stellen die ersten glaubwürdigen Versuche dar, diejenigen zur Verantwortung zu ziehen, die in den aktuellen Konflikten in Syrien und im Irak die Zivilbevölkerung terrorisieren. Außerdem zeigen die Verfahren, dass schwere Verbrechen die Menschheit insgesamt betreffen und auch dann verfolgt werden können, wenn die Täter ins Ausland fliehen.
Diese „Fragen und Antworten“ erläutern, wie und warum europäische Gerichte Verbrechen verhandeln können, die in Syrien und im Irak verübt wurden; welche Bedeutung es hat, dass einige mutmaßliche Kriegsverbrecher nach Europa geflohen sind; und warum es wichtig ist, sie zu identifizieren, die Vorwürfe gegen sie zu untersuchen und sie, sofern die Beweislage es zulässt, vor Gericht zu bringen, obwohl die Verbrechen Tausende Kilometer entfernt verübt wurden.
Nach den erschreckenden Anschlägen in Frankreich, Belgien und Deutschland konzentrieren sich die europäischen Strafverfolgungsbehörden darauf, Personen zu identifizieren und zu verfolgen, die möglicherweise ähnliche Taten planen. Das ist ebenfalls wichtig, unterscheidet sich aber grundlegend davon, die Verbrechen zu untersuchen, die in Syrien und im Irak begangen wurden.
1. Auf welcher Grundlage verhandeln europäische Gerichte schwere Verbrechen, die in Syrien und im Irak begangen wurden? Was ist das Weltrechtsprinzip?
Nationale Gerichte sind grundsätzlich befugt, in Verbrechen zu ermitteln, die einen nationalen Bezug haben. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn das Verbrechen im Gerichtsland verübt wurde (Territorialitätsprinzip) oder wenn der Verdächtige oder das Opfer ein Staatsangehöriger dieses Landes ist (Täter- bzw. Opferprinzip).
Allerdings können nationale Gerichte bei bestimmten, klar definierten Verbrechen auch dann tätig werden, wenn es keinen direkten Bezug zum Land gibt. Darunter fallen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Folter, Völkermord, Piraterie, Angriffe auf Mitarbeiter der Vereinten Nationen und erzwungenes „Verschwindenlassen“. Auch, wenn sie im Ausland verübt wurden und sowohl die Täter als auch die Opfer Ausländer sind, können nationale Gerichte diese Verbrechen untersuchen und Strafverfahren einleiten, weil sie so schwer wiegen, dass es im Interesse der Menschheit insgesamt ist, dass sie geahndet werden.
Dieser völkerrechtliche Grundsatz wird als Weltrechtsprinzip bezeichnet. Obwohl es schon seit sehr langer Zeit existiert, haben nationale Gerichte bis vor wenigen Jahren kaum von ihm Gebrauch gemacht.
Internationale Verträge verpflichten alle Staaten, die sie ratifiziert haben, dazu, das Weltrechtsprinzip anzuwenden bei Kriegsverbrechen, die in einem internationalen, bewaffneten Konflikt verübt wurden (Genfer Konventionen aus dem Jahr 1949), beim Verbrechen der Apartheid (Anti-Apartheid-Konvention aus dem Jahr 1973), bei Folter (Antifolterkonvention aus dem Jahr 1984) und bei erzwungenem „Verschwindenlassen“ (Konvention gegen Verschwindenlassen aus dem Jahr 2006). Die Abkommen verpflichten die Vertragsstaaten dazu, Verdächtige, die sich in ihrem Hoheitsgebiet befinden, „auszuliefern oder gegen sie zu ermitteln“. Außerdem ist es allgemein anerkannt, dass das Völkergewohnheitsrecht es zulässt, das Weltrechtsprinzip auch bei Verbrechen anzuwenden, die die internationale Staatengemeinschaft als besonders grausam klassifiziert, etwa bei Kriegsverbrechen in einem nationalen, bewaffneten Konflikt, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord.
Einige europäische Staaten, darunter Deutschland, Frankreich und Schweden, wenden das Weltrechtsprinzip an, um Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord in Syrien und im Irak zu untersuchen.
Prinzipiell wäre es wünschenswert, dass in den Ländern Recht gesprochen wird, in denen die Verbrechen begangen wurden. Aber das ist oft nicht möglich. Wenn das Weltrechtsprinzip angewandt wird, reduziert es die „sicheren Rückzugsorte“, an denen Täter straffrei leben können, und zeigt deutlich, wie schwer ihre Verbrechen wiegen.
2. Bedeutet das Weltrechtsprinzip, dass jedes Land alle schweren Völkerrechtsverbrechen untersuchen kann, die in Syrien und im Irak begangen wurden?
Nein, denn nicht alle Staaten haben das Völkerrecht und das Weltrechtsprinzip in ihre nationale Gesetzgebung übernommen. In manchen Ländern kann das Weltrechtsprinzip auf bestimmte Verbrechen angewandt werden, aber nicht auf andere. Auch die Zeitpunkte, ab denen Völkerrechtsverstöße in den Zuständigkeitsbereich nationaler Gerichte fallen können, variieren.
Die Weltrechtsgesetze in den meisten Ländern ermöglichen, das Prinzip anzuwenden, wenn sich der Verdächtige im Hoheitsgebiet des Gerichtslandes aufhält. Gesetze in Frankreich, Großbritannien und Spanien schreiben darüber hinaus vor, dass die betreffende Person eine Aufenthaltsgenehmigung haben muss, damit nationale Gerichte gegen sie wegen im Ausland verübten Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ermitteln können.
Deutschland und Norwegen sind die einzigen europäischen Länder, die das Weltrechtsprinzip ohne Einschränkungen bei Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit undVölkermord anwenden können - das heißt, in diesen beiden Ländern ist gar kein nationaler Bezug erforderlich. Allerdings verfügen die Staatsanwaltschaften über einen breiten Ermessensspielraum bei der Entscheidung, gegen Verdächtige zu ermitteln, die sich nicht im Land befinden. Entsprechend konzentrieren sich auch Deutschland und Norwegen in der Praxis auf Verdächtige, die sich in ihrem Hoheitsgebiet aufhalten.
3. Was für Verfahren wegen schwerer Verbrechen in Syrien und im Irak wurden in Europa eröffnet?
Mehrere europäische Länder untersuchen derzeit schwere Völkerrechtsverbrechen, die in Syrien und im Irak verübt wurden. Die meisten Verfahren richten sich gegen Verdächtige, die sich in ihrem Hoheitsgebiet aufhalten.
Beim ersten europäischen Prozess gegen einen Kriegsverbrecher aus Syrien sprach ein Stockholmer Gericht im Februar 2015 den syrischen Staatsbürger Mohannad Droubi der Folter als Kriegsverbrechen schuldig. Droubi, der im Jahr 2013 eine Aufenthaltsgenehmigung in Schweden erhielt, kämpfte in der Freien Syrischen Armee und wurde beschuldigt, einen Mann misshandelt zu haben, der angeblich Beziehungen zu den syrischen Streitkräften unterhielt. In diesem Fall wurde Folter eines Gefangenen als Kriegsverbrechen eingestuft. Droubi hatte ein Video des Übergriffs auf Facebook veröffentlicht. Seine fünfjährige Gefängnisstrafe wurde vor kurzem bei einem Wiederaufnahmeverfahren auf acht Jahre erhöht.
Im März 2016 verhaftete die schwedische Polizei ein anderes Mitglied einer bewaffneten Gruppe in Syrien, das im Jahr 2013 nach Schweden gekommen war, wegen des Verdachts auf Kriegsverbrechen. Der Mann soll an der von Kampfhandlungen unabhängigen Ermordung von sieben syrischen Soldaten im Jahr 2012 im Gouvernement Idlib im Nordwesten Syriens beteiligt gewesen sein. Der Prozess soll in diesem Jahr beginnen.
Ein anderer syrischer Staatsbürger stand im Februar in Stockholm vor Gericht, nachdem Fotos von ihm in Internet auftauchten, auf denen er in einer Militäruniform auf Leichen in Zivilkleidung steht. Er gab zu, für die syrischen Streitkräfte gearbeitet zu haben, stritt aber ab, sich an Kampfhandlungen beteiligt zu haben. Das Verfahren wurde schließlich aus Mangel an eindeutigen Beweisen und Zeugen fallen gelassen.
In Deutschland wurden nach Angaben der Polizei bereits 13 Ermittlungsverfahren mit Bezug zu Syrien eröffnet. Zusätzlich wurde ein „Strukturverfahren“ zu Syrien eingeleitet. Dabei handelt es sich um breit angelegte Ermittlungen ohne konkrete Tatverdächtige, in deren Zuge in Deutschland verfügbare Beweise gesammelt werden, um zukünftige Strafverfahren vor deutschen oder anderen Gerichten zu ermöglichen. Mindestens zwei syrische Staatsbürger, die Angehörige bewaffneter Gruppen waren, befinden sich in Deutschland wegen des Verdachts auf Kriegsverbrechen in Haft. Einem von ihnen wird vorgeworfen, im Jahr 2013 einen UN-Beobachter entführt zu haben. Der andere ist der mutmaßliche Kommandant einer Rebellenmiliz in Aleppo. Er soll die Folter mehrerer Gefangener übersehen und mindestens zwei Personen selbst misshandelt haben.
In Frankreich haben die Staatsanwälte der Pariser Abteilung für Kriegsverbrechen im September 2015 eine vorläufige Untersuchung von Verbrechen der syrischen Regierung eingeleitet, die auf einer Sammlung von Fotos toter, syrischer Häftlinge beruht. Diese hatte ein Überläufer außer Landes geschmuggelt, der unter dem Namen Caesar bekannt wurde. Die Fotos enthüllen systematisch organisierte, weit verbreitete Menschenrechtsverletzungen in Gefängnissen der syrischen Regierung, in denen Gefangene gefoltert, ausgehungert, verprügelt und Erkrankungen nicht behandelt werden. Die Staatsanwaltschaft prüft derzeit, ob sie entsprechend der Anforderungen der französischen Gesetzgebung für diese Verbrechen zuständig ist.
Darüber hinaus deuten Medienberichte darauf hin, dass die französischen Einwanderungsbehörden Informationen über mehrere Verdächtige an die Staatsanwaltschaft weitergegeben haben, etwa über einen Überläufer, der an der Folter und Ermordung von Regierungsgegnern in den Jahren 2011 und 2012 beteiligt gewesen sein soll.
Berichten zufolge ermitteln die norwegischen Behörden derzeit gegen 20 ehemalige Angehörige der syrischen Streitkräfte und bewaffneter Gruppen.
Im Jahr 2015 gaben niederländische Behörden bekannt, dass sie zehn Syrer in ihrem Hoheitsgebiet identifiziert haben, die unter dem Verdacht stehen, schwere Völkerrechtsverstöße begangen zu haben. Gegen sie wird derzeit ermittelt.
Die schweizerische Bundesanwaltschaft eröffnete im August 2016 ein Strafverfahren wegen Kriegsverbrechen in Syrien.
In Finnland wurden zwei ehemalige irakische Soldaten, Jebbar Salman Ammar and Hadi Habeeb Hilal, eines Kriegsverbrechens schuldig gesprochen. Sie hatten die Leichen von Kämpfern der extremistischen Gruppe Islamischer Staat (ISIS) geschändet. Einer wurde zu 16 Monaten, der andere zu 13 Monaten Haft verurteilt. Beide Männer, die Ende des Jahres 2015 nach Finnland gekommen waren, hatten Fotos von sich auf Facebook veröffentlicht, auf denen sie abgetrennte Köpfe in den Händen hielten. Es war nicht möglich, festzustellen, ob sie die Kämpfer getötet hatten, und unter welchen Umständen. Außerdem wurden zwei Brüder, die ISIS angehörten und im September 2015 in Finnland angekommen waren, verhaften, weil sie unter Verdacht stehen, elf unbewaffnete irakische Soldaten bei einem Massaker in der irakischen Stadt Tikrit im Juni 2014 hingerichtet zu haben.
Mit all diesen Verfahren haben europäische, nationale Gerichte wichtige, erste Schritte unternommen, um die Verantwortlichen für Gräueltaten in Syrien und im Irak zur Rechenschaft zu ziehen. Weitere Länder sollten gegen Verdächtige in ihrem Hoheitsgebiet ermitteln und - wenn die Beweislage es zu lässt - Strafverfahren einleiten. Möglicherweise werden derzeit weitere Verfahren vorbereitet, zu denen noch keine Informationen öffentlich zugänglich sind.
4. Welche Probleme bestehen bei den europäischen Prozessen zu Verbrechen in Syrien und im Irak und wie können sie verbessert werden?
Da es in Bezug auf Syrien derzeit keine Alternative gibt, weckt die Anwendung des Weltrechtsprinzips große Erwartungen. Unabhängig davon, dass die ersten Fälle sehr wichtig sind und auch andere Länder dringend ihre Weltrechtsgesetze anwenden sollten, haben die Verfahren Grenzen. Die aktuelle Rechtslandschaft könnte gestärkt werden und noch mehr dazu beitragen, dass schwere Verbrechen in Syrien und im Irak geahndet werden.
Da es in vielen Fällen unmöglich ist, dorthin zu reisen, wo die Verbrechen verübt wurden, und auch die Regierungen auf juristischer Ebene nicht zusammenarbeiten, ist es für europäische Ermittler und Staatsanwälte oft schwierig, ausreichend Beweise für eine Anklageerhebung zusammenzutragen. Zum Beispiel gibt es den Justizbehörden der Regionen Kurdistan im Irak und der irakischen Zentralregierung zufolge keine vertragliche Basis für eine juristische Zusammenarbeit mit europäischen Behörden in Weltrechtsverfahren.
Außerdem ist es unwahrscheinlich, dass hochrangige Beamte oder Militärangehörige nach Europa kommen, und einige würden strafrechtliche Immunität genießen. Wegen der Anwesenheitspflicht bei Verfahren und, weil sich Staatsanwaltschaften derzeit darauf konzentrieren, gegen Personen in ihrem Hoheitsgebiet zu ermitteln, ist es anzunehmen, dass sich Weltrechtsfälle weiterhin auf Verdächtige aus den niedrigeren und mittleren Verantwortungsebenen beschränken werden.
Allerdings sollten europäische Staatsanwaltschaften ausloten, wie sie auch gegen Verdächtige aus den Führungsebenen vorgehen können, die sich nicht notwendigerweise in ihrem Hoheitsgebiet aufhalten. Das wäre möglich, wenn das Opfer ein Staatsbürger des ermittelnden Landes ist, oder unter dem Prinzip der Befehlsverantwortung, nach dem militärisches und ziviles Führungspersonal für Verbrechen seiner Untergebenen zur Rechenschaft gezogen werden kann, wenn es diese nicht verhindert, beendet oder bestraft.
Darüber hinaus sollten europäische Staatsanwaltschaften erwägen, gegen diejenigen zu ermitteln und sie - wenn die Beweislage es zulässt - anzuklagen, die Verbrechen in Syrien und im Irak unterstützen. In Frankreich wurde zum Beispiel eine strafrechtliche Untersuchungen des französischen Unternehmens Qosmos eingeleitet, weil dieses Überwachungsequipment an die syrische Regierung verkauft hat, das dieser mutmaßlich ermöglicht, Personen zu verhaften und anschließend zu foltern.
Die meisten Verfahren, in denen das Weltrechtsprinzip bislang angewandt wurde, richteten sich gegen Angehörige oppositioneller bewaffneter Gruppen in Syrien oder islamistischer Gruppen wie ISIS. Das hat höchstwahrscheinlich keine politischen Gründe, sondern hängt damit zusammen, welche Informationen für europäische Staatsanwaltschaften zugänglich sind. Nichtsdestotrotz reflektieren die europäischen Verfahren die umfangreichen Gräueltaten der syrischen Regierung gegen die Zivilbevölkerung nicht angemessen.
Immer, wenn es möglich ist, sollten Staatsanwaltschaften Anklagen erheben, die die Schwere der Verbrechen angemessen repräsentieren. In einigen Fällen wird den Verdächtigen vorgeworfen, einer als „terroristisch“ eingestuften, bewaffneten Gruppe in Syrien oder im Irak anzugehören, ohne dass dabei geklärt wird, ob sie schwere Verbrechen begangen haben, bei denen es sich um Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit handeln könnte. Verstöße gegen Anti-Terror-Gesetze sind zwar einfacher zu untersuchen und festzustellen, aber solche Verfahren berücksichtigen die Schwere der Verbrechen in Syrien und im Irak und ihre verheerenden Folgen für die Zivilbevölkerung nicht ausreichend.
Abteilungen, die Kriegsverbrechen untersuchen, sollten Strafverfolgungsstrategien anwenden, die repräsentativere Verfahren ermöglichen, sowohl in Hinblick auf deren Zielpersonen als auch auf die Anklagepunkte. So könnten sie besonders bedeutsame Beiträge dazu leisten, dass Verbrechen in Syrien und im Irak geahndet werden.
5. Was hat das mit den Terrorismus-Fällen vor europäischen Gerichten zu tun?
Angesichts der schweren Anschläge, die seit Januar 2015 Dutzenden Menschen in Frankreich, Belgien und Deutschland das Leben gekostet haben, konzentrieren sich Strafverfolgungsbehörden und Staatsanwaltschaften überall in Europa verständlicherweise auf Terrorismus-Fälle. Diese Ermittlungen und Verfahren betreffen vor allem Personen, die möglicherweise Anschläge in Europa, nicht im Ausland, planen. Derzeit laufen zahlreiche Verfahren gegen europäische Staatsbürger, die nach Syrien oder in den Irak gereist sind oder es versucht haben, um mit extremistischen Gruppen zu kämpfen, und die nun in ihre Heimatländer zurückgekehrt sind.
Bis heute wurde die große Mehrzahl der Anschläge in Europa nicht von Asylsuchenden verübt, sondern von europäischen Staatsbürgern oder dauerhaften Anwohnern. Unabhängig von ihrer Herkunft und ihren individuellen Hintergründen sollten diejenigen vor Gericht gestellt werden, die Anschläge in Europa planen oder verüben.
6. Welche Bedeutung haben die Verfahren gegen Kriegsverbrecher aus Syrien und dem Irak, bei denen das Weltrechtsprinzip angewandt wird?
Die Weltrechtsverfahren vor europäischen Gerichte eröffnen den Opfern von Gräueltaten ein kleines Fenster zur Gerechtigkeit. Da ihnen alle anderen Wege versperrt sind, sind diese Verfahren die einzige verfügbare Möglichkeit, in einem begrenzten Rahmen Gerechtigkeit herzustellen. Nationale Gerichte in Syrien funktionieren nicht überall, sind nicht unabhängig und glaubwürdig, und bei Verfahren im Irak bestehen gravierende Probleme.
Nachdem die Zivilbevölkerungen in Syrien und im Irak jahrelang Gräueltaten ausgesetzt waren, die das Völkerrecht, das humanitäre Völkerrecht und die Menschenrechte verletzt haben, erinnern die europäischen Verfahren daran, dass diejenigen, die ihre völkerrechtlichen Pflichten verletzen, mit Konsequenzen rechnen müssen. Sie vermitteln die Botschaft, dass die Verantwortlichen für schwere Verbrechen für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen werden können und dass die Zahl der Orte schrumpft, an die sie fliehen können, ohne mit Verfolgung rechnen zu müssen.
Weder Syrien noch der Irak gehören dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) an. Die Europäische Union und ihre 28 Mitgliedsstaaten haben den UN-Sicherheitsrat mehrfach dazu aufgerufen, die Situation in Syrien an den IStGH zu verweisen. Die irakische Regierung haben sie aufgefordert, dem IStGH die Zuständigkeit zu übertragen und das Römische Statut zu ratifizieren, um ein IStGH-Mitgliedsstaat zu werden, zum Beispiel mit der „EU-Regionalstrategie für Syrien und Irak sowie zur Bewältigung der Bedrohung durch ISIL/Da'esh“, die die Außenminister im März 2015 angenommen haben. Allerdings folgen weder die EU noch ihre Mitgliedsstaaten ihren eigenen Forderungen konsequent, insbesondere mit Blick darauf, dass Druck von oberster Stelle erforderlich ist, um die irakische Regierung dazu zu bewegen, dem IStGH als letzter, gerichtlicher Instanz bei schwersten Verbrechen beizutreten. Russland und China haben eine Resolution des UN-Sicherheitsrats blockiert, mit der der IStGH mit Ermittlungen in Syrien betraut werden sollte.
Die europäischen Verfahren sind in ihrer Zahl und ihrem Umfang begrenzt. Aber sie vermitteln den syrischen und irakischen Opfern ein wenig Hoffnung darauf, dass nationale Gerichte in Ländern, die Geflüchtete aufnehmen, Gerechtigkeit ermöglichen können. Darüber hinaus sichern nationale Ermittlungen unter dem Weltrechtsprinzip Beweise, die in zukünftigen Verfahren vor internationalen oder nationalen Gerichten verwendet werden können.
Verfahren unter dem Weltrechtsprinzip sind ein wichtiger, erster Schritt, um die Straflosigkeit in Syrien und im Irak zu beenden. Sie unterstreichen, dass schwere Völkerrechtsverstöße bei Friedensverhandlungen nicht beiseitegeschoben werden dürfen und werden ein Schlüsselelement aller zukünftiger Übergangspläne für Syrien und den Irak sein.
7. Warum werden seit kurzem mehr Kriegsverbrecher aus Syrien und dem Irak in Europa vor Gericht gestellt?
In den vergangenen Jahren sind Millionen Menschen aus Kriegsgebieten geflohen, auch aus Syrien und dem Irak. Die große Mehrheit von ihnen sucht in Nachbarländern Schutz, etwa im Libanon, Jordanien und in der Türkei, aber zunehmend mehr Asylsuchende kommen auch nach Europa.
Das bedeutet, dass sich Opfer, Zeugen, materielle Beweise und manchmal auch Verdächtige, die bislang für europäische Ermittler und Staatsanwälte unerreichbar waren, jetzt in europäischen Ländern befinden, die über die erforderlichen Weltrechtsgesetze verfügen. Deshalb können diese Länder nun schwere Völkerrechtsverbrechen in Syrien und im Irak untersuchen.
8. Heißt das, dass sich unter den Asylsuchenden zahlreiche Kriegsverbrecher verbergen? Gibt es Grund zur Sorge?
Die europäischen Gerichtsverfahren zeigen, dass Strafverfolgungsbehörden Hinweise darauf gefunden haben, dass sich einige Personen, die schwerer Völkerrechtsverbrechen verdächtig sind, als Asylsuchende tarnen. Nicht zum ersten Mal kommen sowohl Opfer als auch Verdächtige in europäische Länder. Das gleiche ist nach dem Genozid in Ruanda im Jahr 1994 passiert, und nach den Balkan-Kriegen in den 1990er Jahren.
Allerdings sucht die überwältigende Mehrheit der Menschen, die in den vergangenen Jahren aus Kriegsgebieten nach Europa geflohen sind, aus berechtigten Gründen Schutz vor Verfolgung, grauenhaften Verbrechen und allgemeiner Gewalt.
Es ist angemessen, die Identität von Asylsuchenden zu überprüfen, um Personen zu identifizieren und gegen sie zu ermitteln, die schwerer Verbrechen verdächtig sind. Nur so kann Gerechtigkeit hergestellt werden. Allerdings ist der Umstand, dass sich eine kleine Zahl mutmaßlicher Kriegsverbrecher möglicherweise in Europa aufhält, kein Grund, ganze Gruppen asylsuchender Menschen zu stigmatisieren und darf nicht zu rassistischen und fremdenfeindlichen Reaktionen führen. Die meisten Menschen, die nach Europa kommen, fliehen vor ungeheuerlichen Menschenrechtsverletzungen.
9. Was sagt das Asylrecht zu Asylsuchenden, die schwerer Völkerrechtsverbrechen verdächtig sind?
Unter Artikel 1F des UN-Abkommens über die Rechtsstellung von Flüchtlingen (Flüchtlingskonvention) aus dem Jahr 1951 sind Personen, bei denen der ernste Verdacht besteht, dass sie ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt haben, vom Flüchtlingsschutz ausgenommen.
Artikel 1F gewährleistet, dass sich die Verantwortlichen für schwere Völkerrechtsverstöße nicht ihrer Verfolgung entziehen können, und, dass das Asylsystem nicht missbraucht wird. In einer Erläuterung zu Personen, die von der Flüchtlingskonvention ausgenommen sind, erklärt die Flüchtlingsagentur der Vereinten Nationen (UNHCR):
Wenn der asylgesetzliche Schutz auch auf Verantwortliche für schwere Verbrechen anwendbar wäre, stünde das Prinzip des internationalen Schutzes in direktem Konflikt mit dem nationalen und dem Völkerrecht, und würde dem humanitären und friedlichen Kern des Asyl-Konzepts widersprechen.
Es ist also wichtig, die Identität von Asylsuchenden festzustellen und diejenigen auszuschließen, die schwere Verbrechen begangen haben, um die Integrität des gesamten Asylsystems zu wahren. Gleichzeitig können sich die Aufnahmeländer so sicher sein, dass die Menschen, die sie als Flüchtlinge anerkennen, diesen Status tatsächlich verdienen.
Eine Person unter Artikel 1F vom Asylverfahren auszuschließen, kann für diese schwere Folgen haben und sollte daher nur mit äußerster Vorsicht erfolgen. Artikel 1F bezieht sich nur auf Taten, die eine Person verübt hat, bevor sie in das Land einreist, in dem sie Asyl beantragt. Ob ein schweres Verbrechen begangen wurde, sollte individuell, nicht kollektiv geprüft werden, etwa bei einem Angehörigen einer bewaffneten Gruppe, dem schwere Verbrechen zur Last gelegt werden. Die Verdächtigen sollten die Möglichkeit haben, sich bei einer fairen Anhörung gegen die Vorwürfe zu verteidigen.
10. Wie können Personen identifiziert werden, die schwerer Verbrechen verdächtig sind?
Die Einwanderungsbehörden sind dafür zuständig, mögliche Verdächtige durch angemessen Identitätsfeststellungsverfahren und Verfahren zur Prüfung der Asylberechtigung zu identifizieren.
Wenn sie Asylsuchende befragen, entdecken Beamte Hinweise, die zu weitergehenden Untersuchungen führen. Das könnte zum Beispiel die Anwesenheit eines Verdächtigen an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit sein, zu der ein schweres Verbrechen verübt wurde, oder die Mitgliedschaft in den bewaffneten Streitkräften eines Landes oder in einer Miliz. Die Einwanderungsbehörden können auch bei der Befragung von Opfern und Zeugen wichtige Informationen ermitteln. In Deutschland erhalten syrische Asylsuchende einen Fragebogen, in dem sie auch angeben können, ob sie Kriegsverbrechen in Syrien bezeugen können und, wenn ja, ob sie weitere Informationen haben und die Verantwortlichen benennen können. Diese Fragen zu beantworten ist freiwillig und unabhängig vom Asylverfahren. Wenn sich dieser Ansatz als hilfreich dabei erweist, verwertbare Informationen zu generieren und Zeugen zu identifizieren, könnte er auf Asylsuchende aus dem Irak ausgedehnt werden.
Die Niederlande und Großbritannien haben „IF“-Abteilungen in ihren Einwanderungsbehörden eingerichtet, deren Personal die erforderliche, spezielle Expertise und Erfahrungen entwickelt, um mit diesen Fällen umzugehen, auch, indem es umfangreiche Informationen über die spezifischen Konfliktlagen sammelt.
Die Einwanderungsbehörden können dazu beitragen, dass gegen Verdächtige ermittelt wird, indem sie die nationalen Strafverfolgungsbehörden in Kenntnis setzen und Informationen mit ihnen teilen. In Frankreich hat die Einwanderungsbehörde Berichten zufolge einen ehemaligen Offizier der syrischen Streitkräfte identifiziert, der unter dem Verdacht steht, in den Jahren 2011 und 2012 Folter und Morde verübt zu haben. Die Einwanderungsbehörde der Niederlande gab an, im Jahr 2015 unter 170 Asylbewerbern zehn Verdächtige aus Syrien identifiziert zu haben.
Allerdings sollte die Zusammenarbeit zwischen Einwanderungs- und Strafverfolgungsbehörden die Rechte der Asylsuchenden achten und die Integrität des Asylverfahrens nicht gefährden. Asylsuchende müssen darüber informiert werden, dass ihre Aussagen möglicherweise an andere Regierungsstellen weitergeben werden. Verdächtige sollten rechtliche Unterstützung erhalten und Informationen sollten erst an Strafverfolgungsbehörden weitergeben werden, nachdem ein Asylantrag auf der Basis von Artikel 1F abgelehnt wurde.
11. Welche Rolle spielt die syrische und die irakische Diaspora, die nun in Europa existiert?
Diasporagemeinschaften spielen eine wichtige Rolle dabei, Verdächtige zu identifizieren. Zeugen und Opfer erkennen Verdächtige manchmal wieder. Aktuellen Medienberichten zufolge entdeckte eine kurdische, jesidische Frau auf einem Markt in Baden, Deutschland, einen der Männer, die sie monatelang in einem ISIS-Lager im Irak misshandelt haben, und informierte die Polizei.
Medienberichten zufolge haben nationale Strafverfolgungsbehörden zahlreiche Hinweise von geflüchteten Menschen erhalten. Das deutsche Bundeskriminalamt gab bekannt, dass es täglich 25 bis 30 Hinweise auf Kriegsverbrechen in Syrien erhält, merkte allerdings an, dass die meisten Berichte keine aussagekräftigen Beweise enthalten und möglicherweise nur Gerüchte darstellen. Norwegische Behörden haben in der zweiten Hälfte des Jahres 2015 nach eigener Aussage mehr als 100 Hinweise von Geflüchteten erhalten. Die Schweizer Einwanderungsbehörde erhielt im Jahr 2015 mehr als 400 Hinweise von syrischen Asylsuchenden.
Dass sie mit solchen Informationen zur örtlichen Polizei gehen können, ist Angehörigen von Diasporagemeinschaften nicht unbedingt bewusst, und es ist oft kein leichter Schritt. Viele wissen nicht, dass europäische Gerichte Verbrechen untersuchen können, die in ihren Heimatländern verübt wurden. Nach aufreibenden Reisen nach Europa wollen manche lieber in die Zukunft blicken. Und andere haben unter Umständen Angst davor, dass ihre Aussagen ihr Asylverfahren beeinträchtigen oder Familienangehörige gefährden könnten, die sie zurückgelassen haben. Es ist wichtig, dass die europäischen Behörden mit diesen Ängsten sensibel umgehen. Ebenso zentral ist es, dass Beamte mögliche, rechtliche Szenarien erläutern, um keine unrealistischen Erwartungen zu wecken. Sie sollten Informationen darüber, unter welchen Voraussetzungen das Weltrechtsprinzip angewandt werden kann, an geflüchtete Menschen weitergeben. In den Niederlanden und in Deutschland werden mehrsprachige Flyer in Aufnahmeeinrichtungen verteilt und Asylsuchende dazu ermuntert, wichtige Informationen weiterzugeben.
Auf immer mehr Websites und Facebook-Seiten wird ebenfalls behauptet, Verdächtige seien in Europa identifiziert worden. Die Informationen aus diesen Quellen lassen sich allerdings schwer verifizieren und sollten sehr vorsichtig verwendet werden, da sich hinter ihnen möglicherweise persönliche Motive wie Rache verbergen.
12. Müssen europäische Länder Personen ermitteln und verfolgen, die schwerer Verbrechen in Syrien und im Irak verdächtig sind?
Zwar schließt das internationale Asylrecht schwerer Völkerrechtsverstöße verdächtige Personen aus, aber mit der Ablehnung eines Asylantrags ist die völkerrechtliche Pflicht eines Landes noch nicht erfüllt, bei diesen Verbrechen Gerechtigkeit herzustellen.
In den vergangenen 50 Jahren haben immer mehr Regierungen anerkannt, dass manche Verbrechen so schwer wiegen, dass sie nicht straffrei bleiben dürfen, unabhängig davon, wo sie verübt wurden. Internationale Abkommen und das Völkergewohnheitsrecht verpflichten die internationale Staatengemeinschaft dazu, die Verantwortlichen für schwere Völkerrechtsverstöße zu verfolgen, darunter Folter, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und erzwungenes „Verschwindenlassen“.
Das Weltrechtsprinzips weitet diese Verpflichtung auf Verbrechen aus, die im Ausland verübt wurden, und zwar für alle Länder, die die Abkommen gegen Folter, Kriegsverbrechen und erzwungenes „Verschwindenlassen“ ratifiziert haben.
Angesichts dieser Verpflichtung sollten die Einwanderungsbehörden Informationen, die sie unter Artikel 1F der Flüchtlingskonvention gesammelt haben, nicht nur nutzen, um Verdächtigen die Einreise zu verweigern oder sie abzuschieben, sondern sie in den relevanten Fällen auch an die Strafverfolgungsbehörden weitergeben, so dass die Verdächtigen vor Gericht gestellt werden können. In den Niederlanden werden unter Artikel 1F verdächtige Personen zunehmend abgeschoben, statt dass in ihren Fällen strafrechtlich ermittelt wird.
Einige Verdächtige, deren Asylanträge auf der Basis von Artikel 1F abgelehnt werden und die entsprechend der Flüchtlingskonvention abgeschoben werden dürfen, können nicht in ihr Herkunftsland zurückkehren, weil andere Menschenrechtsabkommen dies verbieten. Die Konvention gegen Folter und der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte in seiner Auslegung durch den UN-Menschenrechtsausschuss verbieten es kategorisch, eine Person in ein Land abzuschieben, in dem ihr droht, gefoltert oder grausam, unmenschlich oder erniedrigend behandelt oder bestraft zu werden. Das wird als Grundsatz der Nicht-Zurückweisung bezeichnet und ist ein internationales, menschenrechtliches Prinzip.
Auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) verbietet, jemanden an einen Ort abzuschieben, an dem ihm Folter, die Todesstrafe, willkürliche Haft und offensichtlich unfaire Gerichtsverfahren drohen.
Das bedeutet, dass Personen, die wegen des Verdachts auf schwere Verbrechen auf Grund von Artikel 1F keinen Flüchtlingsstatus erhalten und nicht in ihre Heimatländer abgeschoben werden können, faktisch Straflosigkeit in ihrem Aufnahmeland genießen würden, wenn nicht strafrechtlich gegen sie ermittelt wird.
Personen, die unter Artikel 1F vom Flüchtlingsschutz ausgeschlossen werden, droht ein unfairer, rechtlicher Schwebezustand, wenn in ihren Fällen nicht ermittelt wird, um die Vorwürfe gegen sie entweder zu bestätigen oder fallen zu lassen. Außerdem haben sie rechtlich keine Möglichkeit, in einen Drittstaat umzuziehen.
13. Vor welchen Herausforderungen stehen europäische Gerichte, die in schweren Verbrechen ermitteln, die in Syrien oder im Irak verübt wurden?
Es ist keine einfache Aufgabe, Verbrechen, die Tausende Kilometer entfernt in einer Konfliktsituation verübt wurden, zu untersuchen und völkerstrafrechtlich zu verfolgen. Zunächst müssen nationale Gesetze solche Verfahren ermöglichen. Zusätzlich ist ein gutes Verständnis des Völkerrechts erforderlich, um in diesen Fällen tätig zu werden. Und die Ermittlungen selbst sind oft schwierig und berühren großangelegte und komplexe Verbrechen.
Europäische Fahnder und Staatsanwälte können häufig nicht in den Ländern ermitteln, in denen ein Verbrechen begangen wurde - wie derzeit in Syrien und im Irak, wo die Kampfhandlungen anhalten. Das verkompliziert die Sammlung stichhaltiger Beweise massiv.
Da große Bevölkerungsteile aus Syrien und dem Irak vertrieben wurden, sind Opfer und Zeugen oft verstreut und schwer zu finden. Außerdem müssen europäische Ermittler und Staatsanwälte sehr vorsichtig vorgehen, um die Zeugen und Opfer oder ihre Familien nicht zu gefährden. Sprachliche und kulturelle Unterschiede können die Ermittlungen beeinträchtigen, die oft lange dauern und kostenintensiv sind. Videos und Fotos wie die, die in sozialen Medien veröffentlicht werden, können verwertbare Beweise darstellen, allerdings muss dazu zweifelsfrei festgestellt werden, dass sie authentisch sind, und zu welcher Zeit und an welchem Ort sie aufgenommen wurden.
14. Wie versuchen einige europäische Staaten, mit diesen Herausforderungen umzugehen?
Mehrere europäische Staaten, darunter die Niederlande, Belgien, Dänemark, Schweden, Frankreich, Norwegen, Deutschland, Großbritannien und die Schweiz, haben spezielle Abteilungen zur Bekämpfung von Kriegsverbrechen eingerichtet, die aus Polizisten und Staatsanwälten bestehen und über spezifische Expertise für diese Art von Fällen verfügen.
Untersuchungen von Human Rights Watch zeigen, dass diese Abteilungen nationalen Strafverfolgungsbehörden und Staatsanwaltschaften dabei helfen können, Hürden zu überwinden. Mitarbeiter der Sonderabteilungen haben sich wichtiges Wissen und Expertise angeeignet, die ihre Arbeitsfähigkeit verbessern. Wenn sie über motiviertes und erfahrenes Personal und zweckgebundene Mittel verfügen, können die Abteilungen sich auf die Ermittlungen in schweren Verbrechen konzentrieren. Ihre bloße Existenz reflektiert oft den politischen Willen von Staaten, Straflosigkeit für Gräueltaten zu bekämpfen.
Allerdings sind die Sonderabteilungen in Frankreich, Deutschland, Schweden und der Schweiz personell und finanziell unzureichend ausgestattet und mit einem wachsenden Arbeitspensum konfrontiert. Einige Abteilungen sind neben Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch für Terrorismus zuständig. Es ist verständlich, dass die innere Sicherheit für die Behörden prioritär ist. Aber dieser Schwerpunkt sollte keine Ressourcen von Fällen unter dem Weltrechtsprinzip abziehen, die wesentlich dafür sind, die Verantwortlichen für Verbrechen in Syrien und im Irak zur Rechenschaft zu ziehen.
Länder, die über Sonderabteilungen für Kriegsverbrechen verfügen, sollten diese mit den für effektive Arbeit notwendigen Ressourcen ausstatten. Außerdem sollten weitere Länder in Erwägung ziehen, solche Abteilungen einzurichten.
Darüber hinaus ist internationale Zusammenarbeit essentiell, insbesondere weil Opfer, Zeugen und mögliche Verdächtigen nach ihrer Flucht in unterschiedlichen europäischen Länder leben.
Um diese Zusammenarbeit zu stärken, hat die EU im Jahr 2002 ein „Europäisches Netz von Anlaufstellen für Fragen betreffend Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen“ geschaffen. Das EU Genozid-Netzwerk intensiviert die Zusammenarbeit und den Austausch über gute Arbeitsmethoden zwischen den EU-Mitgliedsstaaten und einigen Beobachterstaaten durch zweijährige Treffen. Das Netzwerk hat außerdem mindestens zwei Treffen organisiert, die sich ausschließlich mit Ermittlungen in schweren Völkerrechtsverbrechen in Syrien befassten.
15. Welche Rolle spielen die verschiedenen Stellen, die schwere Verbrechen in Syrien und im Irak dokumentieren?
Mehrere internationale Organisationen sammeln und bewahren Informationen über Menschenrechtsverletzungen und Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht in Syrien, darunter das Syria Justice and Accountability Centre, die Commission for International Justice and Accountability (CIJA) und die UN-Untersuchungskommission zu Syrien. Darüber hinaus hat die CIJA Mittel erhalten, um Verbrechen gegen die jesidische Minderheit im Irak zu beobachten und Justice Rapid Response hat gemeinsam mit UN Women ein Projekt zur Dokumentation von Verbrechen im Irak durchgeführt.
Diese Dokumentationsarbeit ist essentiell, um Beweise für und andere Informationen über schwere Verbrechen in Syrien und im Irak zu sichern. Die Informationen können dazu beitragen, die Systematik von Verbrechen zu erkennen und die Befehlsverantwortung hochrangiger Beamter festzustellen, sobald es einen glaubwürdigen Rechtsmechanismus gibt, um gegen sie vorzugehen – das kann sowohl auf nationaler, als auch auf internationaler Ebene geschehen, auch unter dem Weltrechtsprinzip.
Dokumentationsinitiativen sammeln unter Umständen auch Hintergrundinformationen über den Konflikt oder die Organisation bewaffneter Streitkräfte, die bei Verfahren unter dem Weltrechtsprinzip genutzt werden können.
Einige Organisationen, etwa die UN-Untersuchungskommission, stehen im Kontakt mit europäischen Spezialeinheiten zu Kriegsverbrechen. Derzeit suchen europäische Staatsanwaltschaften nach Informationen zu spezifischen Fällen, für die sie zuständig werden können – also zu Fällen, bei denen sich eine verdächtige Person auf ihrem Hoheitsgebiet befindet oder die Opfer Staatsbürger ihres Landes sind.
16. Könnte Baschar al-Assad unter dem Weltrechtsprinzip strafrechtlich verfolgt werden?
Nicht sofort. Baschar al-Assad ist das Staatsoberhaupt Syriens. Der Internationale Gerichtshof hat in seinem Yerodia-Urteil Belgien das Recht abgesprochen, einen Haftbefehl gegen den kongolesischen Außenminister auszustellen. Das Gericht kam zu dem Ergebnis, dass Staatsoberhäupter und einige Minister während ihrer Amtszeit Immunität genießen, die sie auch davor schützt, von einem Drittstaat strafrechtlich verfolgt zu werden.
Allerdings könnte unter dem Weltrechtsprinzip gegen al-Assad ermittelt werden, wenn er nicht mehr im Amt ist. In einem wegweisenden Verfahren haben senegalesische Gerichte den ehemaligen Präsidenten des Tschad, Hissène Habré, wegen Verbrechen in seinem Land in den 1980er Jahren verurteilt. Das war der erste Fall, in dem ein ehemaliges Staatsoberhaupt in einem anderen Land vor Gericht stand.
Darüber hinaus können Personen, die Immunität genießen, von internationalen Gerichten wie dem IStGH verurteilt werden.
17. Wie kann auf lange Sicht in Syrien und im Irak Gerechtigkeit hergestellt werden?
Zu gewährleisten, dass schwere Verbrechen geahndet werden, ist für sich genommen wichtig – und es ist wesentlich dafür, in Syrien einen dauerhaften und stabilen Frieden herzustellen. Daher sollte die juristische Aufarbeitung des Konflikts in jedem Übergangsplan eine zentrale Rolle spielen. Fälle unter dem Weltrechtsprinzip sind erste, wichtige Schritte in einer ansonsten öden Landschaft.
Aber um Gerechtigkeit in Syrien näher zu kommen, bedarf es eines mehrschichtigen Konzepts aus nationalen und internationalen juristischen Anstrengungen. Zwar ist der Versuch des UN-Sicherheitsrates, den IStGH mit Ermittlungen in Syrien zu betrauen, gescheitert, aber nichtsdestotrotz ist dieser Gerichtshof das internationale Organ, das am besten dafür geeignet ist, die Hauptverantwortlichen für die schrecklichen Verbrechen zu ermitteln und zu verfolgen - solange die syrischen Behörden keine überzeugenden Maßnahmen ergreifen.
Auf längere Sicht müssen auch in Syrien Prozesse stattfinden, um die Straflosigkeit einzudämmen. Sobald das möglich ist, wird das syrische Strafrechtssystem unter Umständen internationale Unterstützung benötigen. Außerdem sind Gerichtsverfahren nur ein Teil eines größeren Prozesses hin zu Gerechtigkeit und Verantwortungsübernahme. Begleitmaßnahmen werden erforderlich sein, um die Gesellschaft dabei zu unterstützen, mit den schweren Menschenrechtsverletzungen umzugehen, zum Beispiel in Form von Wahrheitskommissionen, Entschädigungszahlungen und Sicherheitssektorreformen.
Im Irak müssen ISIS auf der einen und Regierungs- und Koalitionskräfte auf der anderen Seite für Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht und gegen die Menschenrechte zur Rechenschaft gezogen werden. Im Februar wurde ein nationaler Prozess gegen Personen abgeschlossen, die das Massaker an bis zu 1.700 schiitischen Militärkadetten aus Camp Speicher im Norden von Tikrit im Juni 2014 verübt haben sollen. Sie wurden des Terrorismus angeklagt und der Prozess verstieß gegen internationale Standards für faire Verfahren.
Der Irak sollte Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord als Straftaten in sein nationales Recht aufnehmen und ein Mitgliedsstaat des IStGH werden. Damit wäre der Gerichtshof nicht nur für die schweren Verbrechen zuständig, die von allen Konfliktparteien im Land verübt wurden, sondern könnte durch seine Aufsicht auch den Anstoß dazu geben, dass der Irak selbst die Verantwortlichen für die schwersten Verbrechen auf allen Seiten zur Rechenschaft zieht.
18. Wie ist die Situation in Syrien und im Irak?
Syrien
In Folge des Aufstands gegen das Assad-Regime im März 2011 tobt in Syrien ein brutaler, bewaffneter Konflikt. Die Konfliktparteien verüben vorsätzliche Gräueltaten und greifen die Zivilbevölkerung willkürlich an. Bis Oktober 2015 sind mehr als 250.000 Menschen gestorben, 100.000 waren Zivilisten. Mehr als 640.000 Menschen lebten zu diesem Zeitpunkt in Belagerungszuständen, 6,6 Millionen Menschen flohen in andere Landesteile, 4,8 Millionen in Nachbarländer, und mehr als 1 Millionen in die EU.
Syrische Regierungskräfte und ihre Verbündeten führen vorsätzlich willkürliche Luftangriffe durch. Unter anderem haben sie über Wohngebieten Fassbomben abgeworfen, die zum Teil mit giftigen Chemikalien gefüllt waren. Darüber hinaus belagern Regierungskräfte Gebiete, um die Zivilbevölkerung auszuhungern und Verhandlungen zu erzwingen, durch die sie die Kontrolle zurückerlangen wollen. Willkürliche und geheime Verhaftungen, Misshandlungen, Folter, und erzwungenes „Verschwindenlassen“ sind in Regierungsgefängnissen weiterhin an der Tagesordnung. Das verschlimmert die Situation in den Gefängnissen zusätzlich, in denen schreckliche Zustände herrschen. Unzählige Todesfälle in Haft zeugen davon, dass die Grundversorgung mangelhaft ist. Es fehlt an Nahrung und Hygiene, chronische Krankheiten werden oft nicht behandelt.
Auch nichtstaatliche, bewaffnete Gruppen haben schwere Völkerrechtsverbrechen begangen, etwa willkürliche und vorsätzliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung in von der Regierung kontrollierten Gebieten, Rekrutierung von Kindersoldaten, Morde, Entführungen und Geiselnahmen. Extremistische islamistische Gruppen wie Jabhat al-Nusra und ISIS sind verantwortlich für systematische Menschenrechtsverletzungen, die als Kriegsverbrechen gewertet werden können, etwa grausame, außergerichtliche Tötungen. ISIS hat systematisch Frauen und Mädchen vergewaltigt, sexuell versklavt und zwangsverheiratet.
Irak
Nachdem die extremistische islamistische Gruppe ISIS im Juni 2014 die Stadt Mosul eingenommen hat, hat sich der Aufstand im Irak zu einem bewaffneten Bürgerkrieg entwickelt, in dessen Zuge sich die Menschenrechtslage rapide verschlechtert. Eine Koalition aus kurdischen und zentralirakischen Regierungskräften und regierungsnahen Milizen kämpft gegen ISIS und wird durch von der USA geführte Luftangriffe unterstützt. Bis Januar 2016 wurden mehr als 3,2 Millionen Iraker vertrieben, 3 Millionen Kinder können wegen des Konflikts die Schule nicht mehr besuchen, und der Zugang zu medizinischer Versorgung, Nahrung und Trinkwasser ist begrenzt.
Alle Konfliktparteien haben das humanitäre Völkerrecht und Menschenrechtsstandards verletzt. ISIS hat Hunderte Zivilisten hingerichtet und Frauen sexuelle versklavt. Sowohl ISIS als auch regierungsnahe Milizen rekrutieren Kindersoldaten für den bewaffneten Kampf. Erzwungenes „Verschwindenlassen“ und Folter sind anhaltende Probleme. ISIS hält Zivilisten davon ab, Konfliktgebiete zu verlassen und Regierungsstellen verwehren Menschen, die vor ISIS fliehen, zum Teil den Zugang zu sicheren Gebieten oder die Rückkehr in ihre Heimat. Regierungsnahe Milizen zerstören im Nachgang von Kampfhandlungen im großen Umfang Wohnhäuser und Geschäfte. Regierungskräfte führen mutmaßlich willkürliche Luft- und Artillerieangriffe durch.
19. Sind Verbrechen in Syrien und im Irak die einzigen, die unter dem Weltrechtsprinzip verhandelt werden?
Nein. In den vergangenen 20 Jahren hat sich die Strafverfolgung nationaler Gerichte auf völkerrechtlicher Grundlage deutlich weiterentwickelt. Europäische, kanadische und US-amerikanische Gerichte haben sich mit Verbrechen befasst, die unter anderem in Ruanda, der Demokratischen Republik Kongo, Afghanistan, Guatemala, dem Kosovo, dem Irak, Liberia, Bosnien-Herzegowina und Argentinien verübt wurden.
Ein senegalesisches Sondergericht hat vor kurzem den ehemaligen Präsidenten des Tschad, Hissène Habré, verurteilt. Außerdem haben Argentinien, der Senegal und Südafrika damit begonnen, massive Menschenrechtsverletzungen in China, der Demokratischen Republik Kongo, Spanien, Paraguay und Simbabwe zu untersuchen.