(Moskau) – Die Behörden in Tschetschenien versuchen, selbst die moderatesten Kritiker vor den Wahlen zum Oberhaupt der Republik am 18. September 2016 zum Schweigen zu bringen, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht.
Der 56-seitige Bericht „Like Walking a Minefield: Vicious Crackdown on Critics in Russia’s Chechen Republic“ dokumentiert, wie die örtlichen Behörden Personen bestrafen und erniedrigen, die unzufrieden wirken oder die tschetschenische Führung und ihre Politik nur widerwillig unterstützen. Er geht auch darauf ein, dass Drohungen und Übergriffe zunehmen und immer mehr Journalisten und Menschenrechtsverteidiger verhaftet werden.
„Die tschetschenischen Behörden terrorisieren Kritiker und alle, deren Loyalität zur Führung ihrer Meinung nach fraglich ist“, so Tanya Lokshina, Leiterin des Russland-Programms von Human Rights Watch. „Unter diesen Umständen ist es höchst zweifelhaft, dass die Wahlen frei und fair sein werden.“
Der Kreml ernannte Ramsan Kadyrow im Jahr 2007 zum Oberhaupt Tschetscheniens. Zuvor hatte die Republik einen langwierigen und blutigen, separatistischen Konflikt erlebt, auf den Russland mit jahrelangen Maßnahmen zur Aufstandsbekämpfung reagiert hat, die von schweren Menschenrechtsverletzungen geprägt waren. Bei den Wahlen am 18. September kann die Bevölkerung erstmals direkt über Kadyrows Macht abstimmen.
Das harsche und groß angelegte Vorgehen der Behörden gegen Kritiker soll die Bevölkerung offensichtlich daran erinnern, dass Kadyrows Kontrolle absolut ist. Und es soll vermutlich auch verhindern, dass negative Informationen aus Tschetschenien verbreitet werden und Kadyrows Stellung gegenüber dem Kreml unterminieren. Selbst die harmloseste Kritik an der Politik in Tschetschenien oder der Regierung kann zu erbarmungslosen Racheakten führen - und das unabhängig davon, ob sie offen geäußert wird, in geschlossen Gruppen, in den sozialen Medien, als vertraulicher Kommentar gegenüber eines Journalisten oder in der Öffentlichkeit.
Tschetschenien ist als autonome Republik ein Teil von Russland. Die Behörden sind gesetzlich dazu verpflichtet, das russische nationale Recht sowie internationale Menschenrechtsstandards einzuhalten. Die russische Führung ist über das Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien informiert, unternimmt dagegen aber kaum etwas, außer selten milde Rügen zu erteilen.
Der Bericht beruht auf mehr als 40 Interviews mit Opfern, Personen, die denjenigen nahestehen, die für kritische Bemerkungen verfolgt wurden, Menschenrechtsverteidigern, Journalisten, Anwälten und anderen Experten.
Er dokumentiert rechtswidrige Inhaftierungen zur Bestrafung von Kritikern, die zum Teil mit Entführungen und erzwungenem „Verschwindenlassen“ einhergingen. Gefangene erlebten grausame und erniedrigende Behandlungen und Todesdrohungen, auch gegen Familienangehörige, die zum Teil ebenfalls körperlich misshandelt wurden.
In einem Fall ließen Angehörige der Strafverfolgungsbehörden im Dezember 2015 einen Mann verschwinden, der angeblich einen flapsigen Kommentar über Kadyrow gemacht hatte. Zwei Wochen später tauchte seine zerschlagene und geschundene Leiche vierzig Kilometer außerhalb von Grosny auf.
In einem anderen Fall inhaftierten Polizisten widerrechtlich eine Frau und ihre drei Kinder, bedrohten und misshandelten sie aus Rache dafür, dass ihr Ehemann die tschetschenischen Behörden öffentlich kritisiert hatte. Polizisten schlugen die Mutter und die älteste, 17-jährige Tochter, und drohten, sie umzubringen. Damit wollten sie sie dazu zwingen, ihren Vater dazu zu bewegen, seine Bemerkungen zurückzunehmen. In fünf anderen Fällen entführten Angehörige der Strafverfolgungsbehörden oder mutmaßliche Bevollmächtigte Personen und behandelten sie grausam und erniedrigend; vier von ihnen „verschwanden“ ein bis zwölf Tage lang.
In fünf weiteren Fällen erniedrigten die Behörden Personen in der Öffentlichkeit, indem diese gezwungen wurden, sich öffentlich bei der tschetschenischen Führung zu entschuldigen oder ihre angeblich falschen Behauptungen zurückzunehmen.
„Die Menschenrechtsverletzungen, die wir dokumentiert haben, sind eindeutig dazu gedacht, die tschetschenische Bevölkerung einzuschüchtern, und stellen womöglich nur die Spitze des Eisbergs dar“, so Lokshina. „Manche Übergriffe kommen nie ans Licht, weil das Klima der Angst überwältigend und die örtliche Bevölkerung so verängstigt ist, dass sie schweigt.“
Die tschetschenische Führung intensiviert auch ihre Angriffe auf die wenigen Menschenrechtsverteidiger, die noch in der Republik arbeiten und die Opfer von Übergriffen rechtlich oder auf andere Art unterstützen. In den vergangenen zweieinhalb Jahren plünderten Angehörige der Strafverfolgungsbehörden oder deren mutmaßliche Bevollmächtige dreimal das Büro der Gemeinsamen Mobilen Gruppe der Menschenrechtsverteidiger in Tschetschenien (Joint Mobile Group of Human Rights Defenders in Chechnya, JMG) und brannten es nieder. Schläger, die anscheinend als Bevollmächtigte der tschetschenischen Behörden agierten, griffen die Mitglieder der Gruppe tätlich an. Die von der Regierung kontrollierten Medien initiierten eine Schmutzkampange gegen sie.
In den vergangenen Jahren war die JMG praktisch die einzige Gruppe vor Ort, die Opfer von Menschenrechtsverletzungen durch Strafverfolgungs- und Sicherheitsbehörden rechtlich unterstützt hat. Aus Sicherheitsgründen musste sie Anfang 2016 ihr Team aus Tschetschenien abziehen.
Den wenigen Menschen, die sich trauen, mit Journalisten über etwas anderes als die Wohltaten der tschetschenischen Führung zu sprechen, drohen erbarmungslose Vergeltungsmaßnahmen. Auch Journalisten, die aus Tschetschenien berichten, sind in Gefahr. Im Jahr 2015 erhielt ein Journalist Todesdrohungen und ein anderer wurde willkürlich verhaftet, als er für einen Artikel recherchierte. Im Jahr 2016 griff eine Gruppe maskierter Männer einen Minibus an, in dem eine Gruppe russischer und ausländischer Journalisten aus der nahe gelegenen Republik Inguschetien nach Tschetschenien reiste. Die Angreifer zerrten die Journalisten aus dem Bus, verprügelten sie und brannten den Bus nieder.
Die russische Regierung soll den Übergriffen der tschetschenischen Behörden unverzüglich ein Ende setzen. Statt die Augen vor offensichtlich rechtswidrigen, grausamen und erniedrigenden Taten zu verschießen, soll sie die Sicherheit von Opfern und Zeugen von Menschenrechtsverletzungen garantieren, die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen und ein Klima fördern, in dem Menschen ihre Meinung frei äußern und Menschenrechtsverteidiger arbeiten können.
„Es ist längst überfällig, dass der Kreml damit aufhört, den tschetschenischen Behörden einen Freibrief für brutale Menschenrechtsverletzungen zu geben“, sagt Lokshina.