(Athen) – Im Zuge der ersten durch die Europäische Union sanktionierten Abschiebungen wurden 66 Menschen von der griechischen Insel Chios in die Türkei gebracht. Diese Abschiebungen verliefen hektisch, chaotisch und verstießen gegen die Rechte der Betroffenen, so Human Rights Watch heute. In der Türkei verloren die Abgeschobenen, die festgehalten wurden, den Kontakt zu ihren Familien und Freunden in Griechenland. Die türkischen Behörden haben zudem bislang keine Besuche durch Menschenrechtsgruppen oder die Vereinten Nationen gestattet.
„Die Europäische Union und Griechenland hatten es so eilig damit, das Abschiebeabkommen mit der Türkei umzusetzen, dass sie kurzerhand Menschenrechte über Bord geworfen haben, auch die derjenigen, die Asyl beantragen wollten”, so Fred Abrahams, stellvertretender Direktor der Programm-Abteilung von Human Rights Watch. „Die Abschiebungen, bei denen es zu Menschenrechtsverletzungen kam, zeigen die grundlegenden Mängel bei den Massenrückführungen aus der EU in ein Land, das nicht als sicheres Asylland angesehen werden kann.“
Bei Besuchen im Flüchtlingslager VIAL auf Chios am 7. und 8. April sprach Human Rights Watch mit 12 Freunden und einem Angehörigen von 19 Menschen aus Afghanistan, die von Chios am 4. April abgeschoben worden waren. Auf der Grundlage dieser Interviews und der Textnachrichten, die sich die Interviewten und die Abgeschobenen geschickt hatten, dokumentierte Human Rights Watch eine Reihe von Unregelmäßigkeiten und Menschenrechtsverletzungen. Die Behörden hatten die Betroffenen nicht über ihre bevorstehende Abschiebung informiert, auch nicht darüber, wohin sie gebracht werden sollten. Sie durften ihr persönliches Eigentum nicht mitnehmen. Laut der UN-Flüchtlingsagentur hatten 13 der von Chios abgeschobenen Personen den Wunsch geäußert, Asyl in Griechenland zu beantragen. Diese Zahl könnte noch höher liegen, so Human Rights Watch.
Die griechischen Behörden haben die Zwangsrückführungen von Chios und die 136 anderen Abschiebungen von der nahegelegenen Insel Lesbos anscheinend übereilt durchgeführt, um die Frist einzuhalten für den Beginn der Rückführungen gemäß des unausgereiften EU/Türkei-Abkommens. Dieses war am 20. März 2016 in Kraft getreten. Das Abkommen ermöglicht die Rückführung von Asylsuchenden in die Türkei, davon ausgehend, dass die Türkei ein sicheres Land für Asylsuchende und Flüchtlinge ist.
Die rechtliche Grundlage für die Rückführung in die Türkei von Migranten, die kein Asyl suchen, ist ein Rückübernahmeabkommen aus dem Jahr 2001 zwischen Griechenland und der Türkei. Ein ähnliches Abkommen zwischen der EU und der Türkei tritt im Juni in Kraft. Dieses erlaubt dann Abschiebungen aus allen 28 EU-Staaten.
Die Abschiebungen von Chios und Lesbos wurden von der griechischen Polizei und 180 „Geleitschutzbeamten” der EU-Grenzschutzbehörde Frontex durchgeführt. Die griechische Regierung und Frontex gaben an, dass die meisten Abgeschobenen aus Pakistan, Bangladesch oder Afghanistan stammten und dass keiner derjenigen, die in die Türkei gebracht wurden, in Griechenland Asyl beantragen wollte.
Am 8. April schob Griechenland weitere 124 Menschen ab, die sich auf der Insel Lesbos aufhielten. Hierbei handelte es sich vorwiegend um Menschen aus Pakistan und Afghanistan. Die Abschiebung erfolgte mit der Unterstützung von 144 Frontex-Beamten. Am nächsten Tag kündigte Griechenland an, die Abschiebungen in die Türkei für mindestens zwei Wochen auszusetzen, um den Ablauf zu verbessern. Griechenland und die Türkei haben jedoch bereits angedeutet, dass die Abschiebungen schon früher wieder aufgenommen werden könnten.
Griechenland und die EU sollen die Abschiebungen so lange aussetzen, bis Sicherheitsmechanismen eingeführt wurden, die das Recht auf Asyl gewährleisten und die es ermöglichen, Widerspruch gegen die Abschiebungen einlegen zu können, so Human Rights Watch.
„Das EU-Abkommen basiert auf der trügerischen Annahme, alle in die Türkei abgeschobenen Menschen seien dort sicher, obwohl die Fakten etwas anderes sagen”, so Abrahams. „Die EU errichtet eine Mauer um Europa und ignoriert hierbei die Gefahren, denen Menschen in verzweifelter Not ausgesetzt sind.“