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Menschen nehmen an einer Kundgebung zum 34. Jahrestag der ersten demokratischen Wahlen im Nachkriegspolen teil, in Warschau, Polen, 4. Juni 2023. © 2023 REUTERS/Kacper Pempel

(Brüssel, 11. Januar 2023) - Die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten haben sich 2023 erneut verpflichtet, die Menschenrechte zu wahren und zu schützen. Sie haben es jedoch wiederholt versäumt, diesen Verpflichtungen in der Praxis nachzukommen, so Human Rights Watch heute in ihrem World Report 2024.

Mit ihrer Migrationspolitik hat die EU zu Todesfällen, Folter und Menschenrechtsverletzungen beigetragen. Die EU-Staaten haben es versäumt, gegen Angriffe auf und strukturelle Diskriminierung von Mitgliedern marginalisierter Gruppen vorzugehen. Die EU hat nicht angemessen reagiert angesichts der zunehmenden Beschneidung der Rechtsstaatlichkeit und der Zivilgesellschaften in ihren Mitgliedstaaten. In ihrer Außenpolitik hat die EU mit zweierlei Maß gemessen.

„Die klaffende Lücke zwischen dem, wozu die EU sich auf dem Papier verpflichtet hat und ihrem praktischen Vorgehen im Bereich der Menschenrechte, ist besorgniserregend. Den Preis dafür zahlen die Menschen“, sagte Benjamin Ward, stellvertretender Direktor für Europa und Zentralasien bei Human Rights Watch. „Wenn die EU ein Vorbild in Sachen Menschenrechte in diesen turbulenten Zeiten sein will, dann muss sie den Menschenrechten Priorität einräumen, und zwar nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Praxis.“

Im 740-seitigen World Report 2024, seiner 34. Ausgabe, zieht Human Rights Watch Bilanz der Menschenrechtslage in über 100 Ländern. In ihrem Einleitungsessay sagt die geschäftsführende Direktorin Tirana Hassan, dass das Jahr 2023 nicht nur ein folgenschweres Jahr in Bezug auf die Unterdrückung von Menschenrechten und Kriegsgräueln war, sondern auch ein Jahr der selektiven Empörung von Regierungen und der Transaktionsdiplomatie, die weitreichende Folgen für die Rechte derjenigen hatte, deren Stimmen nicht gehört wurden. Sie sagt aber auch, dass es Anzeichen der Hoffnung gibt, die auf einen anderen Weg hinweisen, und fordert Regierungen dazu auf, ihre Menschenrechtsverpflichtungen konsequent einzuhalten.

Als Reaktion auf die zunehmende Zahl von Menschen, die an ihren Grenzen ankommen, haben die EU und ihre Mitgliedstaaten ihre repressiven Abschreckungsmaßnahmen und Bündnisse mit Ländern, welche die Menschenrechte missachten, verstärkt und ausgeweitet. Mehr als 2.500 Menschen starben auf See bei dem Versuch, die EU zu erreichen, was die tödlichen Folgen des EU-Ansatzes zur Bootsmigration deutlich machte.

EU-Mitgliedstaaten, darunter Bulgarien, Kroatien, Polen, Griechenland, Ungarn, Litauen und Lettland, beteiligten sich an illegalen Pushbacks an den Außengrenzen. Malta und Italien erleichterten das Abfangen auf See durch libysche Streitkräfte, während sich EU-Institutionen mitschuldig machten an Menschenrechtsverletzungen, u.a. an der Folterung von nach Libyen zurückgeschickten Migrant*innen und Geflüchteten. Italien unterzeichnete ein Abkommen mit Albanien, um Menschen, darunter auch Asylsuchende, die von italienischen Schiffen aus dem Meer gerettet werden, in Albanien festzusetzen.

Die Sorge bezüglich schwindender demokratischer Freiheiten und eines schrumpfenden zivilgesellschaftlichen Raums in der EU hielt an. Ungarn und Polen standen weiterhin gemäß Artikel 7 des Vertrags über die Europäische Union wegen der Missachtung der EU-Werte durch ihre Regierungen unter Beobachtung. Trotz des Drucks des Europäischen Parlaments und der Zivilgesellschaft verzichteten die EU-Mitgliedstaaten darauf, entscheidende Maßnahmen gegen beide Länder zu ergreifen. Während die Ergebnisse der Wahlen im Oktober in Polen auf Reformen hoffen lassen, bleibt das Engagement der EU von entscheidender Bedeutung, bis eine neue Regierung tatsächlich einen Wandel herbeiführt, so Human Rights Watch.

Die EU-Institutionen haben nicht ausreichend auf den besorgniserregenden Trend reagiert, dass neben Ungarn und Polen weitere EU-Mitgliedsstaaten die Zivilgesellschaft ohne Rechtfertigung einschränken. Hierzu zählen Griechenland, Frankreich und Italien. Stattdessen haben Gesetzesinitiativen auf EU-Ebene, wie das „Paket zur Verteidigung der Demokratie“, die Besorgnis über eine mögliche Stigmatisierung und abschreckende Wirkung auf die Zivilgesellschaft im In- und Ausland weiter verstärkt.

Nach dem Hamas-Anschlag in Israel am 7. Oktober und den anschließenden Kampfhandlungen im Gazastreifen nahmen Antisemitismus und Islamophobie in Europa zu. Die Reaktionen der EU-Mitgliedsstaaten hierauf waren jedoch unzureichend. Einige führten weitere diskriminierende und menschenrechtsverletzende Maßnahmen gegenüber Menschen ein, die sich als arabisch, palästinensisch oder muslimisch identifizieren oder wahrgenommen werden, und drängten unter anderem auf eine strengere Einwanderungspolitik.

Die Menschenrechtsgremien der EU und des Europarats berichteten von einer zunehmenden Diskriminierung von marginalisierten Bevölkerungsgruppen, die EU-Mitgliedstaaten reagierten jedoch nicht auf die Bemühungen der europäischen Institutionen, diese Problematik anzugehen.  

EU-Daten vom Juni zeigen, dass 95,3 Millionen Menschen - 21,6 Prozent der Bevölkerung - im Jahr 2022 „von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht“ waren, was es ihnen erschwerte, ihre Rechte wahrzunehmen. Die hohen Inflationsraten des Vorjahres gingen im Jahr 2023 zurück, die Auswirkungen der Krise der Lebenshaltungskosten wurden abgeschwächt, was zum Teil auf Maßnahmen der Regierungen zurückzuführen ist. Ein Bericht der Europäischen Kommission wies auch auf Hürden für marginalisierte Gruppen beim Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen hin, die für die Wahrnehmung ihrer Rechte unerlässlich sind. Zu den betroffenen Gruppen zählen Obdachlose, Roma, Menschen mit Behinderungen und Alleinerziehende - vor allem, wenn es sich um Frauen handelt.

Die EU-Außenpolitik im Jahr 2023 wurde zunehmend als eine Politik der Doppelmoral wahrgenommen. Zwar hat die EU ihre Unterstützung für die Ukraine und ihre Bemühungen um die Rechenschaftspflicht für Kriegsverbrechen und andere grobe Verstöße der russischen Streitkräfte in der Ukraine seit dem Einmarsch Russlands aufrechterhalten, die Position der EU zum Konflikt im Gazastreifen und in Israel spiegelt jedoch nicht die Forderung nach Rechenschaftspflicht für die von allen Parteien begangenen Verbrechen wider.

Das Abkommen der EU mit Tunesien, in dem finanzielle Unterstützung im Gegenzug für die Zusammenarbeit bei der Migration zugesagt wurde, obwohl die Geflüchteten und Asylsuchenden ernsthaft gefährdet sind, ist ein Beispiel für die zunehmend transaktionale Diplomatie der EU. Diese führt dazu, dass Regierungen, welche die Menschenrechte missachten, in der vergeblichen Hoffnung auf kurzfristige Vorteile nicht sanktioniert oder sogar unterstützt werden. Die EU spielte eine führende Rolle bei wichtigen Resolutionen im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen, versäumte es aber, auf eine erneute Überprüfung Libyens zu drängen oder Folgemaßnahmen nach den vernichtenden Untersuchungsergebnissen über Äthiopien zu unterstützen.

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