World Report 2024

Unser Jahresbericht zur Menschenrechtslage rund um die Welt

Das Menschenrechtssystem ist in Gefahr: Ein Aufruf zum Handeln

Wir müssen nur auf die Menschenrechtslage im Jahr 2023 blicken, um zu sehen, was wir 2024 anders machen müssen. Es war ein eindrucksvolles Jahr, nicht nur im Hinblick auf Menschenrechtsverstöße und Kriegsgräuel, sondern auch im Hinblick auf die selektive Empörung seitens von Regierungen und die Transaktionsdiplomatie, die weitreichende Folgen für die Rechte derjenigen hatte, deren Stimmen nicht gehört wurden. Doch auch in diesen düsteren Zeiten sahen wir Zeichen der Hoffnung, die uns zeigten, dass es auch anders geht.

Die erneuten Kampfhandlungen zwischen Israel und der Hamas sowie im Sudan haben ebenso viel Leid verursacht wie die anhaltenden Konflikte in der Ukraine, Myanmar, Äthiopien und der Sahelzone. Außerdem kämpften Regierungen mit dem klimatisch wärmsten Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen und mit den zahlreichen Waldbränden, Dürren und Stürmen, unter denen Millionen Menschen weltweit von Bangladesch über Libyen bis Kanada zu leiden hatten. Die wirtschaftliche Ungleichheit nahm weltweit zu, ebenso wie die Wut über politische Entscheidungen, die vielen Menschen das Leben schwer machen. Die Rechte von Frauen und Mädchen sowie von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender-Personen (LGBT) wurden vielerorts massiv angegriffen, wie etwa geschlechtsspezifische Gewalt durch die Taliban in Afghanistan zeigt.

Die Ursachen für diese Menschenrechtskrisen und ihre Folgen sind oft grenzüberschreitend und können nicht von einzelnen Regierungen allein gelöst werden. Das Verständnis für und die Reaktion auf diese Bedrohungen müssen auf den universellen Grundsätzen der internationalen Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit beruhen. Diese Ideen bauen auf einer gemeinsamen Vision der Menschheit auf, die vor 75 Jahren von Nationen weltweit in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der Grundlage für alle heutigen Menschenrechtskonventionen und -verträge, vereinbart wurde.

Diese gemeinsame Grundlage wird heute dringender denn je gebraucht. Aber eben genau dieses System, auf das wir uns verlassen, um die Menschenrechte überall zu schützen, ist in Gefahr. Jedes Mal, wenn eine Regierung diese universellen und weltweit anerkannten Grundsätze missachtet oder ablehnt, zahlen Menschen hierfür einen hohen Preis – in Form ihrer Freiheiten, ihrer Gesundheit, ihrem Lebensunterhalt und manchmal sogar mit ihrem Leben.

Regierungen, die einen Beitrag zur Verbesserung der Menschenrechte leisten könnten, messen bei der Anwendung der Menschenrechtsprinzipien häufig mit zweierlei Maß. Das schwächt das Vertrauen in die für die Durchsetzung und den Schutz der Rechte zuständigen Institutionen. Regierungen, welche die Kriegsverbrechen der israelischen Regierung gegen die Zivilbevölkerung im Gazastreifen lautstark verurteilen, aber zu den Verbrechen gegen die Menschlichkeit der chinesischen Regierung in Xinjiang schweigen, oder die internationale Strafverfolgung für russische Kriegsverbrechen in der Ukraine fordern, während sie die Rechenschaftspflicht für frühere Menschenrechtsverletzungen durch die USA in Afghanistan untergraben, schwächen den Glauben an die Universalität der Menschenrechte und die Legitimität der Gesetze, die sie schützen sollen.

Mit ihrer Transaktionsdiplomatie missachten Regierungen die Vorteile langfristiger Beziehungen, die auf Menschenrechtsprinzipien beruhen, um sofortige, kurzfristige handels- oder sicherheitspolitische Gewinne zu erzielen. Wenn Regierungen nach Belieben aussuchen, welche Verpflichtungen sie durchsetzen wollen, schaffen sie nicht nur in der Gegenwart, sondern auch in der Zukunft ungerechte Nachteile für diejenigen, deren Rechte geopfert werden - und können so Regierungen, welche die Menschenrechte missachten, dazu ermutigen, ihre Unterdrückung auszuweiten. Die moralische Grundlage der internationalen Menschenrechte erfordert eine konsequente Haltung und Standhaftigkeit.

Regierungen fällt es leichter, Menschenrechtsfragen auf internationaler Ebene zu ignorieren, weil sie von der internationalen Gemeinschaft nicht mit den Menschenrechtsverletzungen im eigenen Land konfrontiert werden. In allen Regionen haben Autokraten daran gearbeitet, die Unabhängigkeit wichtiger und für den Schutz der Menschenrechte unabdingbarer Institutionen zu untergraben und die freie Meinungsäußerung immer weiter einzuschränken. Hierbei haben sie immer dasselbe Ziel: unkontrollierte Machtausübung.

Doch so wie diese Bedrohung der Menschenrechte miteinander verflochten ist, so ist es auch die Stärke der Menschenrechtsstandards, das Versprechen einzulösen, die Freiheit und Würde der Menschen zu schützen, unabhängig davon, wer sie sind und wo sie leben. Der Schutz der Menschenrechte hat sich an verschiedenen Stellen weiterentwickelt..

Nach drei Jahren diplomatischer Verhandlungen und einem Jahrzehnt der Kampagnenarbeit zivilgesellschaftlicher Gruppen haben sich 83 Länder einer politischen Erklärung zum besseren Schutz der Zivilbevölkerung vor dem Einsatz von Explosivwaffen in bewohnten Gebieten während bewaffneter Konflikte verpflichtet. Die internationale Verpflichtung ist die erste, die sich formell mit der langjährigen Praxis der Kriegsparteien befasst, Luftangriffe, Artillerie und Raketen in Dörfern, kleinen und großen Städten einzusetzen - die Hauptursache für zivile Opfer in bewaffneten Konflikten auf der ganzen Welt.

Diese Erklärung geht über die bloße Forderung nach einer besseren Einhaltung der Kriegsgesetze hinaus. Sie verpflichtet die unterzeichnenden Parteien, Maßnahmen und Praktiken umzusetzen, die Schaden abwenden und beheben sollen. Sechs der acht größten Waffenexporteure der Welt - die Vereinigten Staaten, Frankreich, Deutschland, Italien, das Vereinigte Königreich und Südkorea - haben sich der Erklärung verpflichtet, ebenso wie 25 der 31 NATO-Mitgliedstaaten.

Zahlreiche Länder haben sich mit den Rechten von lange Zeit ausgegrenzten Bevölkerungsgruppen befasst. Nach jahrelangem Druck der Zivilgesellschaft verabschiedete das japanische Parlament sein erstes Gesetz zum Schutz von LGBT-Personen vor „ungerechter Diskriminierung“. Der Oberste Gerichtshof Nepals wies die Behörden an, gleichgeschlechtliche Ehen anzuerkennen, während er einen Fall prüft, in dem die volle Gleichstellung der Ehe gefordert wird. In Mexiko konnte ein zivilgesellschaftliches Bündnis den Kongress davon überzeugen, ein Gesetz zu verabschieden, das die volle Rechtsfähigkeit und das Recht auf unterstützte Entscheidungsfindung für alle über 18-Jährigen festschreibt. Von diesem Gesetz werden Millionen ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen profitieren. Der Oberste Gerichtshof Mexikos entschied, dass der Kongress die strafrechtliche Verfolgung von Abtreibungen auf Bundesebene abschaffen muss, was bedeutet, dass alle staatlichen Gesundheitseinrichtungen Schwangerschaftsabbrüche anbieten sollten.

Participants march during the Tokyo Rainbow Pride parade, celebrating advances in LGBTQ rights and calling for marriage equality, in Tokyo, Japan, on April 23, 2023.
Demonstrators march during an International Safe Abortion Day rally in Mexico City, Mexico, September 28, 2023.
ZUERST: Teilnehmer*innen der Tokyo Rainbow Pride Parade, die die Fortschritte bei der Umsetzung von LGBT-Rechten feiert und die Gleichstellung der Ehe fordert, demonstrieren am 23. April 2023 in Tokyo, Japan. © 2023 Reuters/Issei Kato ZWEITENS: Demonstrierende ziehen während einer Kundgebung zum Internationalen Safer-Abtreibungs-Tag in Mexiko-Stadt, Mexiko, am Donnerstag, 28. September 2023. © 2023 Mahe Elipe/ Bloomberg via Getty Images

Die menschenrechtlichen und humanitären Krisen haben einige dazu veranlasst, die Wirksamkeit der Menschenrechtsstandards als Modell für Schutz und positiven Wandel in Frage zu stellen - insbesondere angesichts der selektiven Empörung seitens Regierungen, der auf kurzfristigen Gewinn ausgerichteten Transaktionsdiplomatie, der zunehmenden transnationalen Repression und der Bereitschaft autokratischer Führer, Rechte zu opfern, um die eigene Macht zu festigen.

Dies ist jedoch kein Grund, die Menschenrechtsprinzipien aufzugeben. Diese sind nach wie vor ein Fahrplan für den Aufbau florierender, inklusiver Gesellschaften. Regierungen sollten die Menschenrechte mit der notwendigen Dringlichkeit, Entschlossenheit und Beharrlichkeit respektieren, schützen und verteidigen, um den globalen und existenzbedrohenden Herausforderungen, mit denen unsere Menschlichkeit konfrontiert ist, begegnen zu können.

Der Preis der selektiven Empörung

Die Angriffe der von der Hamas geführten Kämpfer auf Israel am 7. Oktober waren ein entsetzlicher Anschlag auf die Zivilbevölkerung. Die Hamas und andere bewaffnete palästinensische Gruppen töteten vorsätzlich Hunderte Zivilist*innen, erschossen Familien in ihren Häusern und nahmen mehr als 200 Menschen als Geiseln, darunter Kinder, ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen. Bewaffnete palästinensische Gruppen feuerten Tausende von Raketen auf israelische Gemeinden ab. Viele Länder haben diese grausamen Taten schnell und zu Recht verurteilt.  

Ein auf dem Boden liegender Teddybär am 1. November 2023 in Holit, Israel, in der Nähe des Luftschutzbunkers eines Kibbuzhauses, das am 7. Oktober von Hamas-Kämpfern angegriffen wurde. 

© 2023 Alexi J. Rosenfeld/Getty Images
Police officers evacuate a woman and a child from a site hit by a rocket fired from the Gaza Strip, in Ashkelon, southern Israel, on October 7, 2023.
Photographs of people taken as hostages during the October 7 attack by Hamas-led fighters in Tel Aviv, Israel, November 3, 2023,
ZUERST: Polizisten evakuieren eine Frau und ein Kind aus einem Gebäude, das am 7. Oktober 2023 in Aschkelon im Süden Israels von einer aus dem Gazastreifen abgefeuerten Rakete getroffen wurde. © 2023 AP Photo/Tsafrir Abayov ZWEITENS: Fotos von Menschen, die während des Angriffs am 7. Oktober von Hamas-geführten Kämpfern als Geiseln genommen wurden, bei einer Demonstration in Tel Aviv, Israel, am 3. November 2023, die vom Forum der Geiseln und vermissten Familien organisiert wurde, um ihre Freilassung zu fordern. © 2023 Tamar Shemesh/Middle East Images/AFP via Getty Images

Die israelische Regierung reagierte, indem sie den 2,3 Millionen Zivilist*innen im Gazastreifen die Wasser- und Stromversorgung abstellte und die Zufuhr von Treibstoff, Lebensmitteln und humanitärer Hilfe fast vollständig blockierte - eine Form der kollektiven Bestrafung, die ein Kriegsverbrechen darstellt. Das israelische Militär wies mehr als eine Million Menschen in Gaza an, ihre Häuser zu evakuieren, und bombardierte dicht besiedelte Gebiete mit schweren Waffen, wobei Tausende Zivilist*innen, darunter auch Kinder, getötet und ganze Wohnblocks in Schutt und Asche gelegt wurden. Angriffe auf Wohngebiete, bei denen Sprengwaffen mit großflächiger Wirkung eingesetzt werden, geben Anlass zu ernster Sorge über wahllose Angriffe und stellen mutmaßliche Kriegsverbrechen dar. Israel setzte sowohl im Gazastreifen als auch im Südlibanon weißen Phosphor ein, eine Chemikalie, die schwere Verbrennungen bei Menschen erzeugt und lebenslanges Leid verursachen kann.

Ein Mann umarmt den leblosen Körper eines Kindes, während Palästinenser*innen, die bei israelischen Angriffen getötet wurden, am 22. November 2023 aus der Leichenhalle des Al-Aqsa-Märtyrer-Krankenhauses in Deir al Balah, Gaza, zur Beisetzung herausgebracht werden. 

© 2023 Mustafa Hassona/Anadolu via Getty Images
Palestinian children fleeing from Israeli bombardment in Rafah in the southern Gaza Strip on November 6, 2023.
Airbursts of artillery-fired white phosphorus fall over the Gaza city port, October 11, 2023.
ZUERST: Palästinensische Kinder auf der Flucht vor israelischem Bombardement in Rafah im südlichen Gazastreifen am 6. November 2023. © 2023 Mohammed Abed/ AFP via Getty Images ZWEITENS: Artilleriebeschuss mit weißem Phosphor fällt am 11. Oktober 2023 auf den Hafen von Gaza-Stadt. © 2023 Mohammed Adeb/AFP via Getty Images

Viele Regierungen, die die Kriegsverbrechen der Hamas verurteilt haben, reagierten zurückhaltend auf die Verbrechen der israelischen Regierung. Die mangelnde Bereitschaft dieser Regierungen, die Übergriffe Israels als solche zu benennen und anzuprangern, ist eine Folge der Verweigerungshaltung der USA und der meisten EU-Mitgliedsländer, auf ein Ende der 16-jährigen rechtswidrigen Abriegelung des Gazastreifens durch die israelische Regierung zu drängen und die anhaltenden Verbrechen gegen die Menschlichkeit der Apartheid und der Verfolgung gegen die Palästinenser*innen anzuerkennen.

Es ist offensichtlich, dass Menschenrechte im Namen der Politik aufs Spiel gesetzt werden, wenn viele Regierungen die zunehmende Unterdrückung durch die chinesische Regierung, die willkürliche Inhaftierung von Menschenrechtsverteidiger*innen und die immer wachsende Kontrolle über die Zivilgesellschaft, die Medien und das Internet, insbesondere in Xinjiang und Tibet, nicht öffentlich thematisieren. Die kulturelle Verfolgung und willkürliche Inhaftierung von einer Million Uigur*innen und anderen turkstämmigen Muslimen durch die chinesischen Behörden stellt ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar. Doch viele Regierungen, auch in überwiegend muslimischen Ländern, schweigen hierzu.

Muslimische Gläubige in China versammeln sich vor dem Hissen der Nationalflagge vor dem Eid al-Fitr-Gebet in der historischen Niujie-Moschee am 22. April 2023 in Peking, China.

© 2023 Kevin Frayer/Getty Images

Diese selektive Empörung untergräbt die Menschenrechte nicht nur der Palästinenser*innen in Gaza und der Uigur*innen in China, sondern aller schutzbedürftigen Menschen weltweit. Sie vermittelt die Botschaft, dass die Würde bestimmter Menschen schützenswerter ist als die anderer und somit, dass nicht alle Menschenleben gleich viel wert sind.

Die Auswirkungen dieser Doppelmoral erschüttern die Legitimität des Regelwerks, auf das wir uns zum Schutz der Rechte aller verlassen. Regierungen wie Russland und China versuchen dann, diese geschwächte Legitimität als Waffe einzusetzen, um die regelgestützte Ordnung umzugestalten, sie von Menschenrechtswerten zu lösen und das System zu untergraben, das sie für ihre zahllosen Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft ziehen könnte.

Jede Regierung hat die Verantwortung Menschenrechtsprinzipien anzuwenden, um Menschenrechtskrisen zu bewältigen. Die Menschen im Sudan haben darunter gelitten, dass die internationale Aufmerksamkeit, das Engagement und die Führungsstärke fehlten, die weit verbreiteten Menschenrechtsverletzungen im Konflikt des Landes anzugehen.

Im April 2023 brach im Sudan ein bewaffneter Konflikt aus, als die beiden mächtigsten sudanesischen Generäle gegeneinander um die Macht zu kämpfen begannen. Dieser Machtkampf zwischen dem Anführer der Streitkräfte, General Abdelfattah al-Burhan, und dem Anführer der sog. Schnellen Eingreiftruppe, General Mohamed „Hemedti“ Hamdan Dagalo, entfachte Kämpfe, die zu massiven Angriffen auf die Zivilbevölkerung führten, vor allem in der Region Darfur. Diese Übergriffe entsprechen jenen, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten von Kräften begangen wurden, die den beiden Generälen treu ergeben waren und für die nie jemand zur Rechenschaft gezogen wurde.

Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) hat Haftbefehle für frühere Verbrechen in Darfur erlassen, und der IStGH-Chefankläger verkündete im Juli, auch für aktuelle Verbrechen in Darfur zuständig zu sein. Die sudanesischen Behörden haben die Bemühungen des IStGH jedoch wiederholt behindert, und der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat praktisch nichts unternommen, um gegen die Unnachgiebigkeit der Regierung vorzugehen. Die daraus resultierende Straflosigkeit - mit Ausnahme eines Prozesses gegen einen Milizenführer vor dem IStGH - hat zu wiederholten Zyklen der Gewalt im Sudan geführt, darunter auch der aktuelle Konflikt. 2023, als im Sicherheitsrat auch afrikanische Länder wie Gabun, Ghana und Mosambik vertreten waren, beendeten die Vereinten Nationen auf Drängen der sudanesischen Regierung ihre politische Mission im Sudan und zogen die wenigen verbliebenen Ressourcen der Vereinten Nationen im Land ab, die Zivilist*innen schützten und öffentlich über die Rechtslage berichteten.

Sudanese women and children who fled the conflict in Geneina, in Sudan's Darfur region, line up at the water point in Adre, Chad, July 30, 2023.
A 24-year-old woman, who said she was raped by militiamen in El Geneina, West Darfur, sits outside a makeshift shelter in Adre, Chad, July 21, 2023.
ZUERST: Sudanesische Frauen und Kinder, die vor dem Konflikt in Geneina in der sudanesischen Region Darfur geflohen sind, stellen sich am 30. Juli 2023 an der Wasserstation in Adre im Tschad an. © 2023 Zohra Bensemra/Reuters ZWEITENS: Eine 24-jährige Frau, die angibt, von Militärangehörigen in El Geneina, West-Darfur, vergewaltigt worden zu sein, sitzt vor einer Notunterkunft in Adre, Tschad, 21. Juli 2023. © 2023 Zohra Bensem- ra/Reuters

Forderungen, der Rechenschaftspflicht im UN-Menschenrechtsrat nach dem Wiederaufflammen der Gewalt im Sudan Vorrang einzuräumen, stießen auf starken Widerstand seitens arabischer Staaten und wurden von den afrikanischen Regierungen weitgehend zurückgewiesen. Westliche Regierungen zögerten zunächst, auf einen Mechanismus zur Rechenschaftspflicht im Sudan zu drängen, da sie nicht bereit waren, ähnliche Ressourcen oder Anstrengungen zu unternehmen, die sie für ein ähnliches Gremium für die Ukraine unmittelbar nach Beginn der russischen Invasion im Jahr 2022 aufgewendet hatten.

Eine Gruppe von Ländern brachte schließlich genügend Stimmen zusammen, um einen Mechanismus zu schaffen, der Beweise für Verbrechen sammeln und sichern soll. Keine einzige afrikanische Regierung stimmte dafür, einige enthielten sich bei der Abstimmung. Die sudanesische Regierung hat deutlich gemacht, dass sie den Mechanismus nicht unterstützen wird, der deshalb außerhalb des Landes agieren wird.

Dennoch ergreifen afrikanische Regierungen in einigen Fragen positive Maßnahmen für die Menschenrechte. So unterstützen sie mit überwältigender Mehrheit Resolutionen des Menschenrechtsrats, die sich mit der Menschenrechtslage in Palästina befassen, während westliche Staaten diese ablehnten. Im November führte die südafrikanische Regierung eine Initiative an, die von den IStGH-Mitgliedsländern Bangladesch, Bolivien, Venezuela, Komoren und Dschibuti unterstützt wurde, um die Ermittlungen des IStGH-Chefanklägers in Palästina zu unterstützen. Im Dezember reichte die südafrikanische Regierung beim Internationalen Gerichtshof eine Beschwerde wegen Verletzung der Völkermordkonvention von 1948 durch die israelischen Militäroperationen in Gaza ein. Sie forderte den Gerichtshof außerdem auf, vorläufige Maßnahmen zu verhängen, die Israel dazu verpflichten sollen, Handlungen zu unterlassen, die gegen die Völkermordkonvention verstoßen könnten, solange der Gerichtshof über den Fall verhandelt.

Alle Regierungen können zum Schutz der Zivilbevölkerung eine Führungsrolle bei den Menschenrechten übernehmen. Die Herausforderung - und die Dringlichkeit - besteht darin, dies konsequent und prinzipientreu zu tun, unabhängig davon, wer Täter und wer Opfer ist.  

Die Kurzsichtigkeit der Transaktionsdiplomatie

Regierungen sollten die Achtung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit in den Mittelpunkt ihrer innen- und außenpolitischen Entscheidungen stellen. Leider behandeln selbst Regierungen, die sonst Menschenrechte achten, diese Grundprinzipien manchmal als optional und suchen nach kurzfristigen, politisch zweckmäßigen „Lösungen“ auf Kosten von Institutionen, die langfristig für Sicherheit, Wirtschaft, Energie und Migration von Nutzen wären. Die Menschen zahlen einen hohen Preis für diese Transaktionsdiplomatie, und zwar innerhalb und außerhalb der jeweils eigenen Grenzen.

Beispiele für eine solche Transaktionsdiplomatie gibt es viele.

So hat US-Präsident Joe Biden wenig Bereitschaft gezeigt, Menschenrechtsverletzungen anzuprangern oder zu sanktionieren, wenn die Verantwortlichen für seine innenpolitische Agenda wichtig sind oder als Bastion gegen China gelten. Verbündete der USA wie Saudi-Arabien, Indien und Ägypten verletzen massiv die Rechte ihrer Bevölkerung, konnten aber trotzdem ohne weiteres ihre Beziehungen zu den USA vertiefen. Vietnam, die Philippinen, Indien und andere Länder, die die USA als Gegenspieler Chinas sehen wollen, wurden im Weißen Haus gefeiert, ungeachtet der Menschenrechtsverletzungen im jeweiligen Land.

Auch in der Migrationsfrage zögert Washington, Mexiko zu kritisieren, auf das es sich stützt, um Migrant*innen und Asylsuchende an der Einreise in die USA zu hindern. Die Regierung Biden und die des mexikanischen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador haben gemeinsam daran gearbeitet, Zehntausende Migrant*innen in den USA nach Mexiko auszuweisen oder abzuschieben und Tausende weitere daran zu hindern, die USA zu erreichen, um dort Sicherheit zu suchen, wohl wissend, dass sie in Mexiko dem Risiko von Entführung, Erpressung, Übergriffen und anderen Misshandlungen ausgesetzt sind. Biden hat weitgehend geschwiegen, als López Obrador versucht hat, die Unabhängigkeit der mexikanischen Justiz und anderer Verfassungsorgane zu untergraben, Journalist*innen und Menschenrechtsaktivist*innen zu dämonisieren und dem Militär zu ermöglichen, eine Rechenschaftspflicht bei schweren Menschenrechtsverletzungen zu blockieren.

Journalists and activists hold pictures of murdered journalists during a protest outside the Interior Ministry building, to demand justice for the killing of Mexican journalist Luis Martin Sanchez Iniguez, Mexico City, Mexico, July 10, 2023. 
Migrant and asylum-seeker families navigate miles of concertina wire, ladened on the bank of the Rio Grande River, while searching for a clearance to enter the United States from Mexico in Eagle Pass, Texas, US, July 28, 2023. 
ZUERST: Journalist*innen und Aktivist*innen halten Bilder von ermordeten Journalist*innen während einer Demonstration vor dem Gebäude des Innenministeriums hoch, um Gerechtigkeit für die Ermordung des mexikanischen Journalisten Luis Martin Sanchez Iniguez zu fordern, Mexiko-Stadt, Mexiko, 10. Juli 2023© 2023 Raquel Cunha/Reuters ZWEITENS: Migrant*innen und asylsuchende Familien durchqueren kilometerlangen Ziehharmonika-Draht, der am Ufer des Rio Grande Flusses gespannt ist, während sie auf eine Einreisegenehmigung für die Vereinigten Staaten von Mexiko in Eagle Pass, Texas, USA, 28. Juli 2023 warten. © 2023 Reuters/Adrees Latif

Die EU hat ihre eigene Art von Transaktionsdiplomatie, die darauf abzielt, ihre Menschenrechtsverpflichtungen gegenüber Asylsuchenden und Migrant*innen, insbesondere aus Afrika und dem Nahen Osten, zu umgehen. Die bevorzugte Reaktion der Mitgliedstaaten besteht darin, die Menschen in andere Länder abzuschieben oder Deals mit menschrechtsverletzenden Regierungen wie Libyen, der Türkei und zuletzt Tunesien zu schließen, um Migrant*innen aus dem Europäischen Raum fernzuhalten. Einige EU-Mitgliedstaaten, darunter Frankreich, Griechenland, Ungarn und Italien, handelten besonders perfide, indem sie sogar Maßnahmen ergriffen, um diejenigen zu bestrafen, die Migrant*innen und Asylsuchenden, die auf irregulärem Wege einreisen, humanitäre Hilfe und Unterstützung zukommen lassen.

Der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis geht während der Feierlichkeiten zur Unterzeichnung der Erweiterung des Stahlzauns an der Grenze zur Türkei in Feres am 31. März 2023 neben einem Stahlzaun her. 

© 2023 Sakis Mitrolidis/AFP via Getty Images
The Spanish NGO Open Arms rescues 178 migrants and asylum seekers of different 14 nationalities in international waters, September 30, 2023. 
French National Police officers drive a buggy vehicle as they patrol the beach to prevent migrants or asylum seekers from boarding smugglers' boats on the beach of Gravelines, northern France, June 23, 2023.
ZUERST: Die spanische NGO Open Arms rettet 178 Migrant*innen und Asylsuchende aus 14 verschiedenen Ländern in internationalen Gewässern, 30. September 2023.  © 2023 Jose Colon/Anadolu Agency via Getty Images ZWEITENS: Beamte der französischen Nationalpolizei patrouillieren am 23. Juni 2023 am Strand von Gravelines in Nordfrankreich mit einem Buggy, um zu verhindern, dass Migrant*innen und Asylsuchende in die Boote von Schmugglern steigen. Seit dem Schiffsunglück, bei dem im November 2021 27 Menschen starben, wurde die Überwachung der Überfahrten verstärkt. © 2023 Sameer Al-Doumy/AFP via Getty Images

Demokratische Regierungen im asiatisch-pazifischen Raum, darunter Japan, Südkorea und Australien, räumen den Menschenrechten wiederholt weniger Priorität ein, wenn es darum geht, militärische Allianzen mit sicherheitspolitischen Partnern wie Thailand und den Philippinen zu sichern, dem Einfluss der chinesischen Regierung mit Regierungen in Sri Lanka und Nepal entgegenzuwirken und Handels- und Wirtschaftsabkommen mit wenigen oder gar keinen Menschenrechtsverpflichtungen in schnell wachsenden Volkswirtschaften wie Vietnam und Indonesien abzuschließen.

Transaktionsdiplomatie mit Scheuklappen zu betreiben, ist gefährlich. Der Versuch, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit von eher „pragmatischen“ Entscheidungen zu trennen, verschenkt wertvolle Einflussmöglichkeiten auf die Praktiken und die Politik von Regierungen, welche die Menschenrechte verletzen. Zudem kann diese Art von Diplomatie zu weiteren Menschenrechtsverletzungen, einschließlich transnationaler Unterdrückung, beitragen.

Das alarmierende Ausmaß transnationaler Unterdrückung

Regierungen verüben transnationale Unterdrückung, auch bekannt als extraterritoriale Repression, wenn sie Menschenrechtsverletzungen gegenüber ihren im Ausland lebenden Staatsangehörigen oder deren Familienmitgliedern im Inland begehen. Dieses Phänomen gibt es zwar schon lange, aber die vermehrte Kommunikation, Reisetätigkeit und der Einsatz neuer Technologien haben eine größere Zahl rechtswidriger Praktiken ermöglicht, darunter willkürliche Abschiebungen, Entführungen und Tötungen.

Unter Premierminister Narendra Modi ist die indische Demokratie in Richtung Autokratie abgerutscht. Die Behörden nehmen Minderheiten ins Visier, verschärfen die Unterdrückung und bauen unabhängige Institutionen ab, darunter auch staatliche Ermittlungsbehörden. Während der Gipfeltreffen mit Modi sprachen seine Amtskollegen in den USA, Australien, Großbritannien und Frankreich die Menschenrechtslage nicht öffentlich an und räumten stattdessen dem Handel und der Sicherheit Priorität ein. Der französische Präsident Emmanuel Macron verlieh Modi während der Feierlichkeiten zum Nationalfeiertag am 14. Juli sogar den Orden der Ehrenlegion, Frankreichs höchsten Verdienstorden.

Das Schweigen über die sich verschlechternde Rechtsbilanz der indischen Regierung scheint die Modi-Regierung ermutigt zu haben, ihre repressiven Taktiken über Indiens Grenzen hinaus auszuweiten, auch um Aktivist*innen und Akademiker*innen in der Diaspora einzuschüchtern oder ihre Einreise nach Indien zu beschränken.

Im März blockierten indische Behörden die Nachrichten mehrerer prominenter kanadischer Twitter-Nutzer*innen, die der indischen Regierung kritisch gegenüberstehen. Im September beschrieb Kanadas Premierminister Justin Trudeau „glaubwürdige Behauptungen“, dass Agenten der indischen Regierung in die Ermordung eines separatistischen Sikh-Aktivisten in Kanada verwickelt seien. Indien bestritt diese Vorwürfe. Im November erhoben die US-Behörden Anklage gegen einen Mann wegen eines gescheiterten Komplotts mit einem indischen Regierungsbeamten zur Ermordung eines separatistischen Sikh-Aktivisten in den USA.

Demonstrators carry out a candlelight protest over the sexual assault case of two Kuki community women, during ethnic clashes between Meitei-Kuki community in Manipur, July 26, 2023 in Guwahati, India.
Activists of the Dal Khalsa Sikh organization, a pro-Khalistan group, stage a demonstration demanding justice for Sikh separatist Hardeep Singh Nijjar, who was killed in June 2023 near Vancouver, Canada, September 29, 2023.
ZUERST: Demonstrierende protestieren am 26. Juli 2023 in Guwahati, Indien, bei Kerzenschein wegen des sexuellen Übergriffs auf zwei Frauen aus der Kuki-Gemeinschaft bei ethnischen Zusammenstößen zwischen der Meitei-Kuki-Gemeinschaft in Manipur. © 2023 David Talukdar/NurPhoto via Getty Images ZWEITENS: Aktivist*innen der Dal Khalsa Sikh-Organisation, einer Pro-Khalistan-Gruppe, demonstrieren für Gerechtigkeit für den Sikh-Separatisten Hardeep Singh Nijjar, der im Juni 2023 in der Nähe von Vancouver, Kanada, getötet wurde, nachdem er am 29. September 2023 im Akal Takht Sahib im Goldenen Tempel in Amritsar gebetet hatte© 2023 Narinder Nanu/AFP via Getty Images

Indiens transnationale Unterdrückung ist kein Einzelfall. Drei Jahrzehnte Straffreiheit für die Unterdrückung bürgerlicher und politischer Rechte im eigenen Land haben Ruandas Regierung dazu ermutigt, kritische Stimmen auch außerhalb der Landesgrenzen zum Schweigen zu bringen. Während Ruanda auf der internationalen Bühne immer stärker in Erscheinung tritt, multilaterale Institutionen leitet und zu einem der größten afrikanischen Geber für friedenserhaltende Maßnahmen geworden ist, haben die Vereinten Nationen und Ruandas internationale Partner bislang weder das Ausmaß noch die Schwere der Menschenrechtsverletzungen im Land anerkannt.   

Die ruandische Regierung hat mehr als ein Dutzend Entführungen oder versuchte Entführungen, gewaltsames Verschwindenlassen, Angriffe, Drohungen und Tötungen sowie Schikanen gegen ruandische Staatsangehörige verübt, die als regierungskritisch gelten und in Australien, Belgien, Kanada, Frankreich, Kenia, Mosambik, Südafrika, Tansania, Uganda, dem Vereinigten Königreich und den USA leben. Ihre in Ruanda lebenden Verwandten stehen ebenfalls unter intensiver Beobachtung und sind von Menschenrechtsverletzungen bedroht.

In ähnlicher Weise hat das Versäumnis der internationalen Gemeinschaft, sich gegen die Übergriffe der chinesischen Regierung zu wehren, stillschweigend zugelassen, dass Peking seine Repressionen gegenüber chinesischen und nicht-chinesischen Menschen sowie Institutionen, die der regierenden Kommunistischen Partei Chinas kritisch gegenüberstehen, eskalieren und exportieren konnte. Pro-demokratische Studierende und Akademiker*innen an westlichen Universitäten wurden schikaniert, überwacht und eingeschüchtert, weil sie die Missstände der chinesischen Regierung in Hongkong, Tibet oder Xinjiang anprangerten. Die chinesische Regierung hat Regierungen unter Druck gesetzt, Menschenrechtsverteidiger*innen wie den Anwalt Lu Siwei aus Laos unter Zwang zurückzuführen. Und in einem eklatanten Versuch, die internationale Kritik an der Demontage der Demokratie in Hongkong durch die chinesische Regierung zu unterdrücken, haben die dortigen Behörden haltlose Haftbefehle und Kopfgelder in Höhe von 1 Million HK$ (120.000 EUR) auf acht Demokratieaktivist*innen und ehemalige Exilabgeordnete ausgesetzt.

Der 34. Jahrestag der Niederschlagung der Ereignisse auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989 und der erste Jahrestag seit der Aufhebung der Covid-19-Beschränkungen wurde in Hongkong am 4. Juni 2023 mit verstärkter Polizeipräsenz, Durchsuchungen und Verhaftungen begangen. 

© 2023 Simon Jankowski/NurPhoto via Getty Images

Wenn repressive Regierungen mit solch drastischen Maßnahmen durchkommen, um Menschenrechtsaktivist*innen, Exilpolitiker*innen, Journalist*innen und Kritiker*innen jenseits ihrer Grenzen zum Schweigen zu bringen, dann ist kein Land mehr sicher.

Macht geht über Menschenrechte 

Dieses Jahr ist weltweit fast die Hälfte der Bevölkerung bei nationalen Wahlen wahlberechtigt. Sofern sie frei und fair sind, können Wahlen ein entscheidender Ausdruck des öffentlichen Willens sein, wenn es um die Prioritäten und Werte eines Landes geht. Aber eine verantwortungsvolle Regierungsführung - bei der die Regierungen Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit in den Mittelpunkt ihrer Politik und Entscheidungsfindung stellen - hängt von viel mehr ab als nur dem Gang zur Wahlurne.

Unabhängige Institutionen, welche die Menschenrechte achten, darunter die Justiz, Ombudsleute und Menschenrechtskommissionen, können wirksam vor willkürlichen Entscheidungen schützen, Übergriffe durch den Gesetzgeber eindämmen und die Rechtsstaatlichkeit aufrechterhalten. Eine aktive und unabhängige Zivilgesellschaft ist von entscheidender Bedeutung, um sicherzustellen, dass die Entscheidungen derjenigen, die politische Macht ausüben, dem öffentlichen Interesse dienen. Doch die Zivilgesellschaft und die Institutionen, die für den Schutz der Rechte und der freien Gesellschaft notwendig sind, sind erneut zur Zielscheibe für autokratische Führer auf der ganzen Welt geworden, die jegliche Kontrolle über ihre Entscheidungen und Handlungen verhindern wollen.

In Tunesien hat der 2019 gewählte Präsident Kais Saied solche Kontrollmechanismen nach und nach abgeschafft, indem er unter anderem die Justiz schwächte, gegen politische Gegner*innen und vermeintliche Kritiker*innen vorging und die Meinungs- und Pressefreiheit angriff.

El Salvadors Präsident Nayib Bukele hat Massenverhaftungen von Menschen mit meist geringem Einkommen als angebliche Lösung für die hohe Kriminalität im Land eingesetzt. Er hat dieses harte Vorgehen genutzt, um seine Macht zu festigen und auszuweiten. Geholfen hat ihm hierbei die Abschaffung des Obersten Gerichtshofs und die faktische Kontrolle über die gesamte Justiz. Der peruanische Kongress hat Maßnahmen ergriffen, um andere demokratische Institutionen zu untergraben und die Rechenschaftspflicht der Gesetzgeber einzuschränken, indem er u.a. versucht hat, Mitglieder des Nationalen Justizrates abzusetzen, eines Gremiums, das die Unabhängigkeit von Richter*innen, Staatsanwält*innen und Wahlbehörden schützen soll.

Tunisian judges and lawyers gather in a protest calling on authorities for independence in the judiciary, in Tunis on June 1, 2023.
People take part in a protest demanding the release of relatives who were arrested during the state of emergency decreed by Salvadoran authorities to fight criminal groups, in San Salvador, on November 18, 2023. 
ZUERST: Tunesische Richter*innen und Anwält*innen versammeln sich am 1. Juni 2023 in Tunis zu einer Demonstration, bei der sie die Behörden zur Unabhängigkeit der Justiz auffordern. Seit Mitte Februar haben die Behörden viele prominente Gegner*innen von Präsident Kais Saied verhaftet, der ihnen öffentlich eine Verschwörung gegen den Staat vorwarf und sie als "Terrorist*innen" bezeichnete. © 2023 by Fethi Belaid/AFP via Getty Images ZWEITENS: Menschen protestieren am 18. November 2023 in San Salvador für die Freilassung von Angehörigen, die während des Ausnahmezustands verhaftet wurden, den die salvadorianischen Behörden zur Bekämpfung krimineller Gruppen verhängt haben© 2023 Recinos/AFP via Getty Images

In Guatemala drohte eine weitgehend von Politiker*innen und anderen korrupten Akteur*innen vereinnahmte Justiz, den Amtsantritt des neu gewählten Präsidenten Bernardo Arévalo, der mit einem Anti-Korruptionsprogramm in den Wahlkampf gezogen war, zu verhindern. In Nicaragua, wo Präsident Daniel Ortega und seine Frau, die Vizepräsidentin Rosario Murillo, ihre Macht praktisch unkontrolliert ausüben können, hat die Regierung auf der Grundlage menschenrechtsverletzender Gesetze mehr als 3.500 Nichtregierungsorganisationen geschlossen. Dies entspricht etwa der Hälfte aller registrierter Gruppen im Land.

Die schleichende Abschaffung dieser so wichtigen Kontrollorgane und -mechanismen kann verheerende Folgen für die Menschenrechte und die Rechtsstaatlichkeit haben.

In Thailand hat das politisch korrumpierte Verfassungsgericht den Willen des thailändischen Volkes bei den Wahlen 2023 unterlaufen, als es den Spitzenkandidaten für das Amt des Premierministers aufgrund falscher Anschuldigungen aus dem Parlament ausschloss. In Bangladesch hat die Regierung von Premierministerin Sheikh Hasina die Verhaftung von mehr als 10.000 Oppositionsführer*innen und -anhänger*innen im Vorfeld der Wahlen im Januar 2024 angeordnet, und eine der Premierministerin gefügige Justiz hat Hunderte von Kandidat*innen disqualifiziert.

Protesters during a pro-democracy march calling on senators to respect the results of the May 14, 2023 general election in Bangkok, Thailand, July 29, 2023.
Members of an opposition political party in Bangladesh try to remove barricades as they join in a mass protest march demanding a free and fair election, in Dhaka, Bangladesh, November 15, 2023. 
ERSTENS: Demonstrierende, die mit ihren Handys während eines Protestmarsches in Bangkok blinken, fordern die Abgeordneten auf, die Ergebnisse der Parlamentswahlen vom 14. Mai zu respektieren und Pita Limjaroenrat - den Premierministerkandidaten der Partei Move Forward, dessen Partei die meisten Parlamentssitze gewann - zu unterstützen. © 2023 Peerapon Boonyakiat/SOPA Images/ LightRocket via Getty Images ZWEITENS: Mitglieder einer Oppositionspartei in Bangladesch versuchen, Barrikaden zu entfernen, während sie an einem Massenprotestmarsch teilnehmen, der freie und faire Wahlen fordert, in Dhaka, Bangladesch, am 15. November 2023© 2023 Reuters/Mohammad Ponir Hossain

Zwar wurde in Polen Ende 2023 eine neue Regierung gewählt, die vorherige Regierungspartei PiS (kurz für Prawo i Sprawiedliwość; dt.: Recht und Gerechtigkeit) hat jedoch die Rechtsstaatlichkeit systematisch ausgehöhlt, indem sie die Unabhängigkeit der Justiz untergraben und unabhängige zivilgesellschaftliche Gruppen und andere kritische Stimmen zum Schweigen gebracht hat, auch durch die Gerichte und die Polizei. Die Vereinnahmung des Justizsystems durch die ehemalige Regierungspartei ermöglichte ihr auch die charakteristischen Angriffe auf die sexuellen und reproduktiven Rechte von Frauen.

Der Preis hierfür lässt sich tatsächlich in Menschenleben beziffern: Nach einem Urteil des politisch kompromittierten Verfassungsgerichts aus dem Jahr 2020, das den legalen Schwangerschaftsabbruch in Polen praktisch verbot, starben mindestens sechs Frauen, nachdem Ärzt*innen ihre Schwangerschaften trotz Komplikationen nicht abgebrochen hatten. Im Mai 2023 wurde eine Aktivistin für Abtreibungsrechte zu acht Monaten gemeinnütziger Arbeit verurteilt, weil sie einer Frau geholfen hatte, Abtreibungspillen zu besorgen - die erste bekannte Strafverfolgung dieser Art in der EU. Polens neue Regierung wird die schwierige Aufgabe haben, die Unabhängigkeit der wichtigsten Institutionen, einschließlich der Justiz, wiederherzustellen. Dies wird vermutlich Jahre dauern.

Nach dem Tod einer schwangeren Frau in einem Krankenhaus in Nowy Targ, einer Stadt in Südpolen, gingen am 24. Mai 2023 Tausende in Städten in ganz Polen auf die Straße, um gegen das fast vollständige Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen zu protestieren. 

© 2023 Attila Husejnow/SOPA Images/LightRocket via Getty Images

In den USA haben die bundesstaatlichen Gesetzgeber und Gerichte Gesetze zur Verhinderung rassistischer Diskriminierung bei Wahlen, wie z.B. den Voting Rights Act, fast bis zur Unwirksamkeit aufgeweicht. In Florida und anderen US-Bundesstaaten schränkt Bildungszensur Menschen in ihren Möglichkeiten ein, sich über Sexualität und Geschlechtsidentität sowie über die Geschichte der Sklaverei und des Rassismus in den USA zu informieren. Die Politiker*innen wissen dass genaue Informationen zu diesen Themen ein Faktor sind, der die Menschen dazu anregt, sich zivilgesellschaftlich zu engagieren und Behörden in die Pflicht zu nehmen. Etwa 4,6 Millionen Menschen in den USA, darunter überproportional viele Schwarze, waren 2022 gemäß US-Gesetzen rechtlich entmündigt, nachdem sie wegen einer Straftat verurteilt worden waren.

Menschen nehmen an der Demonstration des National Action Network teil, als Reaktion auf Floridas Gouverneur Ron DeSantis' Ablehnung eines Geschichtskurses über afroamerikanische Geschichte an der High School, Tallahassee, Florida, 15. Februar 2023. 

© 2023 Alicia Devine/Tallahassee Democrat via AP Photo

Währenddessen hat das verstärkte zivilgesellschaftliche Engagement angesichts der Dringlichkeit der Klimakrise dazu geführt, dass Aktivist*innen mit diffusen Gesetzen ins Visier genommen wurden, um es ihnen zu erschweren, ihre Meinung zu äußern. Quer durch Europa, in den USA, Australien und Vietnam verhängen Regierungen harte und unverhältnismäßige Maßnahmen, um Aktivist*innen zu bestrafen und die Klimabewegung einzuschüchtern. Die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), einer der größten Erdölproduzenten der Welt, waren Gastgeber der UN-Klimakonferenz COP28 im Jahr 2023 - ein offensichtlicher Versuch, das eigene Image aufzupolieren, während sie gleichzeitig den Ausbau fossiler Brennstoffe vorantreiben und die Bemühungen zur Bewältigung der Klimakrise untergraben. Menschen, die versuchen, ihre Meinung über die Rechtsbilanz der VAE zu äußern, laufen Gefahr, rechtswidrig überwacht, willkürlich festgenommen, inhaftiert und misshandelt zu werden.

Regierungen nutzen zunehmend Technologieplattformen, um Kritiker*innen zum Schweigen zu bringen und abweichende Meinungen zu zensieren. Vor allem in Ländern, in denen es keine unabhängige Justiz oder Aufsicht gibt, können Regierungen Gesetze erlassen, die zu Fallen für Kritiker*innen, Aktivist*innen und arglose Internetnutzer*innen werden. Ein besonders erschreckendes Beispiel ist das von Saudi-Arabien verhängte Todesurteil gegen Muhammad al-Ghamdi, einen 54-jährigen pensionierten Lehrer, wegen Verstoßes gegen das Anti-Terror-Gesetz des Landes aufgrund seiner friedlichen Äußerungen auf X und YouTube.  

Monate vor den Wahlen im Mai 2023 verschärfte das türkische Parlament die Kontrolle sozialer Medien und führte einen neuen Straftatbestand zu Meinungsäußerungen ein, angeblich, um die Verbreitung von Fake News im Internet zu bekämpfen. In der Praxis fügten die Gesetze dem bestehenden Arsenal an Online-Zensurgesetzen weitere Beschränkungen für den Zugang zu Informationen hinzu und drohten Tech-Unternehmen schwere Strafen an, wenn sie den Forderungen nicht nachkamen, Nutzerdaten und Inhalte zu entfernen. Schließlich ergriff die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan Maßnahmen, um kritische Stimmen im Internet vor und während der Wahlen, welche die Regierungspartei schließlich gewann, weiter zu unterdrücken.

Wie sich Institutionen für die Menschenrechte einsetzten

Trotz aller Rückschläge im Jahr 2023 haben wir auch leuchtende Beispiele gesehen, bei denen Institutionen und Bewegungen Siege für die Menschenrechte errungen haben. Diese Erfolge verdeutlichen, warum selbstsüchtige Politiker*innen und repressive Regierungen so viel daransetzen, diese zu unterdrücken - und warum alle Regierungen diese Erfolge anerkennen und unterstützen sollten.

Im März erließ der IStGH einen Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin und seine Kinderrechtsbeauftragte Maria Lwowa-Belowa wegen Kriegsverbrechen im Zusammenhang mit der Verschleppung von Kindern aus den besetzten Gebieten der Ukraine nach Russland und dem Zwangstransfer von Kindern in andere von Russland besetzte Gebiete der Ukraine. Der Haftbefehl brachte die südafrikanische Regierung, die im August Gastgeberin eines BRICS-Gipfels (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) war, in ein diplomatisches Dilemma. Nach monatelangen widersprüchlichen Mitteilungen der südafrikanischen Behörden über die Verpflichtungen des Landes als Mitglied des Internationalen Strafgerichtshofs Putin zu verhaften, falls er nach Südafrika käme, wurde bekannt, dass Putin nicht persönlich an dem Gipfel teilnehmen würde. Zwei Tage später entschied das Oberste Gericht von Gauteng, dass Südafrika verpflichtet sei, Putin festzunehmen, und dass der IStGH-Haftbefehl im Land vollstreckt werden müsse.

Im November wies der Internationale Gerichtshof die syrische Regierung an, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um Folter und andere Misshandlungen zu verhindern. Der Fall vor dem UN-Gerichtshof ist ein entscheidendes Gegengewicht zu dem Bestreben mehrerer arabischer Länder, die Beziehungen zur syrischen Regierung zu normalisieren, obwohl es dort nach wie vor zu Menschenrechtsverletzungen kommt und die Verbrechen unter Präsident Bashar al-Assad kaum oder gar nicht geahndet werden. Es gibt auch Bestrebungen, Einzelpersonen für Folter und andere Gräueltaten in Syrien vor Gerichten in Deutschland, Schweden und Frankreich zur Verantwortung zu ziehen. Diese Fälle sind für die Opfer von entscheidender Bedeutung, damit die Verantwortlichen vor Gericht gestellt werden, und können dazu beitragen, dass Geflüchtete in diesen Ländern nicht in ein Land zurückgeschickt werden, in dem ihr Leben faktisch bedroht ist.

Der Oberste Gerichtshof Brasiliens hat die Rechte aller indigenen Völker auf ihr traditionelles Land bestätigt und damit die Bemühungen des Bundesstaates Santa Catarina vereitelt, die Landansprüche des indigenen Volkes der Xokleng anzufechten, wenn diese nicht nachweisen können, dass sie am 5. Oktober 1988, als die derzeitige brasilianische Verfassung verabschiedet wurde, physisch auf dem Land anwesend waren. Das Urteil war ein großer Erfolg für die indigenen Völker in ihrem Kampf um die Erhaltung ihrer Lebensweise. Es war auch für den Kampf gegen den Klimawandel von Bedeutung, da sich die Abgrenzung indigener Gebiete immer wieder als eines der wirksamsten Hindernisse gegen die Abholzung im Amazonasgebiet erwiesen hat. Dennoch reagierte die mächtige Agrarlobby im Kongress mit der Verabschiedung eines Gesetzes zur Einschränkung indigener Landansprüche, das der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs zuwiderläuft. Der Kongress kippte später ein Veto des Präsidenten gegen das Gesetz. Indigene Gruppen und andere erklärten, sie würden vor dem Obersten Gerichtshof Petitionen einreichen, um das Gesetz zu stoppen.

A protester stands in front of the International Court of Justice holding pictures of people she said were disappeared in Syria, The Hague, Netherlands, October 10, 2023. 
Brazilian Xokleng Indigenous people celebrate after Brazil's Supreme Court upheld Indigenous land rights, in Brasilia, Brazil, September 21, 2023. 
ERSTENS: Eine Demonstrierende steht vor dem Internationalen Gerichtshof und hält Bilder von Menschen hoch, die ihrer Aussage nach in Syrien verschwunden wurden. Den Haag, Niederlande, 10. Oktober 2023. © 2023 AP Photo/Peter DejongZWEITENS: Brasilianische Xokleng-Indigene feiern, nachdem der Oberste Gerichtshof Brasiliens die Landrechte der indigenen Bevölkerung bestätigt hat, in Brasilia, Brasilien, 21. September 2023. © 2023 Reuters/Ueslei Marcelino

Im November entschied das oberste Gericht des Vereinigten Königreichs einstimmig, dass Ruanda kein sicheres Drittland ist, in das die Regierung Asylsuchende abschieben darf, und hob ein Abkommen auf, mit dem die Zuständigkeiten des Vereinigten Königreichs im Asylbereich nach Ruanda verlagert wurden. Mit Hinweis auf die schlechte Menschenrechtslage in Ruanda und die Bedrohung von im Vereinigten Königreich lebenden Ruander*innen stellte das Gericht fest, dass Asylsuchende, die nach Ruanda geschickt werden, tatsächlich Gefahr laufen, in ihre Heimatländer zurückgeschickt zu werden, wo sie misshandelt werden könnten. Die Vereinbarung verstößt gegen die Verpflichtungen des Vereinigten Königreichs sowohl nach internationalem als auch nach nationalem Recht.

Die britische Regierung hat inzwischen ein Gesetz über die „Sicherheit Ruandas (Asyl und Einwanderung)“ ins Parlament eingebracht, um die Entscheidung des Gerichts zu umgehen. Das Vereinigte Königreich kann jedoch nicht per Gesetz die Tatsache umgehen, dass Ruanda Kritik mit Gewalt und Missbrauch, auch gegen Geflüchtete, begegnet.

Diese Erfolge verdeutlichen die enorme Macht unabhängiger, die Rechte achtender und inklusiver Institutionen und der Zivilgesellschaft, um diejenigen, die politische Macht ausüben, dazu anzuhalten, dem öffentlichen Interesse zu dienen und im Einklang mit den Menschenrechten zu agieren. Alle Regierungen sollten in ihren bilateralen Beziehungen und auf multilateraler Ebene ihre Anstrengungen maximieren, um wichtige Institutionen zu stärken und den zivilgesellschaftlichen Raum zu schützen, wo immer er bedroht ist.

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Die hier genannten Menschenrechtskrisen machen deutlich, wie dringend nötig es ist, dass alle Regierungen die seit langem bestehenden und gemeinsam vereinbarten Grundsätze der internationalen Menschenrechtsprinzipien überall und ausnahmslos anwenden. Eine prinzipientreue Diplomatie, bei der die Regierungen ihre Menschenrechtsverpflichtungen in ihren Beziehungen zu anderen Ländern in den Mittelpunkt stellen, kann repressives Verhalten beeinflussen und für die Menschen, deren Rechte gerade verletzt werden, von großer Bedeutung sein. Die Unterstützung von Institutionen, welche die Menschenrechte schützen und verteidigen, wird zur Förderung von Regierungen beitragen, welche selbst die Rechte achten. Die konsequente Durchsetzung der Menschenrechte, unabhängig davon, wer die Opfer sind oder wo die Menschenrechtsverletzungen begangen werden, ist der einzige Weg, um eine Welt zu schaffen, die für alle Menschen lebenswert ist.