(Den Haag) – Der Prozess gegen den ehemaligen Präsidenten der Republik Kosovo Hashim Thaçi und drei weitere Personen, die wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt sind, macht deutlich, dass der Kampf um Gerechtigkeit auch noch 24 Jahre nach dem Kosovo-Krieg weitergeht. Der Prozess vor den Kosovo-Sonderkammern in Den Haag hat am 3. April 2023 begonnen.
Thaçi, ehemaliger Präsident und Premierminister des Kosovo, ist zusammen mit drei weiteren hochrangigen Politikern und gleichzeitig Mitgliedern der Kosovo-Befreiungsarmee (UCK) wegen Verbrechen angeklagt, die während und kurz nach dem Kosovo-Konflikt 1998/99, auch in Nordalbanien, begangen wurden. 78 Tage währte der Kosovo-Krieg, in dem die UCK gegen serbische und jugoslawische Streitkräfte kämpfte, bis ein NATO-Lufteinsatz sie aus dem Kosovo vertrieb. Thaçi trat nach der Anklageerhebung im November 2020 als Präsident zurück und wurde umgehend nach Den Haag überstellt.
„In diesem Prozess werden vier Personen beschuldigt, während und nach dem Krieg, also nach dem Ende der Kampfhandlungen, schreckliche Verbrechen begangen zu haben, auch gegen Angehörige verschiedener ethnischer Gruppen“, sagte Hugh Williamson, Direktor der Abteilung Europa- und Zentralasien von Human Rights Watch. „Dieser Prozess gibt den Opfern nach so vielen Jahren Gelegenheit zu erfahren, was passiert ist. Er zeigt, dass der Kosovo-Konflikt, aber auch die Kriege im ehemaligen Jugoslawien im Allgemeinen, noch immer mit einer allumfassenden Straflosigkeit einhergehen.“
Der Kosovo-Konflikt war von unzähligen Kriegsverbrechen geprägt, die zum allergrößten Teil durch serbische und jugoslawische Streitkräfte begangen wurden, wie etwa Morde, Vergewaltigungen, Folter, Zwangsvertreibungen und die koordinierte Überführung von mehr als 1.000 Leichen nach Serbien, wo sie in Massengräbern verscharrt wurden. Die serbische Regierung hat sich stets geweigert, die Standorte der Gräber bekannt zu geben. Nur wenige serbische Militärs und Politiker wurden wegen Kriegsverbrechen im Kosovo-Konflikt vor Gericht gestellt, darunter der ehemalige serbische und jugoslawische Präsident Slobodan Milosevic.
Die Idee für die Kosovo-Sonderkammern geht auf einen Bericht des Schweizer Europarat-Abgeordneten Dick Marty aus dem Jahr 2010 zurück, der sich mit schweren Verbrechen befasste, die mutmaßlich während und kurz nach dem Krieg von einigen UCK-Mitgliedern, darunter Thaçi, begangen wurden. Die Europäische Union richtete eine Sonderermittlungsgruppe ein, um diese Vorwürfe zu untersuchen. Sie kam 2014 zu dem Schluss, dass die Anklagen gerechtfertigt seien, und die EU richtete im Anschluss die Sonderkammern ein. Die US-amerikanische Regierung unterstützte diesen Schritt; bislang waren die Hauptankläger US-amerikanische Staatsangehörige.
Nachdem die Kosovo-Versammlung ein neues Gesetz erlassen und die Verfassung geändert hat, ist das Sondertribunal formaler Teil des kosovarischen Justizsystems. Der Sitz des Tribunals ist jedoch in den Niederlanden, da es in anderen Prozessen gegen UCK-Mitglieder zu Drohungen und Gewalt gegen Zeug*innen gekommen ist, darunter mindestens einem Todesfall. Das Tribunal setzt sich aus einem internationalen Team sowie Richter*innen, Staatsanwält*innen und einer Registrarin zusammen, da es Bedenken gibt, dass Informationen nach außen dringen und Zeug*innen eingeschüchtert werden könnten.
In dem Prozess geht es um vier Fälle von Kriegsverbrechen und sechs Fälle von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, darunter Mord, Verschwindenlassen, Verfolgung und Folter. Die Staatsanwaltschaft wirft Thaçi sowie Kadri Veseli, dem ehemaligen Leiter des Nachrichtendienstes der UCK, Rexhep Selimi, dem Leiter der operativen Abteilung der UCK, und Jakup Krasniqi, dem Pressesprecher der UCK, vor, Teil einer gemeinsamen kriminellen Unternehmung gewesen zu sein. Diese hätte zum Ziel gehabt, durch „rechtswidrige Einschüchterung, Misshandlung, Gewaltanwendung und Beseitigung von mutmaßlichen Oppositionellen“ den Kosovo zu kontrollieren. Zu den Opfern dieser mutmaßlichen Verbrechen gehören Serb*innen, Rom*nja und ethnische Albaner*innen, die als Kollaborateur*innen der serbischen Streitkräfte oder als politische Gegner*innen der UCK galten.
Die vier Angeklagten wurden am 4. und 5. November 2020 verhaftet und nach Den Haag überstellt. In dem Prozess vor den Kosovo-Spezialkammern haben sie Anspruch auf verschiedene Garantien für ein faires Verfahren, darunter die Unschuldsvermutung, das Recht auf Rechtsbeistand, das Recht, Beweise vorzulegen, das Recht, Zeugen zu befragen, und das Recht, Rechtsmittel gegen das Urteil einzulegen.
Angesichts der Einschüchterung von Zeug*innen in anderen Prozessen gegen ehemalige UCK-Mitglieder, ist der Zeugenschutz in diesem Prozess besonders wichtig, so Human Rights Watch. Das Gericht sollte außerdem dafür sorgen, dass die Öffentlichkeit im Kosovo und in Serbien regelmäßig über den Verlauf des Prozesses sowie über das Prinzip der individuellen strafrechtlichen Verantwortung informiert wird.
Neben Thaçi und den drei anderen Angeklagten laufen Prozesse gegen zwei ehemalige UCK-Mitglieder, Salih Mustafa und Pjetër Shala, sowie gegen zwei Mitglieder der Veteranenvereinigung der UCK. Sie wurden angeklagt und verurteilt, weil sie die Namen von Zeug*innen in anderen Fällen weitergegeben hatten. Mustafa wurde im Dezember 2022 wegen Kriegsverbrechen gegen gefangengenommene Kosovo-Albaner*innen zu 26 Jahren Gefängnis verurteilt; gegen das Urteil wurde Berufung eingelegt. Der Prozess gegen Shala begann im Februar.
Nach Angaben der Vereinten Nationen und des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz werden nach wie vor über 1.600 Opfer des Kosovo-Konflikts vermisst. Mehr als 400 von ihnen verschwanden nach dem Ende des Krieges im Juni 1999 und dem Einzug der NATO-Truppen in den Kosovo. Darunter befinden sich etwa 100 ethnische Albaner*innen, die übrigen sind hauptsächlich Roma und Serb*innen. Zu dieser Zeit gab es im Land umfangreiche Missionen der Vereinten Nationen und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, wobei der Kosovo mehrere Jahre unter Verwaltung der Vereinten Nationen stand.
Am 18. März 2023 vereinbarten der Kosovo und Serbien die Umsetzung eines von der EU unterstützten Abkommens über die Normalisierung der Beziehungen. Die Länder sagten außerdem zu, die Fälle von verschwundenen Personen gemeinsam aufzuklären.
Viele der Verbrechen, mit denen sich die Kosovo-Sonderkammern jetzt beschäftigen, wurden nicht vor den Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (IStGHJ) gebracht, da sie erst nach dem Ende der Kampfhandlungen am 12. Juni 1999 begangen wurden. Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) existierte wiederum zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Der IStGHJ hat Slobodan Milosevic und sechs seiner hochrangigen Mitarbeiter wegen schwerer Verbrechen im Kosovo angeklagt. Fünf von ihnen wurden verurteilt und einer freigesprochen. Milosevic starb während des Prozesses, bevor ein Urteil gesprochen werden konnte.
Vor dem IStGHJ mussten sich auch sechs ethnische Albaner wegen Kriegsverbrechen im Kosovo verantworten. Zwei von ihnen wurden verurteilt und vier freigesprochen.
Die drei Serben, die vom IStGHJ wegen Kriegsverbrechen im Kosovo verurteilt und nach Verbüßung von zwei Dritteln ihrer Strafe freigelassen wurden, sind von der serbischen Regierung als Helden gefeiert worden. Ein weiterer Verurteilter, der ehemalige serbische Polizeichef Vlastimir Djordjevic, verbüßt eine 18-jährige Haftstrafe in Deutschland, nachdem er unter anderem wegen der Leitung des „geheimen Umgangs mit sowie des Transports und der Umbettung von Leichen“ verurteilt worden war. Seine Anträge auf vorzeitige Entlassung sind abgelehnt worden.
In Serbien hat ein Gericht, das sich mit Kriegsverbrechen beschäftigt, 60 Personen wegen Verbrechen im Kosovo angeklagt und 23 von ihnen verurteilt. Die serbische Regierung hat jedoch keinen politischen Willen gezeigt, hochkarätige Funktionäre zu belangen, und einige dieser Prozesse haben sich über Jahre hingezogen.
„Der Thaçi-Prozess kann dazu beitragen, nach jahrelanger Unterdrückung im Kosovo den Weg in Richtung Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit zu bahnen“, so Williamson. „Jetzt liegt der Fokus klar auf der serbischen Regierung, die nun gefragt ist, ihre eigenen Funktionäre zur Rechenschaft zu ziehen, nachdem sie jahrelang diejenigen geschützt hat, die für schwere Verbrechen verantwortlich waren.“