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Sicherheitskräfte patrouillieren in der Nähe der Id-Kah-Moschee in Kashgar in der westchinesischen Region Xinjiang. (c) 2017 Ng Han Guan/AP Photo

Können internationale Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht Bestand haben, wenn sie von den Großmächten ignoriert werden? Das ist die Frage, die sich stellt angesichts weit verbreiteter standrechtlicher Hinrichtungen und wahlloser Bombardierungen von Zivilist*innen in der Ukraine durch russische Streitkräfte.

Zumindest im Fall der Ukraine scheinen viele Regierungen entschlossen zu sein, die internationalen Menschenrechtsstandards verteidigen zu wollen. Bislang haben dreiundvierzig Länder eine Untersuchung des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) gegen die mutmaßlichen Verantwortlichen für diese Kriegsverbrechen und möglicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit beantragt. Der Ankläger des IStGH hat die Untersuchung bereits eingeleitet. Die UN-Generalversammlung und der Menschenrechtsrat haben die Gräueltaten verurteilt, und der Rat hat parallel dazu eine Untersuchung eingeleitet. Eine solche globale, entschlossene Reaktion ist nicht selbstverständlich, wenn es um Menschenrechtsverletzungen geht, die von den mächtigsten Nationen begangen werden.

Die Antwort auf die russischen Gräueltaten in der Ukraine steht in krassem Gegensatz zu der glanzlosen Reaktion auf die Unterdrückungspolitik der chinesischen Regierung in Xinjiang. Dort hat Peking mithilfe des umfassendsten Überwachungssystems der Welt eine Million Uigur*innen und andere turkstämmige Muslime inhaftiert, um sie zu zwingen, ihre Religion, Sprache und Kultur aufzugeben. Human Rights Watch und andere haben festgestellt, dass es sich bei diesen Masseninhaftierungen und anderen systematischen Menschenrechtsverletzungen um Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelt. Und das ist nur ein Aspekt der schlimmsten Repressionen in China seit dem Massaker an den Demonstrant*innen auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989.

Diese Politik der Unterdrückung hat auf internationaler Ebene Reaktionen hervorgerufen. Gruppen von Regierungen haben wiederholt die Übergriffe der chinesischen Regierung in Xinjiang verurteilt - zuletzt in einer gemeinsamen Erklärung von 47 Regierungen aus allen Teilen der Welt. Auch Deutschland hat diese Erklärung unterzeichnet. Vertreter*innen von 50 UN-Sonderverfahren - also unabhängige Expert*innen und nicht kollektive UN-Gremien - haben diese Menschenrechtsverletzungen ebenfalls verurteilt. Die wichtigsten UN-Institutionen haben sich jedoch bestenfalls in Zurückhaltung geübt. Weder der UN-Menschenrechtsrat noch die UN-Generalversammlung haben eine Debatte geführt, eine Resolution verabschiedet oder eine Untersuchung zu Xinjiang eingeleitet. Die vorsichtig formulierten Besorgniserklärungen des UN-Generalsekretärs Antonio Guterres zu Xinjiang stehen in keinem Verhältnis zur Schwere der Menschenrechtsverletzungen.

Die Hohe Kommissarin der Vereinten Nationen für Menschenrechte, Michelle Bachelet, hält einen lange versprochenen Bericht über Xinjiang, den ihre Mitarbeiter*innen erstellt haben, weiterhin zurück. Ihre Sprecherin sagte im Dezember 2021, der Bericht würde innerhalb weniger Wochen veröffentlicht werden. Stattdessen erklärte Bachelet sich bereit, China einen Besuch abzustatten, bei dem es sich nach Aussage der chinesischen Regierung um einen „freundschaftlichen Besuch“ und einen Dialog handeln sollte, und nicht um die uneingeschränkte Untersuchung in Xinjiang, die Bachelet zu Recht gefordert hatte.

Die Reise war ein Geschenk an Peking. Bachelet führte mehrere vertrauliche Gespräche mit chinesischen Beamten, darunter Xi Jinping, übte aber keinen öffentlichen Druck aus, der die chinesische Regierung zwingen könnte, ihre Unterdrückungspolitik zu lockern. Sie verurteilte Pekings Politik nicht nachdrücklich, lobte andere Aspekte der chinesischen Menschenrechtsbilanz und übernahm Pekings falsches Narrativ der „Terrorismusbekämpfung“. Ohne weitere Nachfragen akzeptierte Bachelet Pekings Behauptung, die Gefangenenlager seien nun geschlossen, obwohl es Beweise gibt, die diese Behauptung widerlegen. Sie verkündete einen neuen Dialog mit der chinesischen Regierung, allerdings ist Peking bekannt dafür, solche Gespräche im stillen Kämmerlein zu führen, um öffentliche Kritik zu vermeiden.

Die US-Regierung hat alle Importe aus Xinjiang verboten, da sie davon ausgeht, dass die Produkte in uigurischer Zwangsarbeit hergestellt werden. Ausnahmen gibt es nur, wenn ein Importeur das Gegenteil beweisen kann, was angesichts der undurchsichtigen Lieferketten in Xinjiang praktisch unmöglich ist. Die Europäische Union muss diesem Beispiel jedoch noch folgen. Die Vereinigten Staaten, Großbritannien, Kanada und die Europäische Union haben gezielte Sanktionen gegen die Unterdrückungspolitik in Xinjiang verhängt. Doch die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union mit der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel als EU-Ratsvorsitzende versuchten, ein Investitionsabkommen mit China durchzusetzen, ohne ein Ende der Zwangsarbeit zu fordern. Erst das Europäische Parlament hat diese Idee dann verworfen.

China ist jedoch nicht das einzige Problem. Auch die US-Regierung hält sich nicht immer an internationale Menschenrechtsstandards. Als sich der IStGH anschickte, die Folter durch US-Kräfte in Afghanistan zu untersuchen, zeigte sich die Trump-Regierung empört und verhängte Sanktionen gegen den damaligen Ankläger. Der vermeintliche Grund dafür war, dass Afghanistan den IStGH-Vertrag ratifiziert hatte, die Vereinigten Staaten jedoch nicht, obwohl der Vertrag die Gerichtsbarkeit über Verbrechen wie Folter verleiht, die von einer Person im Hoheitsgebiet eines Mitgliedslandes begangen werden. US-Präsident Joe Biden hat diese Sanktionen inzwischen aufgehoben. Im Fall der Ukraine, die dem IStGH die Zuständigkeit für Verbrechen auf ihrem Territorium eingeräumt hat, hat Biden befürwortet, dass die US-Regierung mit dem IStGH bei der Untersuchung möglicher Kriegsverbrechen durch russische Streitkräfte kooperiert, obwohl Russland dem IStGH ebenfalls nicht beigetreten ist.

Es bleibt abzuwarten, wie die US-Regierung auf mögliche künftige IStGH-Ermittlungen gegen US-Personal in einem Land reagieren wird, das in die territoriale Zuständigkeit des IStGH fällt. Sowohl demokratische als auch republikanische Kongressmitglieder befürworten aktuell die IStGH-Untersuchung in der Ukraine und entlarven damit die Scheinheiligkeit der bisherigen Position der USA. Ein Abrücken von dieser Position wurde zweifellos durch die Ankündigung des IStGH-Anklägers begünstigt, dass er im Zuge seiner Afghanistan-Untersuchung beabsichtigt, die Ermittlungen zu mutmaßlichen US-Verbrechen vorerst zurückzustellen.

In naher Zukunft wird die Position der USA durch die IStGH-Untersuchung israelischer Kriegsverbrechen wie der illegalen Siedlungen in Palästina auf die Probe gestellt werden, da Israel dem Gerichtshof nie beigetreten ist, Palästina hingegen schon.

Die gute Nachricht ist jedoch, dass auch ohne die Großmächte eine Vielzahl von Regierungen wiederholt internationale Rechtsstandards unterstützt und gefördert hat. Der IStGH ist das Ergebnis einer großen Koalition, auch wenn die Vereinigten Staaten, Russland und China dieser nie beigetreten sind. Diese Großmächte waren auch nicht anwesend, als der Rest der Welt ein Verbot von Antipersonenminen und Streumunition aussprach. Dennoch genießt der IStGH heute internationale Glaubwürdigkeit, und die Normen zum Verbot von Landminen und Streumunition, beides wahllose Waffen, die die Zivilbevölkerung gefährden, sind nach wie vor stark.

Kurz gesagt, es mag in der Natur von Großmächten liegen, ihre Macht ohne völkerrechtliche Einschränkungen ausüben zu wollen. Erfahren die völkerrechtlichen Standards und die Institutionen zu ihrer Durchsetzung jedoch eine starke globale Unterstützung, kann dies genug Druck erzeugen, sodass auch Großmächte diese respektieren.

Dennoch sollten wir nicht selbstgefällig werden ob der starken internationalen Reaktion auf die russischen Übergriffe in der Ukraine. Russland ist eine bedeutende Militärmacht - wenn auch offenbar eine weniger beeindruckende, als die meisten Menschen vor dem Einmarsch in der Ukraine dachten. Aber der Kreml hat relativ wenig wirtschaftlichen Einfluss. Bei China sieht das anders aus.

Die chinesische Regierung ist eine Wirtschaftsmacht, die nicht davor zurückschreckt, ihre Macht zu nutzen, um sich einer Prüfung ihres Verhaltens zu widersetzen und das internationale Menschenrechtssystem zu untergraben. Als die australische Regierung eine unabhängige Untersuchung der Ursprünge der Covid-19-Pandemie vorschlug, reagierte Peking mit Strafzöllen. Zuvor hatte es Vergeltung gegen Norwegen geübt, als das in Oslo ansässige Nobelkomitee den Friedenspreis an den inhaftierten chinesischen Kämpfer für Demokratie Liu Xiaobo verlieh, obwohl die norwegische Regierung mit den Entscheidungen des unabhängigen Nobelkomitees nichts zu tun hat. Und die chinesische Regierung drohte damit, der Ukraine Covid-19-Impfstoffe vorzuenthalten, sollte sie ihren Namen aus einer gemeinsamen Erklärung nicht entfernen, in der Pekings Unterdrückung in Xinjiang kritisiert wird - eine Erpressungstaktik, die die chinesische Delegation nach Angaben von UN-Diplomat*innen gegenüber Human Rights Watch eingesetzt hat, um auch andere Länder zum Schweigen zu bringen.

In ähnlicher Weise hat der chinesische Präsident Xi Jinping die Milliarden-Dollar-Initiative „Belt and Road“, ein angebliches Infrastrukturentwicklungsprogramm, genutzt, um sich bei den Vereinten Nationen Unterstützung für seine Anti-Menschenrechts-Positionen zu erkaufen. Der Mangel an Transparenz bei Krediten für diese Initiative sowie die Finanzierung durch andere chinesische Institutionen macht sie zu idealen Instrumenten für Peking, um sich die gewünschten Ergebnisse zu erkaufen.

Die chinesische Regierung versucht nicht nur, Kritiker*innen ihrer Unterdrückungspolitik zum Schweigen zu bringen und die Durchsetzung von Menschenrechtsstandards auf breiter Ebene zu untergraben, sie versucht auch, die Standards selbst zu schwächen. Sie ist der Ansicht, dass Menschenrechte niemals mittels Druck durchgesetzt werden sollten, sondern nur durch höfliche Gespräche, die zu „win-win“-Ergebnissen (für die Täter, nicht für die Opfer) führen.

Wenn es nach Peking ginge, würden Menschenrechte auf eine Messung des Wachstums des Bruttoinlandsprodukts reduziert. Wirtschaftliche und soziale Rechte, bei denen zu prüfen ist, wie die am stärksten benachteiligten Gruppen der Gesellschaft behandelt werden, sowie bürgerliche und politische Rechte, die sicherstellen, dass eine Regierung gegenüber ihrem Volk rechenschaftspflichtig ist, würden beiseite geschoben.

Die russischen Gräueltaten in der Ukraine sind entsetzlich, aber angesichts der Reaktion der Welt darauf stellen sie keine Bedrohung für globale Standards dar. Sie könnten sogar dazu führen, dass die Unterstützung für diese Standards gestärkt wird. Die wirkliche Bedrohung für die Menschenrechte geht vielmehr von Peking aus, das entschlossen zu sein scheint, diese Standards gänzlich zu untergraben. Bisher war die Reaktion der Welt unzureichend. Natürlich hat es wirtschaftliche Folgen, wenn man der chinesischen Regierung die Stirn bietet, aber die sind es wert, getragen zu werden – denn das Fundament des internationalen Menschenrechtssystems, das in den letzten 75 Jahren aufgebaut wurde, steht auf dem Spiel.

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